In der Seefahrt galten sie lange als Seemannsgarn, doch es gibt sie tatsächlich: Monsterwellen, die durch Überlagerung verschiedener Wellen entstehen. In der Corona-Pandemie steht nun voraussichtlich ähnliches bevor: Während sich die von der Delta-Variante ausgelöste vierte Welle noch auf ihrem Höhepunkt befindet, breitet sich mit rasender Geschwindigkeit die Omikron-Mutante aus und erzeugt so eine fünfte Welle, die die vorherige verstärkt.
Die Wissenschaft ist hochgradig alarmiert, doch die Ampel-Koalition will erst kurz vor dem Jahreswechsel strengere Kontaktbeschränkungen verhängen. Insbesondere die Union hält das für unzureichend.
Es war Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), der bereits am vergangenen Freitag die Deutschen darauf einstellte, was in den kommenden Tagen und Wochen zu erwarten ist. Man müsse sich durch eine massive fünfte Welle auf eine Herausforderung einstellen, „die wir in dieser Form noch nicht gehabt haben“, so der SPD-Politiker. Am Sonntag legte dann der neu gebildete Expertenrat der Bundesregierung seine Empfehlungen für die Politik vor, die sich tatsächlich dramatisch lesen.
„Kritische Infrastruktur“ könnte gefährdet sein
Denn erstmals seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie wird sogar davon ausgegangen, dass durch extrem schnell steigende Infektionszahlen nicht nur die Funktionsfähigkeit des Gesundheitswesens gefährdet sein könnte, sondern auch die anderen Bereiche der „kritischen Infrastruktur“, also Polizei, Feuerwehr, Rettungsdienste, Telekommunikation oder die Strom- und Wasserversorgung.
Denn: Setze sich die Omikron-Welle wie befürchtet fort, sei ein „relevanter Teil“ der Bevölkerung zeitgleich entweder erkrankt und/oder in Quarantäne, heißt es in der Stellungnahme des Rates, dem unter anderem der Berliner Virologe Christian Drosten angehört.
Der Expertenrat fasst die bisherigen Erkenntnisse über Omikron prägnant zusammen: Die neue Variante bringe eine „neue Dimension“ in das Infektionsgeschehen, denn sie vereine mehrere ungünstige Eigenschaften: Die Mutante zeichne sich durch eine gesteigerte Übertragbarkeit und ein Unterlaufen des bestehenden Immunschutzes aus. „Sie infiziert in kürzester Zeit deutlich mehr Menschen und bezieht auch Genesene und Geimpfte stärker in das Infektionsgeschehen ein“, so der Rat. „Dies kann zu einer explosionsartigen Verbreitung führen.“
Wissenschaftler warnen: Trotz Impfung symptomatische Erkrankung
Tatsächlich wurde in Dänemark, Norwegen, den Niederlanden und Großbritannien eine bisher nie dagewesene Verbreitungsgeschwindigkeit beobachtet: Die Fallzahlen verdoppeln sich derzeit etwa alle zwei bis drei Tage. Zum Vergleich: Die Delta-Variante brauchte dafür rund sieben Tage, der Wildtyp noch länger. In Großbritannien ist Omikron bereits die vorherrschende Variante, in Deutschland dürfte das nur noch eine Frage von Tagen sein.
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Aber gibt es nicht Berichte, alles sei halb so schlimm, weil weniger schwere Erkrankungen beobachtet werden? Auch darauf geht der Expertenrat ein. Er verweist auf gegenteilige Zahlen zum Beispiel aus London, wo es bereits eine Zunahme der Krankenhauseinweisungen gebe. „Es ist bisher nicht davon auszugehen, dass im Vergleich zur Delta-Variante Menschen ohne Immunschutz einen milderen Krankheitsverlauf aufweisen werden“, schreibt der Rat. Zudem zeigten mehrere Studien, dass der Impfschutz gegen die Omikron-Variante rasch nachlasse und auch immune Personen symptomatisch erkrankten.
Impfschutz bleibt „wahrscheinlich teilweise erhalten“
Impfschutz bleibt „wahrscheinlich teilweise“ erhaltenAuch die Aussage der Experten über den Schutz einer Impfung gegen schwere Erkrankungen klingt nicht gerade optimistisch. Er bleibe „wahrscheinlich teilweise“ erhalten. Eine Entwarnung klingt anders, auch wenn der Rat auf einen „deutlich verbesserten Immunschutz nach erfolgter Booster-Impfung mit den derzeit verfügbaren mRNA-Impfstoffen“ verweist.
„In Deutschland ist jedoch aufgrund der vergleichsweise großen Impflücke, die insbesondere bei Erwachsenen besteht, mit einer sehr hohen Krankheitslast durch Omikron zu rechnen“, so die düstere Prognose der Wissenschaftler. Deshalb sei eine „erhebliche Überlastung der Krankenhäuser“ zu erwarten – „selbst für den wenig wahrscheinlichen Fall einer deutlich abgeschwächten Krankheitsschwere im Vergleich zur Delta-Variante“. Weil die Belastung flächendeckend sein werde, komme dann auch eine Verlegung der Patienten in andere Regionen nicht mehr in Frage.
Verschärfte Maßnahmen geplant: Treffen nur mit 10 Personen
Das Fazit des Expertenrates, der das Papier ohne Gegenstimmen verabschiedet hat, liest sich dann allerdings vergleichsweise unspezifisch. „Wirksame bundesweit abgestimmte Gegenmaßnahmen zur Kontrolle des Infektionsgeschehens sind vorzubereiten, insbesondere gut geplante und gut kommunizierte Kontaktbeschränkungen“, mahnen die Wissenschaftler – ohne genaue Zeithorizonte zu nennen.
