Selten zuvor waren die Deutschen so stark verunsichert. Die Corona-Pandemie kam so schnell, dass kaum jemand einen Gedanken fassen konnte, bevor schon der erste Lockdown da war. Doch nun ist bereits seit längerem klar, dass ab dem Herbst harte Zeiten anbrechen werden. Niemand weiß allerdings, wie schlimm es genau wird. Und was macht die regierende Ampelkoalition? Sie tut das, was sie am besten kann: miteinander streiten.
Da wäre zum Beispiel der völlig überflüssige Disput über die Pläne von Finanzminister Christian Lindner über den Ausgleich der kalten Progression. Es wäre absurd, ausgerechnet jetzt, wo die Gesellschaft von einer Rekordinflation im Würgegriff gehalten wird und die heimliche Mehrbelastung besonders hoch ist, auf diesen Ausgleich zu verzichten.
Die Kritik der Grünen, die Pläne seien sozial ungerecht, ist wohlfeil. Es liegt in der Natur des Steuersystems, dass Menschen mit einem niedrigen Einkommen eine geringere Steuerlast haben als Gutverdiener und damit – in Euro und Cent ausgedrückt – durch den Ausgleich der kalten Progression auch geringer entlastet werden. Anders als Scholz zuvor will Lindner sogar dafür sorgen, dass die absoluten Spitzenverdiener nicht zusätzlich profitieren.
Studtenten und Rentner: Nicht jeder gleichstark von Energiepreisen betroffen
Aber das ist ohnehin nur ein Nebenaspekt bei der nötigen Entlastung der Bürgerinnen und Bürger. Die Koalition sollte als erstes ermitteln, wer durch die steigenden Energiepreise tatsächlich besonders stark belastet ist. Hier hilft es nicht, auf althergebrachte Weise ganze Bevölkerungsgruppen zu definieren. DER Rentner ist nicht per se hilfsbedürftig, genauso wenig wir DER Student.
Angesichts der Arbeitsmarktlage sind beispielsweise Studentinnen und Studenten durchaus in der Lage, kurzfristig Geld hinzuzuverdienen. Das können etwa Eltern, die einen Vollzeit-Job mit übersichtlichen Gehältern haben, nicht.
Damit das Geld zielgerichtet ankommt, muss die Einkommenssituation zudem mit den individuellen Energiekosten in Beziehung gesetzt werden. Nur diejenigen, die einen überproportionalen Anteil ihres Haushaltseinkommens für Energie ausgeben müssen, sollten unterstützt werden. Es muss möglich sei, die dazu erforderlichen Daten unbürokratisch zu erfassen und auszuwerten.
Bund könnte Gasumlage vorstrecken, um Belastung zu dämpfen
Außerdem sollte die Gasumlage dringend überdacht werden. Um die Menschen nicht zusätzlich zu belasten, könnte sie zunächst teilweise oder sogar ganz vom Bund vorfinanziert werden. Erst wenn sich die Preise in zwei oder drei Jahren stabilisiert haben, sollte sich Lindner das Geld von den Energiekunden schrittweise wieder zurück holen.
Dieses Prinzip könnte sogar auf die Gaskosten an sich ausgeweitet werden, um eine Art Preisdeckel finanzieren zu können. Der Vorteil: Der Staat hätte Zeit gewonnen, sich eine gute Lösung zu überlegen, um am Ende tatsächlich nur die wirklich Bedürftigen zu unterstützen.
Klar ist in jedem Fall: Die von Lindner so vehement verteidigte Schuldenbremse wäre durch dieses Vorgehen nicht tangiert, schließlich gäbe er den Bürgerinnen und Bürgern lediglich einen (zinslosen) Kredit. Im politischen Gegenzug könnte er auf die Forderung der Grünen eingehen, den Ausgleich der kalten Progression so zu stricken, dass Spitzenverdiener absolut gesehen nicht stärker entlastet werden als Menschen mit geringem Einkommen. Dazu gibt es im Tarifverlauf der Einkommensteuer genug Stellschrauben.
Das könnte Sie auch interessieren:
Es reicht längst nicht mehr aus, den Slogan von Kanzler Olaf Scholz, man werde niemanden zurücklassen, gebetsmühlenartig zu wiederholen. Nötig sind jetzt – und nicht erst im Herbst - kreative und pragmatische Lösungen.