Die Heimat der Palästinenserinnen und Palästinenser ist ein politischer Flickenteppich. Wie unterscheiden sich die drei Palästinensergebiete Gaza, Westjordanland und Ostjerusalem? Wer hat jeweils die Macht? Wie kam es dazu? Und was macht die Sache so kompliziert? Ein Überblick.
PalästinensergebieteGaza, Westjordanland, Ostjerusalem – wo sind die Unterschiede?
Kaum ein Gebiet der Erde ist politisch und gesellschaftlich so verschachtelt, verworren und komplex organisiert wie das zerstückelte Gebilde, das die Heimat von etwas mehr als fünf Millionen Palästinenserinnen und Palästinensern ist. Es besteht heute aus drei Gebieten: dem Gazastreifen, dem Westjordanland und Ostjerusalem.
Wie kam es zu diesem Flickenteppich? Worin unterscheiden sich die einzelnen Gebiete? Der Versuch, diese Rätsel zu klären, führt auch zu einer Antwort auf die Frage, warum die Raketen auf Israel in diesen Tagen aus Gaza abgefeuert werden und nicht aus dem Westjordanland.
Ein kurzer Blick in die Geschichte: Die historische Region Palästina an der südöstlichen Mittelmeerküste umfasst ein Gebiet, auf dem sich heute der Staat Israel, der Gazastreifen, das Westjordanland, Teile Syriens und des Libanon sowie das Ostjordanland in Jordanien befinden. 3000 Jahre vor Christus, in der Bronzezeit, lebten hier die Kanaaniter – es ist das Volk, auf das sich die heutigen Palästinenserinnen und Palästinenser als ihre Vorfahren beziehen. In den folgenden Jahrhunderten herrschten hier die Israeliten, die Assyrer, die Babylonier, die Perser, Alexander der Große, die Ptolemäer, die Seleukiden, die Römer, die Byzantiner sowie muslimische Araber.
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Wem gehört das „Heilige Land“?
Im 11. Jahrhundert errichteten Kreuzfahrer vier christliche Staaten, wurden aber 1187 von den Sunniten besiegt. Mamluken regierten dann bis 1516, als osmanische Türken die Macht übernahmen. Bis 1917 gehörte Palästina zum Osmanischen Reich. Juden und Muslime erheben beiderseits Anspruch auf das „Heilige Land“. Es ist der fundamentale Konflikt, der allen Kriegen seither zugrunde liegt.
Die Gründung des Staates Israel: Im Ersten Weltkrieg eroberten britische Truppen 1917/18 Palästina. Das Land wurde britisches Mandatsgebiet. In mehreren jüdisch-zionistischen Einwanderungswellen stieg der jüdische Bevölkerungsanteil bis 1945 auf 30 Prozent. Großbritannien bekam den eskalierenden Konflikt nicht unter Kontrolle – und übergab das Gebiet den Vereinten Nationen. Am 29. November 1947 beschloss die UN-Generalversammlung dann, Palästina in einen arabischen und in einen jüdischen Staat aufzuteilen: Die 1,3 Millionen Palästinenserinnen und Palästinenser bekamen rund 43 Prozent des Gebiets zugesprochen, die damals knapp 600.000 Juden etwa 56 Prozent (zuvor waren 90 Prozent in palästinensischem Besitz). Am 14. Mai 1948 rief David Ben-Gurion den unabhängigen souveränen Staat Israel aus – nach arabischer Lesart „Al Nakba (die Katastrophe)“, nach jüdischer Lesart die Geburtsstunde eines sicheren Hafens für verfolgte Juden aus aller Welt drei Jahre nach dem Holocaust.
Abfolge ungezählter Kriege
Der Beginn der Eskalation: Nur elf Minuten nach der Ausrufung erkannten die USA den neuen Staat an. Und noch in der Gründungsnacht erklärten Ägypten, Saudi-Arabien, Jordanien, der Libanon, der Irak und Syrien dem neuen Staat den Krieg. Im ersten Palästina-Krieg 1948 setzte sich aber Israel durch. Die Waffenstillstands-Linien vom Frühjahr 1949 vergrößerten das ursprüngliche israelische Territorium von 14.100 auf 20.700 Quadratkilometer – heute das Kernland Israels. 750.000 Araberinnen und Araber wurden vertrieben oder flohen: 39 Prozent blieben in der damals jordanisch kontrollierten „West Bank“ (dem Westjordanland), 26 Prozent flohen in den von Ägypten annektierten Gazastreifen, 14 Prozent in den Libanon.
Am 29. Oktober 1956 begann die Suezkrise mit der israelischen Invasion des Gazastreifens und der Sinai-Halbinsel. Im Sechstagekrieg 1967 besetzten israelische Streitkräfte das Westjordanland, den Gazastreifen und Ostjerusalem. Israel begann vor allem in der „West Bank“ damit, jüdische Siedlungen zu errichten. Es folgte eine Abfolge ungezählter Kriege, Anschläge und Zusammenstöße vom Jom-Kippur-Krieg 1973 bis zur Ersten (1987) und Zweiten Intifada (2000, arabisch für „Abschüttelung“) mit mehreren Tausend Toten auf beiden Seiten, durchsetzt von Phasen der Hoffnung.
