Ein echtes Comeback soll die Frankfurter Buchmesse erleben. Mit Menschenmengen in großen Hallen, rauschenden Empfängen, Lesungen von Starautoren. Vor Ort statt vor dem Bildschirm will sich die internationale Verlagswelt zum Großevent in diesem Oktober treffen – das ist zumindest der Plan. Eine Absage wegen Corona? Bitte nicht noch einmal, nicht in diesem Jahr.„Das Interesse ist wirklich groß, sich wieder in Präsenz zu treffen“, versichert eine Buchmesse-Sprecherin. Rund 4000 Aussteller aus 65 Ländern haben sich schon jetzt angekündigt – doppelt so viele wie im Vorjahr. Und es ist nur eine von vielen Großveranstaltungen, die in dieser Festival- und Messesaison wieder stattfinden sollen.Deutschland öffnet sich. Schließlich war genau dies das große Versprechen: In diesem Sommer soll Corona keine Rolle mehr spielen. Maske, Abstand, Testen, Impfnachweis zeigen, Personen im Raum abzählen? Nicht mehr nötig, endlich.Ganz anders als ein finaler Sieg über die Pandemie liest sich dagegen die neue Stellungnahme des Corona-Expertenrats der Bundesregierung. Von mehr Ansteckungen spätestens ab Herbst ist da die Rede, von einer Impflücke, von einem abnehmenden Immunschutz. Das Gesundheitssystem und die kritische Infrastruktur würden „wahrscheinlich erneut erheblich“ belastet, heißt es darin ebenfalls.Noch schlimmer: Sogar eine Sommerwelle ist plötzlich denkbar. Nicht mal mehr darauf ist beim Coronavirus offensichtlich noch Verlass: dass es bei steigenden Temperaturen zeitweise etwas ruhiger wird. Denn eine neue Variante verbreitet sich im Land: BA.5, bekannt dafür, noch übertragbarer zu sein und den Immunschutz noch geschickter zu umgehen, als es die Omikron-Linien BA.1 und BA.2 vermochten
„Unsere Prognosen sehen trotz der Unsicherheiten derzeit einen Wiederanstieg der Infektionszahlen, die vermutlich zu einer neuen Welle im Sommer führen werden“, sagt Anita Schöbel, die das Institut für Techno- und Wirtschaftsmathematik der Fraunhofer-Gesellschaft leitet und Pandemieverläufe modelliert. „Bislang spricht alles dafür, dass es eine weitere Infektionswelle geben wird“, sagt auch Kai Nagel, der an der Technischen Universität Berlin Corona-Szenarien analysiert. „Wenn wir Glück haben, kommt diese Welle erst im Herbst. Wenn wir Pech haben, kommt sie schon im Sommer.“
Wachstum von Woche zu Woche
Anzeichen gibt es schon jetzt. Die Zahlen des Robert Koch-Instituts (RKI) lassen nichts Gutes erahnen. Die Sieben-Tage-Inzidenz steigt wieder. Der R-Wert schwankt um den kritischen Wert von eins. Und, besonders auffällig: Der Anteil von BA.5 an der Gesamtzahl der Infektionen wächst von Woche zu Woche. Betrug er Ende April deutschlandweit noch 0,6 Prozent in den untersuchten Stichproben, liegt der aktuellste Wert für Anfang Juni bereits bei 10 Prozent. „Epidemiologisch befinden wir uns sozusagen bereits im Herbst“, sagt der Immunologe Reinhold Förster von der Medizinischen Hochschule Hannover.
Was passiert, wenn BA.5 die Oberhand gewinnt, kann man aktuell in Portugal beobachten. Nicht nur die Zahl der Ansteckungen schießt dort seit Mitte Mai plötzlich wieder nach oben, bis auf eine Sieben-Tage-Inzidenz von 2000. Auch die Zahl der Covid-Patienten in den Kliniken und die der Toten steigen. Dabei sind rund 87 Prozent der zehn Millionen Einwohner des Landes geimpft. „Etwas beunruhigt“ über die Sterblichkeit ist unter anderem der Charité-Virologe Christian Drosten: „Dafür gibt es keine offensichtlichen Erklärungen, denn auch andere europäische Länder haben BA.5-Anstiege, ohne Zunahme der Letalität.“
Wie folgenreich die Welle in Deutschland wird, ist aber noch nicht klar. Drosten zufolge weiß man erst in einem Monat, ob sich hierzulande eine ähnliche Lage wie in Portugal einstellt. Erneut werden sich wahrscheinlich viele Menschen anstecken, sich isolieren müssen, bei der Arbeit ausfallen. Aber werden sie so schwer erkranken, dass sie ins Krankenhaus müssen, mit dem Tod ringen? Oder später an Long Covid leiden? Glücklicherweise gibt es bislang keine Hinweise darauf, dass BA.5 per se stärker krank macht als frühere Omikron-Linien.
Infektion allein schützt schlecht
Nicht jeder und jede ist vor BA.5 allerdings gleichermaßen gut geschützt. Anders als vor zwei Jahren sind viele Menschen mehrfach geimpft und haben sich ein- oder mehrfach angesteckt. Das Immunsystem ist damit deutlich besser als früher gewappnet für den nächsten Angriff. Bei der neuen Variante ist dieser Effekt aber nicht so stark wie ursprünglich erhofft. „Alle, die bereits eine Omikron-Infektion hatten, können sich nicht auf einen daraus resultierenden Immunschutz verlassen“, sagt der Epidemiologe Timo Ulrichs von der Berliner Akkon-Hochschule. „Eine vorher durchgemachte Infektion schützt also leider nur sehr wenig.“ Jedenfalls dann, wenn man sich nicht auch mit einem Vakzin hat immunisieren lassen.
