- Die deutsche Impfkampagne gegen Corona ist ein Debakel - zu langsam und mäßig organisiert. Mit dem vorläufigen Stopp für Astrazeneca ist zudem viel Vertrauen verloren gegangen.
- Dem so dringend herbeigesehnten zweiten Quartal, das den entscheidenden Schub für die Impfungen bringen soll, droht nun ebenfalls ein Holperstart.
- Was ist vom Impfstopp zu halten? Wie geht es in den kommenden Monaten weiter?
Berlin – Der Mechanismus der Bundesregierung ist immer der gleiche: Wenn die Entscheidung für eine Corona-Maßnahme gefallen ist, wird sie konsequent verteidigt. Gegenargumente werden so lange beiseite geschoben, bis man zu einem gegenteiligen Beschluss kommt. Prominentes Beispiel vom Beginn der Pandemie: Mit Astrazeneca ist es auch so gelaufen. Der Impfstoff sei sicher, von der Europäischen Arzneimittelbehörde EMA geprüft, ein Aussetzen wie in anderen Ländern? Abwegig.Das galt bis Montagmittag. Dann vollzogen das für die Zulassung von Impfstoffen zuständige Paul-Ehrlich-Institut und mit ihm der Bundesgesundheitsminister eine radikale Wende. Das Impfen in den bundesweiten Zentren wurde gestoppt, Patienten nach Hause geschickt, Menschen mit einer Erstimpfung ratlos zurückgelassen. Nachbar Frankreich beklagt sich, dass man von der deutschen Entscheidung überrascht worden sein und pocht darauf, dass man eigentlich gemeinsam die Entscheidung der EMA habe abwarten wollen. Die Europäer werfen Deutschland nun vor, einen Dominoeffekt in Sachen Astrazeneca-Stopp ausgelöst zu haben. Das Gesundheitsministerium wiederum verweist darauf, dass man seit den ersten Meldungen aus Dänemark im ständigen europäischen Austausch gewesen sei.
Die Bundesregierung hatte ihre eigene Entscheidung aber offensichtlich nicht vorbereitet weder national noch international. Entsprechend wenige Fragen konnte der Gesundheitsminister nach der Entscheidung beantworten. Wir haben die Antworten auf die zentralen Fragen recherchiert.
Wieso hat Deutschland nun doch die Astrazeneca-Impfungen ausgesetzt?
Sieben Fälle einer speziellen Form von sehr seltenen Hirnvenen-Thrombosen in Verbindung mit einem Mangel an Blutplättchen und Blutungen bei rund 1,6 Millionen Astrazeneca-Geimpften waren der Anlass für das vorläufige Aussetzen in Deutschland. Auffällig ist, dass vor allem jüngere Menschen zwischen 20 und 50 Jahren betroffen sind – insbesondere Frauen. Alle Fälle seien zwischen 4 und 16 Tage nach der Impfung aufgetreten, berichtet das Paul-Ehrlich-Institut (PEI). Drei der Fälle verliefen tödlich.
Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Impfung und Thrombose wurde bisher in keinem Fall festgestellt. „Es geht um ein sehr geringeres Risiko – aber, falls es tatsächlich im Zusammenhang mit der Impfung stehen sollte, um ein überdurchschnittliches Risiko“, sagte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn bei der Verkündung der vorläufigen Aussetzung am Montag. Auch aus Dänemark und Norwegen wurde bereits über plötzlich zunehmende Fälle solch seltener Blutgerinnsel berichtet – aus Großbritannien bislang nicht.
Welche Länder haben auch gestoppt, welche machen weiter?
Viele europäische Staaten haben wegen der Berichte die Astrazeneca-Impfungen gestoppt, solange weitere Prüfungen laufen. Dazu zählen etwa Frankreich, Italien, Niederlande, Dänemark, Norwegen, Schweden, Portugal, Slowenien, Zypern, Lettland und Litauen.Großbritannien, Tschechien und Polen haben eine andere Nutzen-Risiko-Abwägung getroffen – und impfen weiter. Damit folgen sie den Empfehlungen der Europäischen Arzneimittelbehörde (EMA) und der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die weiter an Impfungen während der Routine-Überprüfung festhalten. Das Argument: Die Vorteile durch den Schutz vieler Menschen vor einer schweren Covid-19-Erkrankung seien höher einzuschätzen, als die Risiken möglicher Nebenwirkungen.
