Die dysfunktionale RepublikMarode Brücken, Flughafenchaos – Ein Land am Limit
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Deutschland – zum Verzweifeln? Auf einmal scheinen einst selbstverständliche Dinge nicht mehr so recht zu funktionieren: Flughäfen, Bahnreisen, Gerichtsprozesse, Autobahnbrücken.
Auch bei Digitalisierung und Cybersicherheit hapert es. Und bei den Bürgerinnen und Bürger wächst der Frust.
Schlangen vor dem Bürgeramt, Staus wegen gesperrter Autobahnbrücken, verspätete Züge – das Leben fühlt sich derzeit für viele wie ein einziges großes Warten an. Irgendwann entfährt es dann garantiert irgendeinem oder irgendeiner Entnervten in der Schlange: „In Deutschland funktioniert nichts mehr!“ Und Schuld hat, natürlich, „der Staat“. Stimmt das? Kommt die Infrastruktur an ihre Grenzen? Eine Bestandsaufnahme an fünf Baustellen, die die Republik beschäftigen.
Luftverkehr
Seit Tagen sitzen Alexander und Keri Bibighaus aus den USA auf gepackten Koffern im Flughafen BER. „Am Mittwoch wären wir von Berlin über Frankfurt nach Miami geflogen – doch der Streik kam dazwischen.“ Wie ihnen geht es vielen Reisenden. Es ruckelt in der Luftfahrtbranche, und zwar gewaltig.Laut dem Bundesverband der Deutschen Luftverkehrswirtschaft (BDL) leidet die gesamte Branche, insbesondere in Europa, unter Engpässen und Personalmangel.
Das betrifft Flughafenbetriebe wie Fluggesellschaften, Flugsicherung wie Pass kontrolle und Sicherheitscheck. „Besonders relevant für die Wartezeiten am Flughafen sind die personellen Engpässe bei den Bodenverkehrsdiensten“, teilt der Verband auf Anfrage des „RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND)“ mit. Das heißt: beim Bodenpersonal auf dem Rollfeld.
Der Flughafenverband ADV bezifferte die Personalnot mit etwa 5500 Beschäftigten, die an den verschiedenen Standorten fehlen. Die Gewerkschaft Verdi kritisiert, dass in der Corona-Krise viel zu viele Stellen abgebaut wurden. Mit dem Abbau sei deutlich übertrieben worden, sagte die stellvertretende Vorsitzende Christine Behle kürzlich dem RND.
Um Abhilfe zu schaffen, lenkte die Bundesregierung ein und will den kurzfristigen Einsatz ausländischer Hilfskräfte erleichtern. Allerdings müssen sie zunächst eine Zuverlässigkeitsprüfung durchlaufen, die etwa sechs Wochen dauern kann. Aber die Zeit drängt: Immer mehr Bundesländer gehen in die Sommerferien, in Nordrhein-Westfalen sind die sogar bald schon vorbei. Sollten die ersten ausländischen Helfer eintreffen, könnte es für viele Urlauberinnen und Urlauber schon zu spät sein.
Für Familie Bibighaus aus Miami heißt es jedenfalls warten: Weil ihre zwei großen Hunde nicht in der Kabine sein dürfen, sondern im Gepäckraum mitfliegen müssen, sei die Umbuchung sehr schwierig. Den Abflug aus Berlin hat sie jetzt für den 10. August in Aussicht.
Brückenbau
Rund 500 Kilometer weiter stehen Autos und Lkw Schlange: Seit nunmehr acht Monaten staut sich der Verkehr im nordrhein-westfälischen Lüdenscheid. Bis Dezember führte die Talbrücke Rahmede den Fernverkehr über die A 45 nördlich an Lüdenscheid vorbei. Jetzt ist das 75 Meter hohe Bauwerk für den gesamten Verkehr gesperrt. Die Brücke ist marode, der Bund will eine neue bauen.
Mario Bredow von der Stadt Lüdenscheid: „Der aktuelle Sachstand ist, dass das so weitergeht, bis die neue Brücke steht.“ Der Jurist leitet das eigens von Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) veranlasste „Brückenbüro“, das die Probleme der Lüdenscheider regeln soll. Die Talbrücke Rahmede ist das Paradebeispiel für einen „Sanierungsstau“, mit dem der Verkehrsminister zu kämpfen hat. Dieser betrifft laut Wissing deutschlandweit 4000 Brücken in Bundeshand.
Das stellte die Autobahn GmbH fest, ein bundeseigenes Unternehmen, das den Erhalt der Autobahnen verantwortet. Vorher hatte die Instandhaltung in Länderhand gelegen – und die Länder hatten entweder nicht genug Geld für die Sanierung der Brücken, oder sie haben die Modernisierung schleifen lassen. Wissing selbst nannte die Bilanz „nicht rosig“ und schob einen Neunpunkteplan an. So sollen jährlich 400 Brücken modernisiert werden.
Der Opposition reicht das jedoch nicht aus. Der CDU-Obmann im Verkehrsausschuss des Bundestags, Christoph Ploß, will Bauprojekte weiter beschleunigen. Ihm schwebt eine Stichtagsregel vor. Nach einer festgesetzten Frist wären keine Klagen gegen einen Bau mehr möglich. Nur einer von Ploß“ Vorschlägen. „Man sollte auch einige Umweltrichtlinien auf europäischer Ebene überarbeiten, die häufig dazu führen, dass sich wichtige Infrastrukturvorhaben verzögern“, meint er.
