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„Typisch für Russlands Kriegsführung“Welche Ziele Russland mit der Zerstörung des Staudamms verfolgen könnte

Lesezeit 5 Minuten
Dieses vom ukrainischen Präsidialamt über AP veröffentlichte Videostandbild zeigt Wasser, das durch einen Durchbruch im Kachowka-Staudamm fließt.

Dieses vom ukrainischen Präsidialamt über AP veröffentlichte Videostandbild zeigt Wasser, das durch einen Durchbruch im Kachowka-Staudamm fließt.

Russland hat am Dienstag den wichtigsten Staudamm in der ukrainischen Region Cherson gesprengt und damit eine große Überflutung ausgelöst.

Gnadenlos bricht sich das Wasser Bahn, frisst sich Kubikmeter um Kubikmeter durch die Überreste, die einmal der Kachowka-Staudamm gewesen waren. „Der Wasserstand des Stausees sinkt jetzt schnell und die Trinkwasserversorgung vieler Städte ist gefährdet“, so András Rácz, Militärexperte bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Auch die Wasserversorgung auf der Krim sei in Gefahr.

Am Dienstagmorgen wurde die Staumauer und das Wasserkraftwerk im vom Russland besetzten Teil Chersons zerstört. Die Ukraine macht für die Explosionen Russland verantwortlich. Der Kreml sprach von ukrainischer Sabotage, ohne Beweise dafür vorzulegen. Das Wasserkraftwerk, seit Monaten von Russland besetzt, war vor dem Krieg für die Stromerzeugung von großer Bedeutung. „Es wird Jahre dauern, bis es wiederaufgebaut ist“, sagt Rácz dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).

Dramatische Konsequenzen für Bevölkerung erwartet

Die Konsequenzen für die Zivilbevölkerung werden dramatisch sein, fürchtet Gustav Gressel, Militärexperte des European Council on Foreign Relations (ECFR). „Das wird für die Menschen vor allem in den Sommermonaten sehr schlimm.“ Die militärischen Einrichtungen auf der Krim würden durch mobile Wassertanks versorgt, die Zivilbevölkerung zeitnah evakuiert. „Wir sehen bereits, dass politische Gefangene von der Krim auf das russische Hinterland verlegt werden“, so Gressel.

Eine Reparatur des Staudammes sei nicht möglich, so der von Russland eingesetzte Bürgermeister von Nowa Kachowka im russischen Staatsfernsehen. Auch der ukrainische Kraftwerksbetreiber sprach von einer kompletten Zerstörung der Anlage. Bilder zeigen, dass die Staumauer auf etwa 300 Meter zerstört wurde. Laut Simulationen für einen solchen Fall ist eine Flutwelle von vier bis fünf Metern die Folge, die auf den Hafen von Cherson zurollt.

Neben dem Wasserkraftwerk ist auch das bereits heruntergefahrene Atomkraftwerk Saporischschja auf Kühlwasser aus dem Stausee angewiesen. Das Kraftwerk war zuletzt unter russischer Kontrolle und auf einen der höchsten Stände seit langem aufgestaut. Die Internationale Atomenergiebehörde IAEA sprach am Dienstag jedoch von „keinem unmittelbaren nuklearen Sicherheitsrisiko“. Experten der Behörde am Atomkraftwerk Saporischschja würden die Situation überwachen, teilte die IAEA mit.

Evakuierung in Cherson läuft

Nach Angaben der Ukraine War Environmental Consequences Working Group, die mögliche Folgen des Krieges einschätzt, könnte eine vollständige Zerstörung der Staumauer dazu führen, dass kein Kühlwasser mehr für das Atomkraftwerk Saporischschja zur Verfügung steht. Ähnlich schätzt das auch Experte Rácz ein.

Das Kernkraftwerk Saporischschja habe zwar ein eigenes Becken für Kühlwasser, sodass die Kühlung der stillgelegten Kraftwerksblöcke gewährleistet sei. „Wenn die Flutwelle aber die Mauern des Beckens beschädigt, verliert es nach und nach Kühlwasser“, sagt Rácz. Das ukrainische Außenministerium bestätigte die Gefahr eines Zwischenfalls infolge des zerstörten Staudamms. Weil das Wasser des Stausees in hoher Geschwindigkeit flussabwärts fließt, befinden sich tausende Anwohner in Lebensgefahr.