Wer prüft nun die Vorfälle – und bis wann ist mit einer neuen Empfehlung zu rechnen?
Die EMA ist zuständig für die Analyse und Bewertung der Daten und klinischen Fallberichte aller nationalen Arzneimittelbehörden. Auch eine WHO-Fachgruppe zur Impfstoffsicherheit schaut sich die Daten an und berät. In welchem Ausmaß speziell derart seltene Thrombose-Fälle in sämtlichen EU-Staaten registriert wurden, ist noch unklar. Der Hersteller selbst, also Astrazeneca, sieht nach eigenen Datenanalysen keine Belege für ein höheres Thrombose-Risiko.
Der EMA-Sicherheitsausschuss hat angekündigt, am Donnerstag über weitere Schritte zu entscheiden. Auch Bundesgesundheitsminister Spahn hofft auf eine Empfehlung noch in dieser Woche. Das Paul-Ehrlich-Institut steht dazu mit der EMA im Kontakt – und gibt dann für das Bundesgesundheitsministerium eine neue Empfehlung ab.
Ist der Impfplan der Regierung noch zu halten?
Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte zugesichert, dass alle Bürgerinnen und Bürger bis Ende September ein Impfangebot bekommen. Dafür wären bei einer Zweifachimpfung rund 140 Millionen Dosen (ohne Kinder und Jugendliche) nötig. Bisher sieht die Prognose der Bundesregierung vor, dass bis einschließlich September insgesamt 217 Millionen Impfdosen geliefert werden, darunter 56 Millionen Dosen von Astrazeneca – der Impfstoff ist damit nach dem von Biontech/Pfizer das wichtigste Vakzin für Deutschland.
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Entscheidet die europäische Arzneimittelbehörde, die Zulassung von Astrazeneca ganz zurückzunehmen, könnte der Impfplan gerade noch eingehalten werden – aber nur dann, wenn alle anderen Hersteller wie geplant liefern und auch das deutsche Unternehmen Curevac noch eine Zulassung bekommt. Beides ist allerdings unsicher. Wird der Impfstopp nach einer Woche wieder aufgehoben, dann hätte das kaum Auswirkungen auf den Plan der Regierung, weil die rund 200.000 ausgefallenen Impfungen schnell nachgeholt werden können.
Welche anderen Impfstoffe werden zurzeit in welchem Umfang genutzt?
Bis einschließlich Montag wurden in Deutschland nach Angaben des Gesundheitsministeriums insgesamt 9,7 Millionen Impfdosen verimpft, davon 7,6 Millionen des Herstellers Biontech/Pfizer, 1,7 Millionen von Astrazeneca und 315.000 von Moderna. Damit haben 6,7 Millionen mindestens eine Erstimpfung erhalten. 2.9 Millionen Menschen wurden bereits vollständig geimpft.
Warum dauert das mit dem Impfstoff Sputnik V so lange?
Anfang Januar spricht Angela Merkel erstmals davon, mit Russland „gemeinsam Impfstoff gegen die Pandemie„ herzustellen. Am 21.Januar sagt sie, Voraussetzung sei die Zulassung durch die Europäische Arzneimittelagentur (EMA). Am 3. Februar sagt Gesundheitsminister Jens Spahn, es gebe Gespräche mit Moskau, um Produktionskapazitäten in Deutschland auszuloten. Die EMA teilt immer wieder mit, es liege kein Antrag der Russen vor, und Moskau tritt den Beweis des Gegenteils nicht an. Am 4. März heißt es bei der EMA, die Überprüfung von Sputnik V habe begonnen. Das wird Wochen dauern, ging auch bei den anderen Impfstoff-Herstellern nicht schneller.
Was sagen Experten zum Astrazeneca-Impfstopp?
