Berlin – Auf dem Titel des einflussreichen „Economist“-Magazins ist Angela Merkel im Abgang zu sehen, sie trägt einen schweren, altmodischen Koffer. Ist es ein Koffer voller ungelöster Probleme? Die Sonderausgabe des britisch-amerikanischen Magazins zur Bundestagswahl spart nicht mit Kritik an ihrer Kanzlerschaft und malt die Zukunft Deutschlands in eher düsteren Farben.
„After Angela“, nach Angela, heißt die zehnseitige Ausgabe, die dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) exklusiv vorab vorliegt. Die Diagnose ist schonungslos: „Selbstzufriedenheit“ wird Merkel und dem gesamten deutschen politischen System zugeschrieben, diese zu überwinden „wird die größte Aufgabe für ihren Nachfolger sein“.
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Die Autoren greifen einen im Wahlkampf oft gezeigten alten Talkshowausschnitt von 1997 auf. Merkel, damals Bundesumweltministerin, plädiert vehement für eine neue Klimapolitik, unabhängig von wirtschaftlichen Erwägungen. „Das Ozonloch fragt nicht, ob es gerade passt“, sagt sie und warnt vor Hunger, Dürren und Fluchtbewegungen.
24 Jahre später demonstriert beim globalen Klimastreik am Freitag eine Generation, die damals noch nicht auf der Welt war, gegen Merkels Untätigkeit auf diesem Feld. Und Merkel selbst lobte auf ihrer letzten Sommerpressekonferenz ausgerechnet Fridays for Future für den Druck, durch den ein Klimaschutzgesetz auf den Weg gebracht wurde – als habe sie darauf gewartet, um ihre Erkenntnisse von damals mit großer Verzögerung in Politik umsetzen zu können.
Merkel „mehr Monarchin als Kanzlerin“
„Sie war streckenweise mehr Monarchin als Kanzlerin“, schreibt der „Economist“. Er lobt Merkel als kenntnisreiche Wissenschaftlerin und Staatsfrau – und kritisiert sie als zögerliche Politikerin, die sich scheut, diese Erkenntnisse in eine Politik des Wandels zu übersetzen.
Merkel habe sich große Verdienste als Krisenkanzlerin erworben – von der Finanz- und Euro-Krise über die Flüchtlingskrise bis zur Corona-Pandemie –, aber sie sei deutlich weniger erfolgreich darin gewesen, Deutschland auf einen langfristigen Reformkurs zu setzen.
Bloß die Wähler nicht verschrecken
Das präge die Bundesrepublik über ihren Abgang hinaus. Eine wirkliche Wechselstimmung sei im Wahlkampf nicht zu spüren. Der deutschen Wirtschaft und Politik fehle es an Zukunftsfähigkeit auf vielen Ebenen. Merkels Methode, „Wählerinnen und Wähler nicht mit zu viel Reden über Veränderungen zu verschrecken“, mache es schwierig, Reformen im Wahlkampf offensiv herauszustellen.
Fachkräftemangel, demografischer Wandel, Energiewende, eine nach wie vor vom Verbrennungsmotor abhängige Autoindustrie, eine zögerliche Außenpolitik, ein Föderalismusmodell, das in der Corona-Politik an seine Grenzen geriet – all das zeigt laut „Economist“ ein Modell von Deutschland, das maximal noch für die Gegenwart tauge.
Das Magazin zitiert Thorsten Benner vom Berliner Global Public Policy Institute mit den Worten: „Wir werden vermutlich auf die Merkel-Jahre als das letzte Hurra des deutschen Modells zurückblicken.“
Dass nach der Wahl erstmals im Bund eine Dreierkoalition regieren wird, werten die Autoren als zweischneidig. „Theoretisch könnte solch eine Regierung das jeweils Beste der Parteien vereinen: grüner Ehrgeiz in der Klimapolitik, liberaler Fokus auf Digitalisierung und Innovation und so weiter. Aber mindestens ebenso wahrscheinlich ist ein Dauerstreit der Koalitionäre, vor allem, wenn eine Kanzlerin von Merkels Schlagkraft fehlt.“