Erste Orte in der Region Cherson wurden schon am Vormittag überflutet. Stark betroffene Gebiete sind vor allem das russisch besetzte Ufer. Dort befinden sich zwar auch Posten der russischen Armee, die nun unter Wasser stehen. „Das sind aber keine wichtigen Stellungen“, macht Gressel deutlich. Diese würden sich viel weiter östlich befinden und seien voraussichtlich gar nicht von einer Überflutung betroffen. Bis zu 80 Ortschaften sind der ukrainischen Regierung zufolge durch die Überschwemmungen bedroht, wie Ministerpräsident Denys Schmyhal am Morgen mitteilte. Auf ukrainischer Seite läuft deshalb ein Notfallplan.

Russland sichert seine Westflanke

Die Bevölkerung in ersten Städten, wie in Nikopol, ist aufgerufen Trinkwasserreserven anzulegen. Zivilisten aus den tiefer gelegenen Gebieten am Dnipro werden vom Katastrophenschutz mit Bussen evakuiert. Die staatliche russische Nachrichtenagentur RIA meldete, dass 22.000 Menschen in 14 Ortschaften im Süden der Region von Überschwemmungen bedroht seien. Russland hatte Cherson für annektiert erklärt, kontrolliert aber nur Teile der Region.

Nach Angaben des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes in der Ukraine gehöre der zerstörte Staudamm und die Folgen zu den größten Schäden an der zivilen Infrastruktur seit Februar 2022. Die Organisation betonte, dass Staudämme durch das Völkerrecht besonders geschützt sind und kritisiert, dass sich Zehntausende Menschen in Lebensgefahr befinden. Laut Experte Rácz verfolgt Russland mit dem zerstörten Staudamm primär militärische Ziele: „Die Russen haben durch die Sprengung des Staudamms ihre Westflanke gesichert.“

Russland verübe mit der Überschwemmung zwar auch Terror gegen Zivilisten, aber die Sprengung folge vor allem aus militärischer Logik: „Die Ukraine kann jetzt nicht mehr von Westen die besetzten Gebiete angreifen – nicht einmal mit Spezialkommandos.“ Dieser Schritt sei typisch für Russlands Art der Kriegsführung. „Das massive Hochwasser macht jede Art von Militäroperation am Dnipro unmöglich“, so Rácz. Die ukrainischen Spezialeinheiten auf der anderen Seite des Flusses müssten jetzt sehr schnell ihre Positionen verlassen, denn das überflutete Gebiet werde zu einer großen und unüberwindbaren natürlichen Barriere.

„Wir kennen die Pläne für die Gegenoffensive der Ukraine nicht. Aber, wenn die Ukraine irgendeine Offensive am Dnipro geplant hat, haben die Russen diese Pläne jetzt zunichtegemacht“, sagt Rácz. Die Sprengung des Staudamms sei ein klassischer Verteidigungszug, den es in der Geschichte der Kriegsführung schon häufig gegeben habe, um die Offensive des Angreifers zu behindern. Für Russland bedeute das vor allem Zeit, erklärt der DGAP-Militärexperte. Selbst wenn der Wasserpegel sinke, dauere es noch Wochen, bis das Gebiet trocken sei.

Ukraine fordert Konsequenzen für russischen „Terroranschlag“

Ähnlich sieht das auch Gustav Gressel: „Ein Angriff über den Dnipro wäre schon vor der Zerstörung ein reines Himmelfahrtskommando gewesen, weil die Russen dort viele Reserven haben“, sagt Gressel dem RND. „Ein Anlanden über den Dnipro erfordert viele Kräfte und ist sehr komplex.“ Die ukrainischen Streitkräfte hätten laut Gressel wahrscheinlich erst vom Dnipro aus angegriffen, wenn die Gegenoffensive schon im Gang gewesen wäre.

Damit hätten sie die Russen zum Rückzug zwingen und durch einen solchen Ablenkungsangriff russische Reserven binden können. „Von solchen amphibischen Operationen sind wir aber mindestens einen Monat entfernt“, sagt Gressel. Die Ukraine forderte Russland für den „Terroranschlag“ zur Rechenschaft zu ziehen und aus dem UN-Sicherheitsrat auszuschließen.

Bundeskanzler Olaf Scholz sagte, die Zerstörung des Staudamms reihe sich ein „in viele, viele der Verbrechen, die wir in der Ukraine gesehen haben, die von russischen Soldaten ausgegangen sind.“ Er sprach von einer „neuen Dimension“ der Kriegsführung. Die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), sagte dem RND: „Dieser Angriff Russlands auf den Kachowka-Stausee ist ein weiteres unvorstellbar grauenhaftes Kriegsverbrechen.“ Es zeige einmal mehr, zu welch brutalem Vorgehen Putin bereit ist. „Es beweist auch: Dieses Regime will niemals verhandeln.“