„Marsch für das Leben“Tausende Abtreibungsgegner demonstrieren in Berlin
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Berlin – Auf einer Bühne vor dem Brandenburger Tor in Berlin beginnt der „Marsch für das Leben“ am Samstagmittag mit christlichem Kuschelrock. Eine Band gibt Balladen gegen Schwangerschaftsabbrüche zum Besten – und eine Coverversion des Xavier-Naidoo-Songs „Ich kenne nichts“. Deutlich mehr als tausend Menschen sind laut Polizeiangaben zu der Demonstration für ein vollständiges Abtreibungsverbot und gegen ärztliche Sterbehilfe gekommen – weniger als die ursprünglich angemeldeten 8000 Teilnehmer und Teilnehmerinnen und auch weniger als in den vergangenen Jahren.
Zur Demonstration aufgerufen hatte der Bundesverband Lebensrecht (BVL), ein Zusammenschluss mehrerer Organisationen christlicher Abtreibungsgegnerinnen und -gegner. In einem Redebeitrag bezeichnet Helmut Matthies, evangelischer Theologe und ehemaliger Leiter des evangelikalen Nachrichtendienstes Idea, Abtreibungen als „schwerste Menschenrechtsverletzung im letzten Vierteljahrhundert“.
Vergleiche mit dem Nationalsozialismus
Auf Plakaten, die die Organisatoren der Demonstration am Samstag an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer verteilen, werden Abtreibungen etwa mit der Ermordung Behinderter als „unwertes Leben“ im Nationalsozialismus verglichen. „Ungeborene sind keine Rohstoffe“ steht auf einem anderen Plakat, „Töten ist keine ärztliche Kunst“ auf einem weiteren. Ein Teilnehmer der Demonstration trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift „Babycaust“. Die Berliner Polizei stellt nach einiger Zeit die Personalien des Mannes fest, da die Aufschrift „aus Sicht unserer Einsatzleitung geeignet sein könnte, den Holocaust zumindest zu bagatellisieren oder zu leugnen“. In ihrer juristischen Bewertung kommt die Polizei kurz darauf jedoch zu dem Schluss, die Botschaft sei in dieser Form nicht strafbar.
Auch mehrere Kirchenvertreter nahmen laut Veranstalterangaben am „Marsch für das Leben“ teil, darunter die katholischen Bischöfe Wolfgang Ipolt aus Görlitz und Rudolf Voderholzer aus Regensburg sowie der Vorsitzende der Evangelischen Allianz in Deutschland, Ekkehart Vetter. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Georg Bätzing, hatte vorab ein Grußwort an die Demonstrierenden geschickt.
Auf der anderen Seite des Brandenburger Tors demonstriert zeitgleich am Samstagmittag das Berliner Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung, dem mehrere Dutzend feministische Organisationen, Beratungsstellen, Gewerkschaften, Parteien und Verbände angehören, für eine Liberalisierung des Abtreibungsrechts in Deutschland. Das Bündnis fordert unter anderem die vollständige Streichung des Paragrafen 218 aus dem Strafgesetzbuch, der Schwangerschaftsabbrüche verbietet und lediglich unter Auflagen straffrei stellt.
Als der „Marsch für das Leben“ durch den Berliner Stadtteil Mitte zieht, finden sich am Rand der Demonstrationsstrecke immer wieder kleine Gruppen feministischer Gegendemonstrantinnen und Gegendemonstranten ein.
Beratungsstellen und Frauenärzte beklagen Verschlechterung der Versorgungssituation
Während Organisationen wie der Bundesverband Lebensrecht ein vollständiges Abtreibungsverbot fordern, beklagen Beratungsstellen und Frauenärztinnen und -ärzte bereits heute eine zunehmende Verschlechterung der Versorgungssituation für Frauen, die in Deutschland eine Schwangerschaft abbrechen wollen. Vor allem im ländlichen Raum sei die Lage kritisch. „In Bayern und Baden-Württemberg ist die Versorgung schlichtweg nicht mehr gesichert“, sagt die Bundesvorsitzende des Beratungsstellenverbands Pro Familia, Dörte Frank-Boegner. „Frauen müssen schon heute bis zu 200 Kilometer weit fahren, um einen Arzt oder eine Ärztin zu finden, die einen Abbruch durchführt.“
„Das grundlegende Problem ist, dass das Thema Schwangerschaftsabbruch ein Tabu ist“, erklärt Frank-Boegner, „heute noch mehr als vor dreißig oder vierzig Jahren.“
Der Grund dafür sei, dass sich die Haltung zu dem Thema in den letzten Jahrzehnten stark verändert habe: Während Frauen sich früher aktiv für die Autonomie über den eigenen Körper eingesetzt hätten, scheine es heute so, als würden viele das Recht auf Schwangerschaftsabbruch als selbstverständlich ansehen – „nichts, wofür man kämpfen müsste“, sagt Frank-Boegner.
