Der Nahostkonflikt ist in Deutschland angekommen. Es herrscht eine hitzige Atmosphäre, immer wieder kommt es zu Ausschreitungen wie in Berlin-Neukölln – und die könnten erst der Anfang sein. Hamassympathisanten nutzen schon jetzt die Situation aus.
Krieg in IsraelEs brodelt auf Schulhof und Straße
Plötzlich kippt die Stimmung auf dem Richardplatz in Berlin-Neukölln. Ein Mann mit weißem Kopftuch und Gewand ergreift das Wort. Um ihn herum bildet sich eine Menschentraube. Mit jeder Sekunde wird er lauter. „Ich frage euch: Was wollt ihr noch sehen in dieser Welt? Reicht euch das nicht, dass ihr eure Augen öffnet?“, schreit er in den Abendhimmel: „Sie wollen uns unser Recht nehmen, dass wir unseren Mund öffnen. Sie wollen uns an der Leine halten und sagen: Sitz.“
Kurz darauf wird er von der Polizei in Gewahrsam genommen. Auch eine junge Frau wird abgeführt, nachdem sie ihre Solidarität mit Palästina zum Ausdruck gebracht hat. „Sie strahlen das Brandenburger Tor mit der Flagge von Israel an. Was ist das? Aber wir dürfen uns nicht versammeln? Das ist illegal? Das ergibt keinen Sinn“, sagt sie. Während ihrer Festnahme ruft ein Mann der Polizei hinterher: „Das ist rassistischer Terror.“
Die Polizei wirkt überfordert
Die Beamtinnen und Beamten setzen an diesem Mittwoch das Verbot einer propalästinensischen Demonstration um. Trotzdem haben sich in Neukölln Hunderte Menschen versammelt, um sich mit Palästina zu solidarisieren. Personen mit palästinensischen Flaggen, Ketten, T-Shirts oder Tüchern werden aufgefordert, diese zu verstecken oder einzupacken. Dann sollen sie den Platz verlassen. Weitere Zwischenfälle gibt es nicht. Und trotzdem wird deutlich: Die Situation in Deutschland ist nach dem Kriegsausbruch in Israel angespannt.
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Später auf dem Hermannplatz wird es noch ruppiger: Die Polizei wirkt überfordert und holt immer wieder Einzelne aus der Menge, aus der „Free Palestine“-Sprechchöre zu hören sind und immer wieder auch „From the river to the sea“, ein Slogan, der gegen die Existenz Israels gerichtet ist.
Bereits am vergangenen Wochenende ist die Lage in Neukölln eskaliert. Bei vielen Demonstrationsteilnehmern soll es sich um Mitglieder der Samidoun, einer Vorfeldorganisation der palästinensischen Terrorgruppe PLFP, gehandelt haben. Eine breite Mehrheit der im Bundestag vertretenen Parteien forderte daraufhin ein Verbot mehrerer palästinensischer Organisationen in Deutschland. Bundeskanzler Olaf Scholz kündigte in seiner Regierungserklärung am Donnerstag an, dass das Innenministerium ein Betätigungsverbot für die Hamas in Deutschland erlassen werde.
Die prekäre Situation zeigt sich aber nicht nur in der deutschen Hauptstadt, sondern auch in anderen Städten. Beispielsweise in Duisburg, wo die Polizei am Montagabend zwei Teilnehmer einer Pro-Palästina-Demo in Gewahrsam genommen hatte. Sie leisteten Widerstand und versuchten, Gefangene zu befreien. Auch in München ist es am Montag zu Ausschreitungen bei einer propalästinensischen Demo gekommen. Ein Teilnehmer ist von den eingesetzten Beamten wegen Volksverhetzung und Beleidigung angezeigt worden.
In Stade hat eine Gruppe junger Männer am Mittwochabend versucht, eine Israel-Flagge am Rathaus der Stadt herunterzureißen. In Chemnitz stürmten ebenfalls am Mittwochabend zwei junge Syrer in eine Pro-Israel-Demo und entrissen einem Mann eine Israel-Flagge. Später zeigte ein 42-jähriger Deutscher neben der Demo den Hitlergruß.
