Der Clip hat etwas Verstörendes. Da steht ein deutscher Regierungschef vor einer Tankstelle - strubbelige Haare, wacklige Kameraführung, schlechter Ton - und spricht gegen den Verkehrslärm an. „Das ist wirklich irre, Diesel, 2,12 Euro, da muss man handeln!“, sagt der Mann. Der Staat bereichere sich an den gestiegenen Energiekosten, „nicht nur Geringverdiener“ seien betroffen, sondern auch die „vielen fleißigen Leute, die tanken müssen.“
Der Mann, der das verbreitet, ist Tobias Hans, 44, CDU, amtierender Ministerpräsident des Saarlandes. Und natürlich muss er sich für seine missglückten Formulierungen eine Menge Spott und Häme im Netz anhören. Das Video ließe sich leicht als Patzer eines um seine Wiederwahl fürchtenden Politikers abtun, was es ohne jeden Zweifel ist. Aber es gibt da noch eine andere Ebene, dieses Gefühl, das neben der Fremdscham übermittelt wird: Angst. Um die Energieversorgung in Deutschland. Seit den Ölpreis-Schocks in den 1970er-Jahren hat es das nicht mehr gegeben.
„Das ist noch nie dagewesen“
Ein Rohstoffanalyst, der seit vielen Jahren im Geschäft ist, räumt die Panik offen ein. „Das ist noch nie dagewesen“, sagt er dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) am Dienstagvormittag. „Die Märkte sind nicht mehr analysierbar. Was ich Ihnen heute sage, kann schon morgen nicht mehr gelten.“
Das also hat Russlands Präsident Wladimir Putin inzwischen geschafft: Sein brutaler Überfall auf die Ukraine versetzt nicht nur die Menschen in Osteuropa in Angst und Schrecken, sondern auch die Politiker, Marktteilnehme, Autofahrer, Strom-, Heizöl- und Gaskunden im westlichen Teil des Kontinents. Und damit auch die gesamte Wirtschaft. Energie ist zur Waffe geworden, und sowohl Putin als auch der Westen haben sie gezückt. Mitunter hat es den Anschein, als sei die Frage nur noch, wer zuerst abdrückt.
Massiv steigende Energiepreise
Russland droht mit dem Ende der Gaslieferung über die bestehende Ostsee-Pipeline Nord Stream 1. Man habe „das volle Recht“, ein Embargo zu erlassen, auch wenn man den Schritt noch nicht gehe, sagte der russische Vize-Regierungschef Alexander Nowak am Montagabend. Im Westen wiederum wird immer lauter über ein Ende der Abnahme von Öl, Kohle und Gas aus russischer Förderung diskutiert. Die US-Regierung hat den Schritt bereits vollzogen: Am Dienstag verkündete sie, kein Öl aus Russland mehr importieren zu wollen. Doch die USA sind in der Frage russischer Energieexporte nicht der entscheidende Akteur. Es geht in erster Linie um Europa.
Die EU-Staaten müssten sich auf massiv steigende Energiepreise einstellen, galoppierende Inflation, den Einbruch der Wirtschaftsleistung, und womöglich auch auf Versorgungsengpässe beim Gas, wenn es zu einem vollständigen Lieferstopp kommt. Russland droht nicht weniger als der Staatsbankrott. Der Verkauf von Gas und Öl sei die Lebensader des Putin-Regimes, sagt CDU-Außenpolitiker Nobert Röttgen. Man müsse nun „alle wirtschaftlichen Register ziehen“, um das System „so hart wie möglich“ zu treffen und „finanziell auszutrocknen“, findet der CDU-Mann.
Scholz gegen Eskalation des Energiekriegs
Röttgen ist Oppositionspolitiker, er kann solche Forderungen stellen, ohne die Konsequenzen politisch handeln zu müssen. Bei Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) ist das anders, und deshalb stemmt sich der Sozialdemokrat mit aller Macht gegen eine weitere Eskalation des Energiekriegs. „Energie aus Russland ist von essenzieller Bedeutung für das tägliche Leben der Bürgerinnen und Bürger“, ließ Scholz am Montag mitteilen. Deshalb habe man die Energielieferungen bei den Sanktionen „bewusst“ ausgenommen.Scholz ist mit dieser Sichtweise nicht alleine. Bei einer Besprechung der Energie- und Wirtschaftsminister von Bund und Ländern am Dienstagvormittag soll es laut RND-Informationen vor allem in einem Punkt große Einigkeit gegeben haben: Bitte kein Embargo für russisches Öl oder Gas.
Dass die USA in dieser Frage inzwischen weiter sind, nehmen Regierungsvertreter in Deutschland mit einem Schulterzucken zur Kenntnis. Mit einem Importanteil aus Russland von etwa zehn Prozent seien die Amerikaner weit weniger abhängig als Deutschland, das 35 Prozent seines Öls, 50 Prozent seiner Kohle und 55 Prozent seines Gases aus Russland importiert. Dass die USA die russischen Liefermengen nun ausgerechnet mit Importen aus Venezuela ersetzen wollen, dessen Machthaber Nicolás Maduro treu an der Seite Moskaus steht, lässt die Zweifel in Berlin eher noch wachsen.
