Der Erziehungswissenschaftler Miguel Zulaica y Mugica fordert eine konstruktive Streitkultur an Schulen – auch bei Nahostkonflikt und AfD.
„Dürfen nicht neutral sein“Wie Lehrkräfte mit politischen Konflikten im Unterricht umgehen sollten
Der Nahostkonflikt eskaliert zurzeit. Das bekommen auch die Schülerinnen und Schüler hierzulande mit. Verändert sich dadurch nun das Klima auf deutschen Schulhöfen?
Zulaica y Mugica: Aus den Daten der letzten Jahre können wir sehen, dass Kontroversen, auch bezogen auf Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit, bedeutsam sind in der Schule. Und man kann vermuten, dass sie jetzt noch einmal bedeutsamer werden.
Sollten Schulen solche polarisierenden Themen bewusst ansprechen oder eher ausklammern, um Schülerinnen und Schüler nicht zu überfordern?
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Schulen werden nicht drum herumkommen, das Ganze sachlich bearbeitbar werden zu lassen. Das ist der Anspruch und den sollte Schule einlösen. Ich kann durchaus verstehen, wenn Lehrpersonen in der akuten Situation erst einmal zurückhaltend sind. Aber Politisierung macht nicht halt vor der Schule.
Wie sollten sich denn Lehrkräfte verhalten, wenn sich zum Beispiel Schülerinnen und Schüler extremistisch äußern?
Wichtig ist, solche Aussagen, die mit der Verfassung nicht übereinstimmen oder die in irgendeiner Weise menschenfeindlich sind, als solche auch zu kennzeichnen. Nicht nur für den Schüler oder die Schülerin, die das sagt, sondern auch für die anderen, also das Publikum. Tolerieren ist nicht sinnvoll, wie wir aus der sozialen Arbeit wissen. Hier hat man eine Zeitlang einen solchen Umgang mit Rechtsextremismus gepflegt. In Jugendeinrichtungen etwa hat man solche Äußerungen toleriert, um überhaupt an diese Jugendlichen heranzukommen. Diese Räume allerdings wurden dann oft von rechtsextremen Gruppen übernommen. Darum muss Schule als demokratische Institution sichtbar werden und Orientierung bieten.
Und nicht neutral sein, wie es zum Beispiel die AfD immer wieder fordert?
Die AfD hat einen Neutralitätsbegriff, der sie schützen soll. Über solche Neutralitätsforderungen an Schulen versuchen rechtsgerichtete Parteien in verschiedenen Ländern, demokratisches Handeln zu untergraben, weil eben bestimmte Werte nicht mehr vermittelt werden oder Auseinandersetzungen mit der Geschichte nicht mehr stattfinden sollen.
Welche Gefahr birgt eine neutrale Schule?
Bestimmte Aussagen könnten salonfähig werden. Denn wenn Dinge unwidersprochen bleiben, bekommen sie eine bestimmte Legitimität, weil Schule ein Ort des Wissens ist. Schule hat auch eine Orientierungsfunktion. Wenn Lehrpersonen zum Beispiel gehemmt sind, bestimmte Grenzen aufzuzeigen, werden Positionen im Gespräch legitim, die vielleicht menschenfeindlich, rassistisch oder antisemitisch sind. Das würde die Bedingungen einer demokratischen Streitkultur untergraben. Und das ist ja auch das Kalkül hinter der Forderung, Schule müsse neutral sein.
Auch ein Lehrer sollte nicht neutral sein?
Eine Lehrperson ist nie eine neutrale Person. Und Lehrerinnen und Lehrer dürfen auch gar nicht neutral sein. Es gibt auch kein Neutralitätsgebot. Das ist eine Fehlinterpretation des Beutelsbacher Konsens, der die Grundsätze für die politische Bildung bildet. Dieser umfasst drei Prinzipien: das Überwältigungsverbot, das Kontroversitätsgebot und die Schülerorientierung.
Lehrkräfte dürfen also ihre Meinung sagen?
Sie müssen sich im Kontext der demokratischen Ordnung bewegen und die normativen Grundlagen der Demokratie akzeptieren und verkörpern. Das ist ihr Auftrag. Aber zu einer Demokratie gehört eben eine Perspektivenvielfalt. Das heißt, Lehrpersonen dürfen ihre Meinung nicht derart vertreten, dass Schülerinnen und Schüler aufgrund der emotionalen Überwältigung diese bestimmte Position bejahen. Für sie müssen die verschiedenen legitimen Positionen im demokratischen Raum sichtbar werden, damit sie sich orientieren und selbst Urteile fällen können. Was wiederum nicht heißt, demokratiefeindliche und menschenverachtende Positionen gleichrangig zu behandeln.
Wie stark darf die eigene Meinung des Lehrers zur Geltung kommen?
Lehrpersonen werden die eigene Haltung nie ganz ausblenden können, sie wird immer durchschimmern. Trotzdem müssen sie den Unterricht so konzipieren, dass im Rahmen der Verfassung verschiedene wissenschaftlich legitime und politisch normativ legitime Positionen deutlich werden. Ideal wäre es, wenn Schüler und Schülerinnen im Unterricht dazu aufgefordert werden, nicht die Position der Lehrperson zu übernehmen, sondern sich selbst mit Begründungen politisch zu positionieren.
Wie kann man ganz konkret Schülerinnen und Schülern politisches Denken beibringen?
Das geht über die Auseinandersetzung mit Kontroversen. Nur muss man hier methodisch vorgehen. Man kann mit Schülerinnen und Schülern erarbeiten, was die Kontroverse beinhaltet oder auch wie diese historisch entstanden ist. Darüber können Fragen herausgearbeitet werden, die verschiedene Positionen und damit auch eine Streitkultur deutlich machen, die wiederum einen produktiven Beitrag zum Zusammenleben leistet.
Das heißt, wir müssten Streit an Schulen kultivieren?
Ja. Denn Streit ist erst einmal gar nicht negativ, sondern ein Teil von Demokratie. Sobald man nicht mehr streitet, geht es in Feindschaft über. Aber solange man noch streitet, erkennt man die andere Person an. Es gehört zu den Bedingungen des Streits, dass man andere ernst nimmt und die eigene Position reflektiert. Streit setzt eine demokratische Kultur voraus.
Wie sieht eine gute Streitkultur in der Schule aus?
Wichtig ist, dass Schülerinnen und Schüler angeleitet werden, Argumente zu formulieren, zu konkretisieren, aber auch Debatten zu führen. Dazu gibt es unterschiedliche Methoden und Projekte. Aber eine grundsätzliche Debattenkultur wäre gut. Dazu bräuchten Schülerinnen und Schüler aber auch den Raum, um an verschiedenen Stellen miteinander zu diskutieren.
Und wo liegen die Grenzen einer demokratischen Streitkultur?
Die Grenzen einer demokratischen Streitkultur liegen dort, wo menschenfeindliche Aussagen getätigt werden, die zum Beispiel die physische Integrität von Personen infrage stellen, die Ressentiments und Stereotypen reproduzieren oder die historisch zu Massenmord und ethnischen Säuberungen geführt haben. Diese Grenzen müssen markiert werden. Schule muss aber auch die Gründe für die Schülerinnen und Schüler nachvollziehbar machen, warum es diese Grenzen gibt. Das entspricht ihrem Bildungsauftrag.