Doch nicht nur auf den Straßen brodelt es – auch in Schulen kommt es seit dem Angriff der Hamas auf Israel immer wieder zu Vorfällen.
Am Montag etwa ereignete sich eine Schlägerei zwischen einem Schüler und einem Lehrer in Neukölln. Ein 14-Jähriger soll mit einer Palästina-Flagge und einem Palästinensertuch zum Unterricht erschienen sein, woraufhin der Lehrer ihm das Tragen politischer Symbole verbieten wollte. Laut Polizei griff ein 15-Jähriger ein, versetzte dem Beamten einen Kopfstoß und trat ihn. Der Lehrer soll sich daraufhin gewehrt und den Schüler geschlagen haben.
Welle der Empörung
Doch damit nicht genug: Der Vorfall am Ernst-Abbe-Gymnasium löste eine Welle der Empörung bei der Elternvertretung aus. Für Mittwoch plante sie eine Kundgebung vor der Schule. Sie vertritt den Standpunkt, dass die Gewalt vom Lehrer ausgegangen ist. Aufgrund von Sicherheitsbedenken ist die Demonstration allerdings abgesagt worden. Trotzdem versammelten sich etwa 40 Personen, darunter Schülerinnen, Schüler und Eltern, vor der Schule.
Die Atmosphäre an diesem Vormittag ist angespannt. Mehrere Personen liefern sich hitzige Streitgespräche mit Polizisten. „Es geht sogar so weit, dass unsere Kinder geschlagen werden wegen einer Flagge“, ruft eine aufgebrachte Frau. Vereinzelt sind Palästinensertücher zu sehen. Als zwei Frauen eine Fahne herausholen, greift die Polizei ein. Nur unter Protest verstauen sie sie in einem Kinderwagen. Der Aufforderung, sich an das Versammlungsverbot zu halten und den Bereich vor der Schule zu räumen, kommen die Demonstrierenden nur bedingt nach. Sie ziehen rund 20 Meter weiter und lassen sich vor einem Friseursalon nieder. Dort skandieren sie mehrfach: „Free, free Palestine.“
Auch Flyer werden verteilt. In diesen werde „zu Gewalt und zu einem Befreiungskampf aufgerufen“, sagte ein Polizeisprecher dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Vereinzelt kommt es auch zu Festnahmen. Eine Frau ruft mit lauter Stimme: „Ich bin festgenommen, weiß aber nicht, warum.“
Auch radikale Gruppen nutzen die Schulkundgebung, um ihre Agenda zu verbreiten. Und ihnen geht es nicht mehr um den Vorfall auf dem Schulhof, sondern um Propaganda. Ebenfalls vor Ort ist eine Sprecherin von Zora Deutschland, laut Eigenbezeichnung eine „unabhängige, antikapitalistische junge Frauenorganisation“. Sie brüllt die versammelten Schülerinnen und Schüler geradezu an. „Unser Widerstand ist legitim. Für unsere Brüder und Schwestern, die seit 75 Jahren abgeschlachtet werden.“ Die Kinder und Jugendlichen halten ihre Handys auf die junge Frau.
Überforderung rächt sich
Erst nach einer erneuten Aufforderung und der Androhung von polizeilichen Maßnahmen löst sich die verbotene Versammlung auf. Auch sie hat gezeigt, was aktuell auf Deutschlands Straßen los ist. Was zudem auffällt: Es sind viele junge Menschen beteiligt, vor der Schule, aber auch auf dem Richardplatz in Neukölln. Volljährig sind die meisten von ihnen nicht. Es sind vor allem auch sie, die sich Diskussionen mit der Polizei liefern. Sie können nicht verstehen, warum ihre propalästinensischen Gegenstände nicht erlaubt sind. „Wenn ich jetzt eine Ukraine-Flagge dabeihätte, wäre es okay, oder was?“, fragt ein Mädchen einen Beamten mit energischer Stimme. Ein Mann echauffiert sich ebenfalls über das Verbot. „Wir dürfen nicht mal Demos in einem demokratischen Staat machen“, ruft er in die Menge.