Alle jedoch, die zusätzlich dreimal geimpft sind, hätten nur ein sehr geringes Risiko, schwer an Covid-19 zu erkranken. Damit landet Deutschland wieder bei seinem noch aus der letzten Winterwelle verschleppten Problem: der unzureichenden Impfquote. Nur rund 60 Prozent der Menschen haben ihren Impfschutz überhaupt aufgefrischt. Großer Andrang bei den Impfstationen und in den ärztlichen Praxen? Fehlanzeige. Gerade Ältere mit dem höchsten Risiko verzichten darauf, ihren Schutz zu verbessern. Rund 20 Prozent der über 60-Jährigen fehlt die dritte Dosis, rund 81 Prozent in dieser Altersgruppe die vierte, vermerkt das RKI. Dabei empfiehlt die Ständige Impfkommission (Stiko) Älteren die zweite Auffrischung bereits seit Februar.
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Auch wenn die BA.5-Welle harmlos verlaufen sollte, kann diese Impflücke schwerwiegende Folgen haben – denn die Erfahrung lehrt, dass es mit Corona auch jederzeit schlimmer kommen kann als erhofft, vor allem in Form noch ansteckenderer oder wieder gefährlicherer Varianten. Kontaktbeschränkungen, Maskenpflicht, weitere Impfungen, alles das könnte wieder nötig werden – so beschreibt es der Corona-Expertenrat. Wohlgemerkt: Es muss alles nicht so kommen. Aber das Worst-Case-Szenario, das an dramatische Wellen der vergangenen zwei Jahre erinnert, liegt weiter im Bereich des Möglichen.
Gut vorbereitet ist Deutschland darauf nicht. „Wir sollten nicht die Augen verschließen und glauben, jetzt ist alles vorbei, es ist das dritte Jahr mit Corona, es braucht keine Gegenmaßnahmen mehr“, betont Modellierer Nagel. Das weiß auch der Bundesgesundheitsminister. „Wenn wir verhindern wollen, dass im Herbst jede Woche über 1000 Menschen an Corona sterben, ist der sicherste Weg eine erfolgreiche Kampagne für die vierte Impfung“, schrieb Karl Lauterbach (SPD) zuletzt auf Twitter. Schweden geht diesen Weg bereits, mit Viert- und sogar Fünftimpfungen, vor allem für Menschen mit erhöhtem Risiko.
Lässt Deutschland dagegen diesen Sommer nun wieder ungenutzt verstreichen? Impfstoffe beschaffen und verteilen – damit allein ist es dem Corona-Expertenrat zufolge nicht getan. Es brauche eine solide rechtliche Grundlage für Infektionsmaßnahmen. Maßnahmen zwischen Bund und Ländern müssten zen tral koordiniert, neue Regeln und Empfehlungen bundeseinheitlich, schnell und klar bekannt gemacht werden.
Bessere Daten braucht das Land
Die Behörden sollten systematisch erfassen, wie belastet das Gesundheitswesen ist und wie sich das Virus verbreitet – am besten in Echtzeit, empfehlen die Experten. Pandemiepläne für Schulen und Kitas müssten erarbeitet, eine Testinfrastruktur im Fall der Fälle schnell reaktiviert werden.Aber nicht nur die Politik ist gefragt. Was jetzt im Alltag gegen BA.5 hilft? „Jeder Einzelne kann sich und andere durch das Tragen von Masken schützen“, betont Modelliererin Schöbel. „Das ist schon jetzt sinnvoll und wird bei einem weiteren Anstieg der Infektionszahlen wieder eine zunehmend wichtigere Maßnahme.“ Dass sich größere Teile der Menschen bei weniger staatlich angeordneten Maßnahmen „weiterhin umsichtig und rücksichtsvoll verhalten“, sei entscheidend dafür, wie die BA.5-Welle verläuft, heißt es auch beim Robert Koch-Institut.
Und so sind auch die Veranstalter erneut gezwungen, sich auf denkbare Sommer-, Herbst- und Winterwellen einzustellen. Die Buchmesse-Organisatoren in Frankfurt sind skeptischer geworden. Blind darauf vertrauen, dass es mit Corona nun vorbei ist? Das jedenfalls wäre fahrlässig.
Maskenpflicht nicht ausgeschlossen
Man arbeite eng mit der Messe Frankfurt und der Polizei zusammen und suche zudem den Austausch mit dem örtlichen Gesundheitsamt, betonen die Veranstalter daher. Im Zweifel müssen sie ihre Präsenzplanungen, Hygiene- und Sicherheitskonzepte an eine verschärfte Situation anpassen, eventuell auch eine Maskenpflicht einführen. Es sei klar, dass die Gesundheit der Besucher, Besucherinnen, Aussteller und Ausstellerinnen an erster Stelle stehe.
Eine Entscheidung ist daher bereits gefallen: Die Messehallen werden so belegt, dass größere Abstände als sonst zwischen den Ständen gewahrt werden. Egal, welches Szenario also eintritt: Das Virus bleibt weiter präsent.