Bildungserhebungen wie die Pisa-Studie stellen Schülerinnen und Schüler unter Generalverdacht. Dabei liegen viele Probleme bei den Lehrkräften.
Gastbeitrag zu ZeugnissenKinder wollen etwas leisten – man muss es ihnen nur zutrauen

Am Freitag (26. Januar) erhalten die Schülerinnen und Schüler in NRW ihr Halbjahreszeugnis für das laufende Schuljahr 2023/24.
Copyright: dpa
Die deutschen Schülerinnen und Schülertun mir leid. Immer wieder bekommen sie - zuletzt durch die Pisa-Studie - ein schlechtes Zeugnis ausgestellt. Für 2022 fiel es besonders mies aus. Kein Wunder nach der Pandemie. Wie schon bei früherer Gelegenheit rauschte es einige Zeit im Pressewald, Doktor Hinz oder Professorin Kunz boten ihre Analysen der Misere feil. Und das Ende vom Lied: hier der Ruf nach weiteren Kommissionen, da nach neuen Konzepten, dort nach tiefergehender Forschung.
Dabei wird das Problem ziemlich aufgebauscht. Die Niveau-Unterschiede zu vielen anderen Ländern sind gar nicht sonderlich groß. Deutschland liegt immer noch im Weltdurchschnitt. Und wäre die große Gruppe der Zuwandererkinder sprachlich früher und gründlicher gefördert worden, hätte Deutschland sogar eine weit überdurchschnittliche Platzierung erreicht, auf einer Stufe mit Kanada.
Aber offenbar hat man die 26 Prozent Kinder aus Zuwandererfamilien vernachlässigt, die man eigentlich erst in die Regelschule lassen dürfte, wenn sie die Unterrichtssprache einigermaßen beherrschen.
Schülerinnen und Schüler unter Generalverdacht
Das Fatale am Pisa-Hype ist aber vor allem: Studien dieser Art bringen Schülerinnen und Schüler samt und sonders unter Generalverdacht. Tatsächlich liefern sie nur Durchschnittswerte – und die besagen relativ wenig. Insbesondere offenbaren sie keinerlei Gründe dafür, warum bestimmte Bundesländer besser und andere schlechter abgeschnitten haben. Mittlerweile erfährt man sogar nicht einmal mehr, ob Fünfzehnjährige in Bayern oder Sachsen weiterhin so viel effektiver unterrichtet werden wie in früheren Jahren.
Kurioserweise heißt das aber keineswegs, dass wir uns nun zufrieden zurücklehnen könnten – im Gegenteil. Viele deutsche Schüler lernen tatsächlich zu wenig in der Schule - nur eben nicht alle. Man müsste genauer hinsehen und hinhören: Wo genau müssen Lehrkräfte die Klassenarbeiten immer einfacher machen, damit sie einen halbwegs akzeptablen Notenschnitt hinkriegen? Wo klagen die Meisterbetriebe darüber, dass Auszubildende kaum die Grundrechenarten beherrschen? Wo müssen Universitäten welche Stützkurse einrichten, damit angeblich hochschulreife junge Menschen überhaupt der Anfängervorlesung folgen können?
Viele Lehrer praktizieren eine Art Gefälligkeitsdidaktik
Fragt man die Macherinnen und Macher vor Ort, dann brauchen die keine weiteren Studien. „Die Schüler tun einfach nix.“ Gemeint ist: Viele strengen sich weit unter ihren Möglichkeiten an. Und warum ist das so? „Na, die kommen doch auch für lau ganz gut durch!“ Gemeint ist: Mittlerweile gibt es derart viele Lehrplankürzungen, Ausgleichsbestimmungen und Härtefallregelungen, dass man sich als Schüler schon ganz schön dumm anstellen muss, um nicht versetzt zu werden, die Schule wechseln zu müssen oder einen schlechten Abschluss zu bekommen. Würde man weiter bohren, erführe man auch: Viele Lehrer sind zu wenig fordernd geworden, praktizieren eine Art Gefälligkeitsdidaktik, säuseln „könntet ihr vielleicht…“.
An dieser Stelle nun muss John Hattie in den Zeugenstand. Der neuseeländische Wissenschaftler hat nicht nur die weltweit größte Datenbasis zu Unterrichtseffekten zusammengetragen, sondern die empirische Forschung hierzulande überhaupt salonfähig gemacht. Kernaussage seines jüngsten Werks „The Sequel“ (Die Fortsetzung“) auf der Datenbasis von 400 Millionen Schülern weltweit: „Das Wichtigste für Lehrkräfte ist, hohe Erwartungen zu haben.“
Ein anspruchsvolles Lernklima reißt auch Lustlose mit und bringt sie weiter
Hohe Erwartungen, wieso soll es gerade das jetzt bringen? Weil Kinder etwas leisten wollen. Man muss es ihnen nur zutrauen, sie gut unterstützen – und ihnen die zugehörigen Mühen getrost zumuten. Wir sollten Lehrkräfte deshalb vor allem dabei unterstützen, dass sie vollen Einsatz von ihren Schülern verlangen – beim Aufpassen und Mitmachen im Unterricht, beim Erledigen von Übungen oder auch Hausaufgaben. Und dass sie Wortbeiträge und Textarbeiten auf eine ernst zu nehmende Weise beurteilen - also Befriedigendes nicht sehr gut nennen, und Ungenügendes nicht gerade noch ausreichend. Ein anspruchsvolles Lernklima reißt auch Lustlose mit und bringt sie weiter.
Hohe Erwartungen stellen, das ist eine Frage der Mentalität, kein Problem der Ausstattung, keines von „zu wenig Digitalisierung“. Es geht – bei aller Freundlichkeit im pädagogischen Umgang – um Ehrlichkeit und innere Unabhängigkeit der Lehrerschaft. Ob da aber Kultusbehörden mitziehen, denen vor allem an hohen Abiquoten gelegen ist? Und Eltern, die das Lebensglück ihrer Sprösslinge ausschließlich an der Uni sehen?
Der Autor
Michael Felten arbeitet nach langem Lehrerleben als freier Schulentwicklungsberater in Köln. Im Verlag Reclam erschien 2020 sein Buch „Unterricht ist Beziehungssache“.