Preise fahren Achterbahn
Auf die Einschätzung von Ökonomen der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, wonach ein kurzfristiger Lieferstopp von russischem Gas für die deutsche Volkswirtschaft handhabbar wäre, will man sich in der Bundesregierung lieber nicht verlassen. Die Folgen eines solchen Schrittes seien so gewaltig, dass man sie heute gar nicht seriös berechnen können, heißt es in Regierungskreisen. Eine lang anhaltende und tiefe Rezession sei bei einem kompletten Lieferstopp russischer Energie unausweichlich.
An den Märkten lassen sich die Folgen schon jetzt betrachten. Die europäischen Börsen für Öl- und Gashandel funktionieren nicht mehr, die Preise fahren Achterbahn. Am Dienstagmorgen gegen 8 Uhr kostete europäisches Erdgas (Dutch TTF Gas) zur Lieferung im April an der Londoner Rohstoffbörse knapp 300 Euro pro Megawattstunde. Die Notierung sank bis 12 Uhr auf 187 Euro – verlor also mehr als ein Drittel innerhalb von vier Stunden. Derartige Schwankungen hat es laut Marktteilnehmern nie zuvor gegeben. Nicht mal im Ansatz.
Gazprom-Tochter Wingas ausgestiegen
Die Folge ist, das praktisch niemand mehr Transaktionen abschließt. Die Unsicherheit ist viel zu groß. „In der gegenwärtigen Situation ist es weder aus Sicht der Käufer noch aus Sicht der Verkäufer verantwortbar, sich auf langfristige Terminkontrakte einzulassen“, sagt der Energieanalyst. Der Markt mit längerfristigen Lieferverträgen sei mehr oder weniger zusammengebrochen.
Die deutsche Gazprom-Tochter Wingas ist gerade als einer der letzten Akteure aus dem Geschäft ausgestiegen. Wingas hatte bislang vor allem Stadtwerke und große Industrieunternehmen beliefert. Wenn diese nun Ersatz für auslaufende Lieferverträge suchen, können sie quasi nur noch kurzfristig einkaufen – und zwar zu Preisen, die bis vor kurzem noch als astronomisch gegolten hätten.
Scholz konnte Märkte nicht beruhigen
Die Notierung für TTF Gas zur Lieferung im Dezember 2022 hat sich seit Jahresbeginn fast verdreifacht. Die Gefahr für den Käufer besteht, dass der flüchtige Brennstoff sich in den nächsten Monaten doch wieder für erheblich weniger zu haben sein wird. Er hätte dann viel zu teuer eingekauft, was heftige Konsequenzen für das Unternehmen haben könnte. Der Verkäufer wiederum hat das umgekehrte Risiko eines viel zu billigen Verkaufens – ihm entgehen Einnahmen. Beides ist derzeit vorstellbar. Die Modelle der Rohstoffexperten, die Entwicklungen abschätzen sollen, funktionieren nicht mehr. Mit seiner Ankündigung, dass die Bundesregierung weiter auf russische Energieimporte setzt, hatte Kanzler Olaf Scholz die Märkte beruhigen wollen. So richtig funktioniert hat das noch nicht.
Das könnte Sie auch interessieren:
Und als wenn das alles nicht genug wäre, drohen seit einigen Tagen zusätzliche Risiken. Russische Exporteure müssen inzwischen 80 Prozent ihrer Deviseneinnahmen an der Moskauer Börse verkaufen, zu einem von der Notenbank vorgegebenen Rubelkurs - das soll die heimische Wirtschaft stabilisieren, kann die Unternehmen aber destabilisieren. Zudem unterzeichnete Präsident Wladimir Putin am Wochenende ein Dekret, demzufolge Geschäfte mit Unternehmen in „feindlichen Ländern“ in jedem Fall in Rubel und nicht in der jeweiligen Landeswährung abgerechnet werden. Auch das könnte massive Folgen für hiesige Energiebranche haben, Experten prüfen derzeit noch, wie genau das Dekret auszulegen ist.
Für Gaskunden in Deutschland ist die Entwicklung schon jetzt dramatisch, wie ein Blick auf die Verbraucherprotale zeigt: Private Haushalte, die heute einen Gasanbieter suchen, müssen mindestens das Vierfache im Vergleich zum Dezember zahlen. Und es könnte noch viel, viel schlimmer kommen, wenn der Krieg in der Ukraine weiter eskaliert. Die aktuellen Preise an den Energiebörsen seien für Endverbraucher nicht mehr bezahlbar, sagt der Rohstoffanalyst. „Auf dem gegenwärtigen Preisniveau müsste für ein durchschnittliches Eigenheim eine Gasrechnung von mehreren tausend Euro im Monat gezahlt werden“, hat er ausgerechnet. „Die meisten Menschen ahnen noch hat nicht, was für ein Inflationsschock da auf sie zukommen könnte.“