Nun rächt sich, dass viele Schulen gerade in Brennpunkten überfordert waren, wie sie mit dem Nahostkonflikt und den Auseinandersetzungen unter Schülerinnen und Schülern umgehen sollen. Cordula Heckmann, gerade pensionierte Schulleiterin der Neuköllner Rütli-Schule, hat das Thema offensiv angenommen. Es gab einen Kurs „Glauben und Zweifeln“ in der Oberstufe, einen speziellen Kurs zum Nahostkonflikt in der Mittelstufe und Klassenreisen nach Israel. Heckmann wirbt dafür, auch in der aufgeheizten Stimmung auf Dialog zu setzen: „Wenn es eine breite Solidarisierung mit Terroristen gibt, müssen wir dem entschlossen entgegentreten“, sagt sie dem RND, „nicht, indem wir verdammen, sondern, indem wir mutig, klar und sachlich unsere Argumente vortragen.“ Lehrer und Lehrerinnen müssten mit den Familien der palästinensischen und arabischen Kinder und Jugendlichen ins Gespräch kommen. Die Lehrerin hat das viele Jahre getan. „Und das sind schwierige Gespräche, wirklich“, sagt sie. „Aber wir müssen sie führen. Ich wüsste nicht, was die Alternative ist.“
Keine Entspannung in Sicht
Dass sich die Lage in den kommenden Tagen entspannen wird, glaubt niemand. Im Gegenteil. Für diesen Freitag rief die Hamas Muslime in der ganzen Welt zu Unterstützungsaktionen auf. Könnte dieser Aufruf die Gewalt auch nach Deutschland tragen?
Mitten in Neukölln hat die jüdische Studierendengemeinde Hillel ihren Sitz. „Wir sind angewidert, verängstigt und verletzt“, schreibt ihre Rabbinerin Rebecca Blady über den Verteiler der Gemeinde – wegen der Grausamkeit der Hamas und auch wegen jener, die dieses Grauen in Berlins Straßen feiern. Für die anstehende Sabbatfeier haben sie den privaten Sicherheitsdienst verstärkt und sind in stetem Austausch mit der Berliner Polizei.
Ein Polizeisprecher teilt mit, der Aufruf der Hamas sei bekannt und man bereite sich darauf vor.
Der Präsident des Bundeskriminalamtes (BKA), Holger Münch, sagte dem RND: „Wir rechnen damit, dass der Aufruf einen Widerhall findet.“ Allein für das Wochenende sind in Berlin Hamburg, München, Kassel, Duisburg, Köln und weiteren Städten Palästina-Demos angemeldet. Es gehe für die Polizei vor allem darum, die Grenzen solcher Demonstrationen klar zu ziehen, sagt Münch: „Natürlich ist es erlaubt, für das Schicksal von Israelis und Palästinensern Mitgefühl zu zeigen oder zu protestieren. Wenn das Ganze aber missbraucht wird für terroristische Propaganda, dann sind Grenzen nicht nur des Strafrechts überschritten. Dann heißt es auch, solche Versammlungen zu unterbinden.“ Der Schutz jüdischer Einrichtungen, versichert Münch, laufe „in ganz Deutschland auf einem erhöhten Niveau“.
Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, warnt Hamassympathisanten in Deutschland „in den deutlichsten Worten: Die deutschen Sicherheitsbehörden haben Sie fest im Blick. Jüdische Einrichtungen werden umfassend geschützt. Verfassungsfeinde werden beobachtet. Wer dem Aufruf folgt, Hass und Hetze verbreitet und jüdisches Leben bedroht, der wird die volle Härte unserer Gesetze spüren.“ (RND)