1993: Hoffnung auf Frieden
Während des Osloer Friedensprozesses 1993 keimte Hoffnung auf. Israel und die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) erkannten gegenseitig ihr Existenzrecht an. Die Fatah – der politische Arm der PLO – schwor dem Terrorismus ab. Man einigte sich auf einen stufenweisen Abzug der Israelis aus den 1967 besetzten Gebieten. 1996 fanden im Westjordanland, im Gazastreifen und in Ostjerusalem erstmals freie Wahlen statt. PLO-Chef Jassir Arafat wurde zum Präsidenten gewählt. Nach seinem Tod fanden 2005 erneut Präsidentschaftswahlen statt, die Mahmud Abbas gewann – bis heute der starke Mann in der Region, der seit 2011 von einem „Staat Palästina“ spricht.
Bei den bisher letzten Parlamentswahlen 2006 jedoch siegte die sunnitisch-islamistische Terrororganisation Hamas, die während der Ersten Intifada in den Achtzigerjahren entstanden war. Es kam zu einem blutigen innerpalästinensischen Machtkampf zwischen Hamas und Fatah. Alle Versöhnungsabkommen scheiterten. Die Hamas übernahm 2007 innerhalb von nur zwei Tagen die Macht in Gaza.
Seit diesem Bürgerkrieg sind die Autonomiegebiete nicht nur geografisch, sondern auch politisch zweigeteilt: Die Hamas kontrolliert den Gazastreifen, die gemäßigte Fatah das Westjordanland sowie Ostjerusalem. Und während die Fatah einen säkularen Palästinenserstaat im Westjordanland und Gaza schaffen will mit Ostjerusalem als Hauptstadt, will die stark vom Iran beeinflusste Hamas einen islamistischen Gottesstaat – und zwar auf dem gesamten Gebiet, einschließlich des Staates Israel.
DAS WESTJORDANLAND
Das Westjordanland ist mit 5800 Quadratkilometern etwa doppelt so groß wie Luxemburg. Von den rund drei Millionen Bewohnern des Gebiets sind etwa 2,5 Millionen Palästinenserinnen und Palästinenser und 430.000 Jüdinnen und Juden, die in gut 200 israelischen Siedlungen mit 132 Außenposten leben. Aus dem Gazastreifen dagegen hat sich Israel 2005 komplett zurückgezogen – Militärs wie Zivilisten. Fatah-Chef Mahmud Abbas regiert aus Ramallah, bewacht von einer 5000-köpfigen Elitetruppe, über einen verzweigten Flickenteppich einzelner Orte.
Nur 18 Prozent kontrollieren die Palästinenserinnen und Palästinenser selbst
Denn das Westjordanland ist in drei Zonen eingeteilt: Nur in Zone A (18 Prozent der Landfläche) hat die Autonomiebehörde das Sagen. Es sind vor allem die größeren Städte. In Zone B (20 Prozent) sind die Palästinenserinnen und Palästinenser für die Verwaltung und die Israelis für die Sicherheit zuständig, über Baugenehmigungen allerdings müssen die Israelis mitentscheiden. Zone C wiederum (62 Prozent) wird vollständig von Israel kontrolliert. Beide Seiten werfen sich vor, strategisch illegale Siedlungen zu errichten. Israel baute zudem ein eigenes Straßennetz zwischen den jüdischen Siedlungen auf, das für Palästinenserinnen und Palästinenser größtenteils gesperrt ist. Eisenbahnlinien oder Autobahnen gibt es weder im Westjordanland noch im Gazastreifen. Der öffentliche Verkehr wird mit Autobussen und Sammeltaxis abgewickelt. Palästinensischen Fahrzeugen ist die Einfahrt nach Israel und Ostjerusalem untersagt.
Schikanen und Einschränkungen sind Alltag im Westjordanland, etwa die Abholzung von Olivenhainen „aus Sicherheitsgründen“. Faktisch gibt es zwei Rechtssysteme – eines für die palästinensischen Bewohnerinnen und Bewohner und eines für die jüdische Siedlerbevölkerung. Eine eigene Währung gibt es nicht, Hauptzahlungsmittel sind der israelische Schekel und der US-Dollar. Seit der Einrichtung der Autonomiebehörde 1993 flossen mehr als 10 Milliarden US-Dollar an internationalen Hilfszahlungen in die palästinensischen Gebiete. Die EU war mit rund 2 Milliarden Euro in den vergangenen zehn Jahren der größte Geldgeber.
Anders als der Gazastreifen ist die Region also noch immer von Israel besetzt. Eine 700 Kilometer lange, teils acht Meter hohe und international umstrittene Sperranlage trennt Teile des Westjordanlandes von Israel ab. Im Westjordanland regieren damit (neben Israel) gemäßigtere, diplomatisch international verankerte und politisch eingebundene Palästinenserinnen und Palästinenser. Ganz anders in Gaza.