Bahnchaos
Frust macht sich derweil auch auf der Schiene breit. „Bahnbashing“ – also das Lästern über die Deutsche Bahn – ist längst zum Trend geworden. Nicht ohne Grund, denn aktuell durchkreuzen Verspätungen und Zugausfälle immer öfter die Reisepläne vieler Fahrgäste. Wie kommt das? Das aktuell größte Problem ist die marode Infrastruktur und daraus folgend die schiere Zahl an Baustellen – auf einem Netz, das immer mehr Züge befördern muss, aber nicht mit seinen Aufgaben mitgewachsen ist. Jede noch so kleine Störung führt zu Verspätungen.
Wissing will nun eine Generalsanierung anschieben mit dem Ziel, ein Hochleistungsnetz zu schaffen. Konkret bedeutet das: In hoch belasteten Bahnkorridoren sollen ab 2024 Bauvorhaben gebündelt abgearbeitet werden. 2030 soll das Streckennetz deutlich robuster sein.
Auf dem Weg dahin wird es aber zu weiterem Chaos kommen. So rechnet der SPD-Verkehrsexperte im Bundestag, Martin Kröber, mit einem deutlich längeren Modernisierungszeitraum. „Nach meiner Einschätzung wird dieser Prozess jetzt mindestens 20 Jahre dauern“, sagt der Sozialdemokrat. „Allerdings habe ich große Zweifel, dass es genügend Bauarbeiterinnen und Bauarbeiter gibt, um das tatsächlich in diesem Zeitfenster umzusetzen.“ Die Fahrgäste müssen Geduld beweisen: Im Fernverkehr werde es zu längeren Fahrzeiten kommen und im Nahverkehr zu Schienenersatzverkehr. Keine guten Aussichten für die nötige Mobilitätswende.
Cybersicherheit
Und auch an anderer Stelle, im digitalen Raum, gleicht Deutschland noch immer einer Dauerbaustelle. Vor neun Jahren handelte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel mit ihrem Satz vom Internet als Neuland reichlich Spott ein. Vieles hat sich seitdem verbessert in Digitaldeutschland. Doch die entscheidende IT-Sicherheit hat an unzähligen Stellen immer noch Löcher.
Weltweit sind Hackerangriffe in den vergangenen Jahren zu einer zunehmenden Bedrohung für Verwaltungen, Unternehmen und Privatpersonen geworden. Kriminelle Gruppen machen etwa mit Angriffen Millionengeschäfte. Die Gefahr ist längst im öffentlichen Bewusstsein. Doch Experten stellen Deutschland regelmäßig ein schlechtes Zeugnis aus, was den Schutz vor Cyberangriffen angeht. Viele Unternehmen – auch in wichtigen Sektoren der kritischen Infrastruktur – versäumen es bis heute, mehr als das Nötigste für ihre digitale Sicherheit zu tun.
Und auch in öffentlichen Verwaltungen besteht dringender Nachholbedarf. Welche Auswirkungen ein unzureichender Schutz vor Cyberattacken dort haben kann, zeigte der Angriff einer kriminellen Gruppe auf den Landkreis Anhalt-Bitterfeld im Juli 2021. Die Hacker verschlüsselten große Teile der Computersysteme, der Landkreis war nahezu handlungsunfähig. Ein halbes Jahr währte der Katastrophenmodus, noch ein Jahr nach dem Angriff waren die Folgen zu spüren.
Der Landkreis hatte in den Jahren zuvor zu wenig in die Sicherheit seiner IT investiert – so wie zahlreiche andere mit chronisch leeren Kassen. Mit ihrer vor wenigen Wochen vorgestellten Cybersicherheitsagenda will Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) die IT-Sicherheit verbessern.
Der IT-Sicherheitsexperte Manuel Atug von der AG Nachhaltige Digitalisierung kritisiert jedoch einen verengten Blick der Politik. „Die Cybersicherheitsagenda der Bundesinnenministerin besteht leider vor allem aus mehr offensiven Befugnissen für Sicherheitsbehörden und Geheimdiensten“, sagt Atug. Stattdessen müsse die Politik Cybersicherheit defensiv verstehen. „Sie kann nur dann gestärkt werden, wenn die Abwehrfähigkeit und Cyberresilienz von Verwaltungen und Unternehmen erhöht wird.“
Justiz
Längst hält der Fachkräftemangel auch in den Gerichten Einzug. Einer Recherche der „Deutschen Richterzeitung“ zufolge kamen 2021 mindestens 66 Tatverdächtige wegen rechtsstaatlich unvertretbar langer Verfahren aus der U-Haft frei. Ursache sind offenbar fehlende Richter und Staatsanwälte, um die Verfahren rechtzeitig zu bearbeiten. Tatverdächtige dürfen maximal sechs Monate in U-Haft bleiben.Das galt auch für einen Verdächtigen in Nordrhein-Westfalen.
Die Justiz beschuldigte ihn des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern. In einem Bericht des Nordrhein-Westfälischen Rechtsausschusses heißt es dazu: „Die Aufhebung des Haftbefehls erfolgte den Beschlussgründen zufolge überwiegend auf Grund der Tatsache, dass das Landgericht Dortmund das Verfahren gegen den seit 21. September 2021 inhaftierten Angeklagten nicht in ausreichendem Maße gefördert hat.“
Der Deutsche Richterbund sieht das etwas anders. „Die aktuellen Fälle von U-Haft-Entlassungen werfen erneut ein Schlaglicht auf die hohe Arbeitsbelastung vieler Gerichte und Staatsanwaltschaften“, sagte Bundesgeschäftsführer Sven Rebehn kürzlich in einem Interview.
Ob in der Justiz oder beim Verkehr – Bund, Länder und Kommunen stehen vor gewaltigen Aufgaben. Die müssen gemeistert werden, will Deutschland konkurrenzfähig bleiben. Doch das wird eher ein Marathon als ein Sprint. Für die Bürgerinnen und Bürger bedeutet das: Warten.