All das habe dazu geführt, dass die meisten Menschen gar nicht wüssten, wie kompliziert die Situation in Deutschland ist, bis sie selbst vor dem Problem stehen, einen Arzt oder eine Ärztin zu finden, der oder die einen Abbruch durchführt.
Feindliches Klima
Das gesellschaftliche Klima führe dazu, dass immer weniger Ärztinnen und Ärzte Abbrüche durchführen würden, aus Angst vor Bedrohungen, aber auch aus Angst vor Stigmatisierung im eigenen Kollegenkreis. „Die Entscheidung, Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen, wird für Ärztinnen und Ärzte oft zu einem Spießrutenlauf auf vielen Ebenen“, sagt die Pro-Familia-Vorsitzende.
Auch der Präsident des Bundesverbandes der Frauenärzte, Christian Albring, beklagt: „Es ist das gesellschaftliche Klima insgesamt, das gegenüber Frauenärztinnen und -ärzten, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen, feindlich und ablehnend ist.“Auch die selbst ernannte „Lebensschutzbewegung“ trage dazu bei, das Klima weiter anzuheizen: „Die Angriffe auf Ärztinnen und Ärzte im Netz werden immer heftiger“, sagt Frank-Boegner. Dabei bleibe es aber nicht: Ärztinnen und Ärzte würden Morddrohungen erhalten, zum Teil komme es zu Angriffen auf Arztpraxen, in denen Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt werden.
„Der Schwangerschaftsabbruch wird nicht ausreichend thematisiert“
Hinzu komme die rechtliche Situation in Deutschland: Schwangerschaftsabbrüche sind unter Paragraf 218 im Strafgesetzbuch geregelt, im Abschnitt 16 „Straftaten gegen das Leben“, kurz hinter Mord und Totschlag. Dass Schwangerschaftsabbrüche grundsätzlich verboten sind und nur unter bestimmten Rahmenbedingungen straffrei bleiben, trage ebenfalls zu einer Stigmatisierung der Frauen und von Ärztinnen und Ärzten bei, erklärt Frank-Boegner.
Die Pro-Familia-Vorsitzende sieht zudem Mängel in der medizinischen Ausbildung. „Der Schwangerschaftsabbruch wird nicht ausreichend thematisiert – weder in der Grundausbildung noch in der Facharztausbildung. Die praktische Durchführung wird schlichtweg nicht eingeübt.“ Das führe dazu, dass sich immer mehr junge Ärztinnen und Ärzte nach dem Studium nicht dazu befähigt sähen, diese Leistung anzubieten.
Verschärfung unwahrscheinlich
Deutsche Abtreibungsgegner blicken hoffnungsvoll ins AuslandBeim „Marsch für das Leben“ nimmt Organisatorin Alexandra Linder auch die bevorstehende Bundestagswahl in den Blick. „Viele Parteien haben bioethische Themen in ihren Wahlprogrammen, aber überwiegend nicht in unserer Richtung“, sagt die BVL-Vorsitzende. Sie ruft die Demonstrantinnen und Demonstranten dazu auf, vor der Wahl auf die Abgeordneten in Ihrem Wahlkreis einzuwirken.
Tatsächlich ist eine Verschärfung des Abtreibungsrechts in Deutschland derzeit unwahrscheinlich. Vielmehr könnte nach der Bundestagswahl eine Abschaffung des Paragrafen 219a im Strafgesetzbuch anstehen, der eine „Werbung“ für Schwangerschaftsabbrüche untersagt. Kritikerinnen und Kritiker der Regelung bemängeln, dass durch den Paragrafen nicht nur Werbung, sondern auch sachliche Information über Schwangerschaftsabbrüche durch Ärztinnen und Ärzte verboten wird.
