Christoph Biermann im Interview„Union Berlin hat etwas Guerillahaftes“
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Berlin – „11 Freunde“-Journalist Christoph Biermann hat Union Berlin, den kommenden Gegner des 1. FC Köln, ein Jahr lang begleitet. Von seinen Erlebnissen schildert Biermann im Buch „Wir werden ewig leben: Mein unglaubliches Jahr mit dem 1. FC Union Berlin“.
Herr Biermann, Sie haben Union Berlin in der ersten Bundesliga-Saison als Mitglied im Trainerteam begleitet. Was ist das Besondere am Verein aus dem Osten der Hauptstadt?
Zum einen, dass es ein Ost-Klub ist. Nicht nur geografisch. Auch die handelnden Personen des Vereins wie Präsident und Aufsichtsrat haben eine DDR-Biografie. Viele sind nach 1989 erfolgreiche Ost-Unternehmer geworden. Obwohl sie als Fan fühlen, ist die Vereinsspitze professionell genug, um den Klub wie ein Familienunternehmen zu führen. Das schimmert immer wieder durch.
Was für ein Typ ist Trainer Urs Fischer? Wie lässt sich sein Spielstil beschreiben?
Urs Fischer ist vor allem Pragmatiker. Es gibt zwei Möglichkeiten für einen Trainer: Er hat ein Konzept, wie Fußball gespielt werden muss und setzt das unter allen Umständen durch. Oder ein Trainer schaut, was ist das Mögliche, das ich mit dieser Mannschaft umsetzen kann. Fischer geht den zweiten Weg. Und das mit großem Sachverstand. Union hat in der vergangenen Saison nicht immer attraktiven Fußball gespielt. Aber dieses Guerillahafte, dem Gegner das Spiel kaputtmachen, das ist eine hohe Kunst.
Dafür wird sich im Erfolgsfall mit Rum und Brandy belohnt, Getränke, die man im Trainerkabuff nicht unbedingt erwartet. Hat Sie das überrascht?
Nicht wirklich. Aber ich finde das schlüssig und angemessen. Das passiert ja nicht jede Woche. Da wird auch nicht gesoffen. Es ist eben ein Ritual nach dem Sieg. Du arbeitest die ganze Woche hart und stellst am Ende der Woche fest, dass das erfolgreich war. Dann setzt man sich hin und genießt den Moment. Am nächsten Tag geht man die neue Woche an, bei der nicht klar ist, ob man am Ende nicht wieder mit langen Gesichtern da sitzt.
Zu Person und Klub
Christoph Biermann (59), Reporter des Fußballmagazins „11 Freunde“, hat zuvor für „Spiegel“, „Süddeutsche Zeitung“ und auch den „Kölner Stadt-Anzeiger“ gearbeitet und über Jahrzehnte in Köln gelebt.
Der 1. FC Union Berlin galt in der DDR als Gegengewicht zum Stasi-Klub BFC Dynamo Berlin. Nach 1989 rutschte der Verein bis in die vierte Liga ab, 2001 erfolgte der Einzug ins Pokalfinale gegen Schalke. 2019 gelang erstmals der Aufstieg in die Erste Liga. Am Sonntag trifft Union auf den 1. FC Köln. (ksta)
Profi ist für viele ein Traumberuf. In ihrem Buch geht es auch darum, dass die Traumberufler ziemlich viel Zeit totschlagen müssen…
In dem Ausmaß war mir das vorher nicht klar. Es gibt eine interessante Spannung zwischen dem Stress, den der Beruf Profifußball mit sich bringt, und dem Leerlauf. Es gibt nämlich auch wahnsinnig viel Zeit zum Abhängen: Mannschaftsbesprechung, Bus, Flieger, Teamhotel. Schon dazwischen ist viel Leerlauf. Da schaffen sich viele Spieler eine Welt, in der sie wenig zu tun haben wollen. Ich verstehe mittlerweile, warum die Spieler einfach auch mal runterkommen müssen.
Die Spielzeit war nicht nur wegen der ersten Bundesliga-Saison für Union eine besondere. Wie anders ist Fußball im Stadion ohne Publikum?
Technisch gibt es keinen Unterschied. Die Spiele sind in Corona-Zeiten ja nicht schlechter geworden. Dennoch gibt es eine emotionale Leerstelle, nicht nur beim Publikum, sondern auch bei den Spielern. Es gab bei Union ein Geisterspiel, bei dem die Fans hinter der Tribüne mit ihren Gesängen anfeuerten. Das war für die Spieler enorm wichtig. Auch Fußballer sind eben Bühnenkünstler.
Der Philosoph Wolfram Eilenberger, der in der Jugend beim Karlsruher SC kickte und später in der finnischen Zweiten Liga, behauptet, Profifußball brauche keine Stadionbesucher. Wie sehen Sie das?
Sport braucht Zuschauer. Schon aus rein wirtschaftlichen Gründen. Fußball ohne Zuschauer ist Sport, Fußball mit Zuschauern ist hingegen ein kulturelles Gesamtereignis. Es gibt ja auch etwas Dialogisches zwischen Publikum und Mannschaft. Ohne Zuschauer im Stadion geht die Emotion im Fußball verloren.
Ihr Fazit nach einem Jahr im Trainerteam: Was hat Sie am meisten überrascht?
Ich habe eine Menge über Fußballprofis gelernt. Auf der einen Seite hat sich dieses von vielen bewunderte Leben des Profifußballers demystifiziert. Auf der anderen Seite ist es eine bewundernswert einzigartige Welt. In einem vollen Stadion zu spielen ist emotional etwas Besonderes. Deshalb sind alle, die je in einem Stadion gespielt haben, durch ein imaginäres Band verbunden, das ist wie eine Geheimloge.
Sie haben lange in Köln gelebt, sind Anhänger des VfL Bochum. Wie sind Sie überhaupt auf die Idee gekommen, sich ein Jahr dem 1. FC Union Berlin anzuschließen und darüber ein Buch zu schreiben?
Hier geht es nicht um Fantum, sondern um journalistisches Interesse. Ich lebe in Berlin, und Union stand mit seiner ersten Saison in der Bundesliga vor einem historischen Einschnitt. Das war eine einzigartige Situation, über die ich gern berichten wollte.
Dann geht man da einfach hin und klopft an der Trainerkabine an?
Nein, so einfach war es nicht. Aber durch meine Arbeit kannte ich schon einige Leute im Verein und der Verein kannte mich. Ich habe dann Christian Arbeit angesprochen, den Mediendirektor. Danach gab es ein Gespräch mit Präsident Dirk Zingler und schließlich – am Rande des Trainingslagers in Österreich – ein Treffen mit Trainer Urs Fischer. Ohne ihn wäre das überhaupt nicht möglich gewesen. Ich wollte ja ein Jahr lang Tag für Tag mit in seinem Team sein.
Wie war die Aufnahme im Team? Wann fühlten Sie sich angenommen?
Das ging über verschiedene Stufen. Es fängt damit an, dass ich auf dem Vereinsgelände – wie alle – die Klubkleidung getragen habe: schwarze Trainingshose, rotes Shirt, pinkfarbene Turnschuhe, die Rudelkleidung.
Und dann mussten Sie singen wie jeder Neuzugang?
Erst im Wintertrainingslager, aber dann gab es kein Entrinnen mehr. „Eisgekühlter Bommerlunder“, ein Lied der Toten Hosen, von dem ich überrascht war, dass es die Spieler überhaupt kannten. Die mochten offensichtlich die selbstironische Art, mich vor der Mannschaft zum Deppen zu machen.