„Das ist eine sehr unglückliche Situation, aber wenn so ein Verdacht im Raum steht, dann muss dem nachgegangen werden und solange muss die Impfung angehalten werden“, sagt der Marburger Virologe Stephan Becker. Das vermehrte Auftreten so seltener Thrombosen sei „selbstverständlich schon verdächtig und sollte untersucht werden„, sagte auch die Vakzinologin Anke Huckriede von der Universität Groningen. „Fakt bleibt aber, dass diese Thrombosen sehr selten beobachtet werden nach einer Impfung mit dem Astrazeneca-Vakzin, nach meinen bisherigen Informationen in deutlich weniger als 1 in 100.000 Geimpften.“
Weltärztepräsident Frank Ulrich Montgomery zieht den vorläufigen Stopp für Impfungen mit Astrazeneca in Zweifel. Er befürchtet einen Image-Schaden für das Vakzin. „Dass Menschen Thrombosen und Lungenembolien bekommen, muss nicht unbedingt etwas mit der Impfung zu tun haben“, sagte der Mediziner dem RND. Eine grundsätzliche Überprüfung der Vorfälle begrüßte er allerdings.Was ist eine Hirnvenen-Thrombose und wie wird sie behandelt?Hirnvenen-Thrombosen, auch Sinusvenen-Thrombosen genannt, sind Blutgerinnsel, die sich in den großen venösen Blutgefäßen im Gehirn bilden. Sie sorgen dafür, dass sauerstoffarmes Blut nicht mehr schnell genug aus dem Kopf in Richtung Herz transportiert werden kann. Damit steigt der Druck im Schädelinneren. Betroffene entwickeln häufig Kopfschmerzen, Krampfanfälle und neurologische Ausfallerscheinungen. Auch Schlaganfälle können daraus resultieren. Frauen sind der Deutschen Gesellschaft für Neurologie zufolge häufiger betroffen als Männer.
Eine Hirnvenen-Thrombose sollte so schnell wie möglich im Krankenhaus behandelt werden. Eine Form der Akuttherapie ist die Antikoagulation: Um einer Ausdehnung der Thrombose beziehungsweise einem neuen Gefäßverschluss vorzubeugen, erhalten Patienten den Wirkstoff Heparin. Dieser verhindert, dass das Blut im Körper gerinnt. Liegt zusätzlich eine Entzündung vor, kann diese mithilfe von Antibiotika behandelt werden.
Welche weiteren Nebenwirkungen sind bei Astrazeneca beobachtet worden?
Wegen 41 Berichten von Anaphylaxie-Fällen unter fünf Millionen Geimpften in Großbritannien erachtet die EMA diese schwere allergische Reaktion seit vergangener Woche offiziell als mögliche schwere Nebenwirkung, die gemeldet werden muss. Auch bei den mRNA-Impfstoffen von Biontech und Moderna kann diese in sehr seltenen Fällen auftreten. Wer geimpft wird, sollte deshalb 15 bis 30 Minuten unter ärztlicher Beobachtung bleiben.
Die häufigsten kurzweiligen Impfreaktionen als Zeichen der Immunantwort sind laut klinischer Astrazeneca-Studien: Druckempfindlichkeit und Schmerzen an der Injektionsstelle (rund 60 Prozent), Kopfschmerzen und Ermüdung (50 Prozent), Muskelschmerzen und Krankheitsgefühl (40 Prozent), Fiebrigkeitsgefühl und Schüttelfrost (30 Prozent), Gelenkschmerzen und Übelkeit (20 Prozent). Auch Erbrechen könne auftreten. Gelegentlich wurde über Lymphknotenschwellung, Juckreiz oder Hautausschlag berichtet.
Gibt es auch bei anderen Impfungen ein Thrombose-Risiko?
Im Zusammenhang mit den Corona-Impfstoffen von Biontech/Pfizer und Moderna ist bisher nicht über ein erhöhtes Thromboserisiko berichtet worden. Dies deckt sich mit den Ergebnissen der klinischen Studien. Eine Anfrage des RedaktionsNetzwerks Deutschland (RND) zu möglichen Fällen für Deutschland blieb vom PEI bis zum Redaktionsschluss unbeantwortet.