„Wir sehen, dass es in anderen Ländern auch positive Entwicklungen gibt“
Union und SPD fanden im Streit um den Paragrafen im vorletzten Jahr eine Kompromisslösung. Arztpraxen dürfen seitdem öffentlich bekannt machen, dass sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Es ist ihnen jedoch weiterhin verboten, etwa auf ihrer Website darüber zu informieren, welche medizinischen Methoden sie verwenden. Die SPD war ursprünglich für eine vollständige Streichung des Paragrafen, CDU und CSU stellten sich jedoch dagegen. Linke, Grüne und FDP sprechen sich ebenfalls für die Streichung des Paragrafen aus.
Hoffnungsvoller als auf den Bundestag blicken deutsche Abtreibungsgegnerinnen und -gegner deshalb ins Ausland. „Wir sehen, dass es in anderen Ländern auch positive Entwicklungen gibt“, sagt Alexandra Linder.
Das stark katholisch geprägte Polen ist eines dieser Länder. Dort gilt seit einer Verschärfung der Rechtslage im vergangenen Jahr ein beinahe vollständiges Abtreibungsverbot. Nach einem Urteil des polnischen Verfassungsgerichts dürfen Schwangerschaftsabbrüche nur noch dann durchgeführt werden, wenn das Leben der schwangeren Frau bedroht oder die Schwangerschaft durch eine Vergewaltigung entstanden ist.
Anzeigen und Bedrohungen
Linder führt jedoch besonders die USA an, wo Konservative seit Jahrzehnten einen Kampf für weitreichende Abtreibungsverbote führen. „In den USA gibt es immer mehr Staaten, die sogenannte „Heart Beat Bills„ erlassen“, sagt Linder. Das republikanisch regierte Texas ist so ein Staat. Dort gilt seit diesem Monat ein Abtreibungsverbot ab dem Zeitpunkt des ersten Herzschlags des Fötus – in der Regel also ab der sechsten Schwangerschaftswoche. Viele Frauen wissen zu diesem frühen Zeitpunkt noch nicht einmal, dass sie schwanger sind. Abtreibungskliniken, die dagegen verstoßen, drohen hohe Strafen.
Auch abseits gesetzlicher Regelungen ist der Einfluss radikaler Abtreibungsgegner und -gegnerinnen in den USA vielerorts groß. Frauenärztinnen und Abtreibungskliniken sehen sich regelmäßig Protesten und Störaktionen ausgesetzt. Vielfach werden dabei Patientinnen belästigt.
„Das schüchtert einen natürlich ein“
Die deutschen Abtreibungsgegner und -gegnerinnen sind längst nicht so schlagkräftig wie die in den Vereinigten Staaten. Die Berliner Ärztin Alicia Baier warnt trotzdem vor der „Lebensschutz-Bewegung“. „Obwohl sie eine Minderheit sind, haben sie enormen Einfluss, unter anderem durch ihre massive Finanzierung aus dem Ausland, etwa aus den USA oder aus Russland“, sagt die Vorsitzende der Doctors for Choice.
Anfeindungen und Einschüchterungsversuche radikaler Abtreibungsgegner hat Baier auch selbst erlebt. Dreimal wurde sie bereits angezeigt, das letzte Mal im Januar, nachdem sie in einem Interview über Schwangerschaftsabbrüche gesprochen hatte. „Sie versuchen wirklich alles, um einen reinzureiten“, sagt Baier. „Das schüchtert einen natürlich ein.“
Auch auf den Internetseiten des prominenten Abtreibungsgegners Klaus Günther Annen taucht die Ärztin auf. Annen ist Betreiber mehrerer Webseiten, auf denen er Ärztinnen und Ärzte, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen, als „Auftragsmörder“ und Abtreibungen als Steigerungsform des Holocaust bezeichnet. Annen sammelt auf der Seite private Informationen über Baier, etwa, wo sie studiert hat, wo sie arbeitet, was sie zwischen ihrem Abitur und dem Medizinstudium gemacht hat.
Das Familienplanungszentrum, in dem Baier arbeitet, listet Annen auf seiner Website als „Tötungszentrum“. An Aggressivität steht das auch den radikalen Abtreibungsgegnern und -gegnerinnen in den USA in nichts nach.