DER GAZASTREIFEN
Am Ostrand des Mittelmeeres liegt – angrenzend an Ägypten und Israel – der Gazastreifen, kontrolliert von der radikalislamischen Terrorgruppe Hamas. Sie lehnt anders als die Fatah im Westjordanland Friedensverhandlungen ab und will die Vernichtung Israels. Etwa zwei Millionen Menschen leben hier auf einer Fläche von nur etwa zehn Kilometern Breite und 41 Kilometern Länge. 99,3 Prozent davon sind palästinensische Araberinnen und Araber. Sie ist mit 5500 Menschen pro Quadratkilometer eine der am dichtesten besiedelten Regionen der Welt (in Israel liegt der Wert bei 400, in Deutschland bei 233).
Fast die Hälfte aller Bewohner ist jünger als 15 Jahre
Fast die Hälfte aller Bewohner sind Kinder und Jugendliche unter 15 Jahren. Und es wird immer enger in Gaza. Die Bevölkerung in den Autonomiegebieten hat sich seit 1950 mehr als vervierfacht. Bomben und Raketen sind tägliche Bedrohungen. Der Gazastreifen hat den Charakter eines Ghettos.
Seit der Machtübernahme durch die Hamas 2007 wird Gaza von Israel als „feindliches Gebiet“ eingestuft und fast völlig abgeriegelt. Israel kontrolliert alle Landzugänge sowie das angrenzende See- und Luftgebiet. Es gibt weder einen Hafen noch einen Flughafen. Zwischen Israel und Gaza bestand bis zur aktuellen Eskalation ein Übergang für Personen (Erez) und einer für Waren (Kerem Shalom/Sufa). Nach Ägypten gibt es einen Grenzübergang in Rafah, das Gebiet ist durchzogen von Tunnelsystemen zum Einschmuggeln von Gütern.
Armut und Gewalt sind bitterer Alltag. Die Mehrheit der Menschen ist auf Lebensmittelspenden angewiesen, fast 40 Prozent leben in Armut. Die Jugendarbeitslosenquote ist eine der höchsten der Welt. Die tägliche Not macht es der Hamas leicht, unter den zumeist jungen Gazabewohnerinnen und -bewohnern Nachwuchs zu rekrutieren. Strom, Treibstoff und selbst sauberes Wasser sind knappe Güter – das einzige (Diesel-)Kraftwerk in Gaza, das eine Leistung von 60 Megawatt hat, ist gerade abgeschaltet worden. Der Postversand in den Gazastreifen ist eingestellt. Der Hass auf Israel ist tief verwurzelt, auch als Schulstoff.
OSTJERUSALEM
Ostjerusalem umfasst die Altstadt Jerusalems und die östlich angrenzenden Bezirke einschließlich des Ölbergs. In dem Gebiet, dessen politischer Status hoch umstritten ist, liegen einige der heiligsten Stätten von Judentum, Christentum und Islam – darunter die Klagemauer, der Tempelberg mit dem Felsendom und der Al-Aqsa-Moschee sowie die Grabeskirche.
Von den gut 600.000 Einwohnerinnen und Einwohnern sind 360.000 palästinensische Araberinnen und Araber und 230.000 israelische Siedlerinnen und Siedler. Die Palästinenser lehnen den Anspruch der Israelis auf das Gebiet ab und berufen sich dabei auf mehrere Resolutionen der Vereinten Nationen, die den Rückzug Israels aus besetzten Gebieten fordern. Die von der Fatah kontrollierte Autonomiebehörde beansprucht nur Ostjerusalem als Hauptstadt eines zukünftigen Palästinenserstaates, die Hamas aus Gaza hingegen die gesamte Stadt.
Ein Schmelztiegel des gesamten Nahostkonflikts
Arabisch-palästinensischen Bürgerinnen und Bürgern Ostjerusalems ist es als „Ständigen Einwohnern“ erlaubt, sich innerhalb Israels zu bewegen. Sie bekommen dafür spezielle blaue ID-Karten. Dieser Status kann ihnen jedoch entzogen werden, wenn sie sich zu lange außerhalb Jerusalems aufhalten. Das System ist von Willkür und Gutdünken geprägt. So wurden Häuser abgerissen, deren Eigentumsrechte nicht zweifelsfrei geklärt waren, und immer mehr Palästinenser verlieren ihren Sonderstatus.
Die Region ist wie ein Schmelztiegel des gesamten Nahostkonflikts. Erst im Januar erschoss ein 21-jähriger palästinensischer Attentäter vor einer Synagoge in der Ostjerusalemer Siedlung Neve Yaakov sieben Menschen und verletzte drei weitere. Die Regierung kündigte daraufhin an, die israelischen Waffengesetze zu lockern – zum Selbstschutz von Zivilistinnen und Zivililsten. Auf die Frage, wie es zu einem Ende der Gewaltspirale kommen kann, hat bisher niemand eine Antwort. (RND)