Deshalb drängt sich der Verdacht auf, hier habe die Ampel-Koalition bereits Grenzen gesetzt, weil strenge Beschränkungen zu Weihnachten als nicht vermittelbar gelten. Auch öffentlich schloss Gesundheitsminister Lauterbach umgehend einen „harten Lockdown“ über die Weihnachtsfeiertage aus.
Nun soll es voraussichtlich erst nach Weihnachten schärfere Beschränkungen geben. Nach einer am Montag bekannt gewordenen Beschlussvorlage, sollen ab dem 28. Dezember 2021 private Zusammenkünfte von Geimpften und Genesenen nur noch mit maximal zehn Personen erlaubt sein. Diese Obergrenze gelte für private Treffen sowohl innen als auch im Außenbereich, heißt es in dem Papier.
Kinder bis zur Vollendung des 14 Jahres sind danach hiervon ausgenommen. Sobald eine ungeimpfte Person an einer Zusammenkunft teilnimmt, sollen die Kontaktbeschränkungen für ungeimpfte Personen gelten: Das Treffen ist also auf den eigenen Haushalt und höchstens zwei Personen eines weiteren Haushaltes beschränkt.
Clubs und Diskotheken sollen bundesweit geschlossen werden
Zudem sollen bundesweit Clubs und Diskotheken in Innenräumen geschlossen werden. Darüber hinaus ist geplant, bei überregionalen Sport- und Kulturveranstaltungen Zuschauer ganz zu verbieten. Der Bundesliga drohen damit nach dem Ende der Winterpause am 7. Januar Geisterspiele. Nach den Beschlüssen von Bund und Ländern von Anfang Dezember gilt derzeit, dass bei Sport und Kulturveranstaltungen eine maximale Teilnehmerzahl von 5000 (innen) und 15.000 (außen) zugelassen sind, maximal aber 50 Prozent der Kapazität. Bei privaten Feiern sind derzeit noch 50 (innen) beziehungsweise 200 Personen (außen) erlaubt.
Diese Werte waren aber immer nur als Mindeststandards gedacht. Insbesondere die Bundesländer mit niedrigen Impfquoten und den damit einhergehenden hohen Infektionszahlen haben früh deutliche strengere Vorschriften erlassen. So sind beispielsweise in Sachsen schon seit Mitte Dezember landesweit Kultur- und Freizeiteinrichtungen sowie Diskotheken, Clubs und Bars geschlossen. In Handel und Gastronomie gelten eingeschränkte Öffnungszeiten. Niedersachsen hat von Heiligabend bis zum 2. Januar eine sogenannte Weihnachtsruhe beschlossen. Verboten sind unter anderem Tanzveranstaltungen.
Unionspolitiker Sorge mahnt zu härteren MaßnahmenDie Union hält das Vorgehen der Ampel-Koalition für unzureichend. Der CDU-Gesundheitspolitiker Tino Sorge (CDU) fordert das Herunterfahren des öffentlichen Lebens bereits zu Weihnachten. „Liest man die Einschätzung des Expertenrates, ist es fragwürdig, warum Minister Lauterbach einen Lockdown vor Weihnachten kategorisch ausschließt“, sagte er dem RND. „Der Expertenrat lässt keine Zweifel: Wir können uns vor Omikron nicht in die Weihnachtspause flüchten, sondern brauchen jetzt eine klare Marschroute für die ersten Januarwochen“, so der Unions-Politiker.
Leben runterfahren
Sorge argumentierte, die traditionell ruhigen Feiertage seien eine ideale Phase, um das öffentliche Leben für einige Zeit herunterzufahren. So ließe sich die Verbreitung von Omikron ausbremsen. „Das würde uns wertvolle Zeit verschaffen. Zeit gewinnen, damit wir unsere kritischen Infrastrukturen stärken können“, argumentierte er. Das sollte in der Ministerpräsidentenkonferenz am Dienstag der leitende Gedanke sein, mahnte der Gesundheitspolitiker.Lehrerverbände bringen Distanzunterricht ins SpielLehrerverbände halten es angesichts der Omikron-Verbreitung auch für denkbar, die Weihnachtsferien zu verlängern oder Distanzunterricht kurzzeitig wieder einzuführen.
Distanzunterricht nach den Ferien?
„Distanzunterricht für eine begrenzte Zeit nach den Weihnachtsferien kann eine Möglichkeit sein, die Verbreitung der Omikron-Variante zu erschweren“, sagte die Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Maike Finnern, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).
Das müsse aber eine Ausnahme bleiben, forderte sie. Ähnlich sieht das auch der Deutsche Lehrerverband. „Wenn die Infektionszahlen aufgrund von Omikron in den Weihnachtsferien massiv nach oben gehen, dürfen Ferienverlängerungen beziehungsweise erneuter Distanzunterricht nicht ausgeschlossen werden“, sagte Präsident Heinz-Peter Meidinger dem RND. „Solch ein Schritt sollte aber nicht isoliert erfolgen, sondern nur im Verbund mit einem allgemeinen Lockdown oder weitergehenden gesellschaftlichen Kontaktbeschränkungen.“ Nötig sei jetzt ein bundesweit einheitliches Vorgehen, so Meidinger. Denn: „Aktuell herrschen Chaos und Verwirrung.“