Die nach der Astrazeneca-Impfung beobachteten Hirnvenen-Thrombosen standen in Verbindung mit einem Mangel an Blutplättchen. Diese Blutplättchen-Knappheit zeigte sich auch bei den mRNA-Vakzinen. Sechs Fälle verzeichnete das PEI bisher: Fünf Personen hatten zuvor den Impfstoff von Biontech/Pfizer erhalten, eine das Vakzin von Moderna. Bei vier Fällen konnte die Impfung als Ursache jedoch ausgeschlossen werden. Eine Häufung von 15 Thromboembolien bei rund 6700 Geimpften trat in den klinischen Studien zu Johnson & Johnson auf. Ein kausaler Zusammenhang zwischen dem Vakzin und den Blutgerinnseln wurde nicht festgestellt.
Was sollten bereits Geimpfte beachten?
Das Paul-Ehrlich-Institut weist darauf hin, dass Personen, die den COVID-19-Impfstoff Astrazeneca erhalten haben und sich mehr als vier Tage nach der Impfung zunehmend unwohl fühlen – zum Beispiel mit starken und anhaltenden Kopfschmerzen oder punktförmigen Hautblutungen – unverzüglich zum Arzt gehen sollen.
Vom Impfstopp sind nicht nur die Erst- sondern auch die Zweitimpfungen mit dem Präparat von Astrazeneca betroffen. Diese Termine wurden ebenso bundesweit bis auf weiteres abgesagt. Wird der Impfstopp wieder aufgehoben, sollten in der Zukunft liegende Termine rückbestätigt werden. Bisher unklar ist das Vorgehen, sollten die Impfungen endgültig gestoppt werden. Eine Zweitimpfung mit anderen Impfstoffen ist jedenfalls bisher nicht vorgesehen, weil zur Wirksamkeit noch wissenschaftliche Erkenntnisse fehlen.
Ist es möglich, sich den Impfstoff auf eigenes Risiko spritzen zu lassen?
Ein derartiger Vorschlag kommt von den Grünen. „Eine Alternative wäre es, über das überschaubare Risiko ausführlich aufzuklären und weiterhin jene Menschen zu impfen, die eine Impfung mit Astrazeneca möchten“, twitterte der Grünen-Gesundheitspolitiker Janosch Dahmen. Ob das tatsächlich rechtlich möglich ist, ist allerdings stark umstritten. So ist zum Beispiel unklar, wo bei einem derartigen Vorgehen die Haftung liegt. Die gesundheitspolitische Sprecherin der Unions-Bundestagsfraktion, Karin Maag (CDU), machte darauf aufmerksam, dass Ärzte über das genaue Risiko von Thrombosen derzeit gar nicht ausführlich aufklären könnten, weil es überhaupt noch nicht bekannt sei. Das herauszufinden sei schließlich der Grund für den Impfstopp. Sie nannte den Vorschlag daher absurd. „Eine Handhabung frei nach dem Motto „Jeder der sich traut, wird auch geimpft“ wäre für das Vertrauen der Bevölkerung in die Sicherheit von Impfstoffen verheerend“, warnte sie.
Wie sehen der Koalitionspartner und Verbände die Entscheidung von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU)?
SPD-Fraktionsvize Bärbel Bas widersprach ihrem Parteikollegen Karl Lauterbach, der den Impfstopp als Fehler bezeichnet hat. „Das Paul-Ehrlich-Institut ist für die Sicherheit von Impfstoffen zuständig. Wenn es empfiehlt, Impfungen mit Astrazeneca auszusetzen, dann sollte man dem folgen„, sagte Bas dem RND. Schon jetzt sei allerdings ein immenser Vertrauensverlust gegenüber dem Impfstoff von Astrazeneca entstanden, der kaum noch zu beheben sei. „Ich erwarte nun transparente Aufklärung vom Bundesgesundheitsminister und klare Aussagen über die Risikobewertung - auch im Vergleich zum Risiko der Aussetzung der Impfung„, forderte sie.
Patientenschützer kritisierten das Vorgehen der Bundesregierung und warnten vor schwindendem Vertrauen angesichts der 180-Kehrtwende. „Vollgas, Kritik ignorieren, beschwichtigen und dann Vollbremsung. Diese simple Impf-Strategie der Bundesregierung führt zu Misstrauen bei den Impfwilligen„, sagte der Vorstand der Stiftung Patientenschutz Eugen Brysch dem RND. Der Bundesgesundheitsminister müsse endlich auf Transparenz setzen und Kritik ernst nehmen, betonte Brysch.