Zum 50. Jahrestag spricht Günter Netzer über sein Jahrhunderttor im Pokalfinale 1973 gegen den 1. FC Köln und wie es dazu kam.
„Herr Weisweiler, ich spiel’ denn jetzt“Günter Netzer über sein Jahrhunderttor gegen den 1. FC Köln vor 50 Jahren
Herr Netzer, bis heute werden Sie auf dieses Tor angesprochen. Was hat für Sie den höheren Stellenwert? Dieser 23. Juni 1973 oder das erfüllte Leben, auf das Sie mit 78 zurückblicken können?
Günter Netzer: Ich habe ein wunderschönes Erlebnis gehabt. Und ein, glaube ich, auch historisches Erlebnis. Ich weiß nicht, wie so etwas passieren konnte. Ich bin irgendwie ferngesteuert gewesen. Ohne esoterische Motive oder höhere Mächte, die möglicherweise im Spiel waren. So etwas hat es noch nie gegeben und wird es in den nächsten 100 Jahren nicht mehr geben, weil die ganze Geschichte so einzigartig ist. Und 50 Jahre haben wir ja jetzt schon geschafft (lacht).
Kam irgendetwas Ihrem Geniestreich nahe?
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Ich feiere gerne jede gute Leistung von irgendwem. Bin beeindruckt von Dingen, die geleistet werden, egal, aus welchem Genre. Das ist meine Lebenseinstellung, mein Charakter, meine Philosophie. Dass ich ein Bewunderer von allen schönen Dingen bin. Ich stehe mit großen Augen davor. Aber man kann den Fußball verschiedener Generationen nicht miteinander vergleichen. Das ist nicht legitim. Strukturen und Denkweise waren völlig anders. Ich sage trotzdem nicht, dass früher alles besser war. Auch da lag vieles im Argen. Doch ich spreche nicht über die heutige Zeit.
Lassen Sie uns über Ihren großen Moment sprechen, der so traurig begann. Hennes Weisweiler setzte Sie auf die Bank, weil Sie nicht in Form waren. Verständlich, weil Ihre Mutter gestorben war. Doch es gab böse Berichte, Ihre Mutter hätte nicht verkraftet, dass Sie bei Real Madrid unterschrieben hatten.
Ich will nicht sagen, dass mir das bis heute in den Knochen steckt. Doch diese oberflächliche Sichtweise einiger Journalisten, so eine menschliche Unverschämtheit zu Papier zu bringen, war eine fürchterliche Erfahrung. Meine Mutter hat sich über meinen Transfer zu Real sogar gefreut. Das war alles wunderbar für sie. Keineswegs gab es da eine Beziehung der Dinge zu ihrem Tod. Das war haarsträubend, enttäuschend. Ich hatte nur noch pure Verachtung übrig.
Hatten Sie Verständnis für Ihre Degradierung auf die Bank?
Als Trainer hatte Weisweiler eigentlich richtig gehandelt. Den Tod der Mutter, meine körperliche Verfassung, das hat er alles gespürt. Doch im Nachhinein will ich ihm unterstellen, dass da auch persönliche Dinge im Spiel waren, dass er es mir zeigen wollte, dass er es auch ohne mich schafft. Fachlich war das nicht so falsch. Er hätte es jedoch besser wissen müssen.
Warum?
1972 hatte ich mir die große Zehe gebrochen. Er lud mich ein zum Freundschaftsspiel nach Rom. „Warst du schon mal in Rom?“ Ich: „Nein.“ Er: „Großartige Stadt.“ „Dann komme ich gerne mit“, sagte ich. Als das Spiel näherkam, sagte er: „Wir haben ein Problem. Wir kriegen kein Geld, wenn du nicht spielst.“ Ich: „Herr Weisweiler, Sie wissen doch, was mit mir los ist. Ich kann kaum gehen.“ Er: „Ich habe mit dem Arzt gesprochen. Du kriegst eine Spritze. Die hält 45 Minuten. Wenn wir nach der Pause wieder rausgehen, kriegst du noch mal eine Spritze.“ Ich schaute ihn ungläubig an: „Das kann doch nicht Ihr Ernst sein?“ Dann habe ich alle meine persönlichen Dinge zurückgestellt. „Ehe wir kein Geld kriegen, mache ich das“, sagte ich. Meinen Schrei bei der Spritze konnte man durchs ganze Olympiastadion hören. Wir hatten einen wundervollen Tag, ich machte eines der besten meiner Spiele, schoss zwei Tore, in den Zeitungen stand: „Der weiße Pelé war da.“
Was hat das mit dem Pokalfinale zu tun?
Weisweiler hätte wissen müssen, dass ich unter widrigsten Umständen zu großartigen Leistungen fähig war. Doch die eigentliche Unverschämtheit war die: Er wollte mich in der Halbzeit einwechseln. „Nein“, sagte ich. „Wir machen gerade das beste Spiel der ganzen Saison, das kann ich nicht verbessern.“ Wir kamen wieder raus, die Fans haben sich die Finger wundgepfiffen, weil ich nicht dabei war. Die wussten ja von nichts. „Dieser sture Bock hat ihn immer noch nicht eingewechselt“, schimpften sie.
Und?
Das Spiel lief genauso gut wie in der ersten Halbzeit. Vielleicht eines der besten Pokalendspiele, das je in Deutschland stattgefunden hat. Bis zu dem Zeitpunkt, als nach 90 Minuten abgepfiffen wurde (1:1). Da kam Christian Kulik auf mich zu, fällt vor meinen Füßen zu Boden. „Was ist Christian? Kannste nicht mehr?“, fragte ich. „Ich kann nicht mal mehr aufstehen“, sagte er. Kulik, dieses großartige Talent, guter Charakter, dem die Zukunft offenstand. Ich habe den geliebt.
Und …?
In dem Augenblick war ich ferngesteuert. Ich habe es nicht bewusst getan, weiß es bis heute nicht: Zieh’ ich mir die Trainingsjacke aus, die Hose aus – die Zuschauer fangen an, mich zu feiern –, laufe ich an der Bank vorbei, sage: „Herr Weisweiler, ich spiel’ denn jetzt.“ Ohne eine Reaktion abzuwarten bin ich aufs Feld. Und dann passiert was, das kann man nicht erklären. Mit Rainer Bonhof, sage ich jetzt im Spaß, habe ich zehn Jahre lang Doppelpass geübt, nicht ein einziger ist angekommen. In dem Moment spielt er den Pass seines Lebens. Der Ball springt vorher noch auf. Ich treffe ihn mit dem Außenspann. Und er landet oben im Eck. Wenn ich ihn lehrbuchmäßig getroffen hätte, wäre es ein harmloser Roller geworden. Die ganze Geschichte hätte nicht existiert. Vielleicht hätte man mich rausgeworfen. Es war ein unglaubliches Glück. Auf allen Seiten.
Wann haben Sie erzählt, dass Weisweiler Sie bereits zur Halbzeit einwechseln wollte?
Erst zehn Jahre später. Erst als er tot war. Weil ich zu viel Respekt vor ihm hatte. Weisweiler hat uns alle gemacht. Er hat Borussia Mönchengladbach gemacht. Vor allem hat er mich gemacht. Er hat viele Schwierigkeiten mit mir gehabt. Fachliche, sachliche. Weil er von mir mehr verlangte als von allen anderen, wie später auch von Johan Cruyff in Barcelona und von Wolfgang Overath in Köln. Ich habe seine Art Fußball nicht verstanden, wollte etwas anderes, einfach mal Pausen einlegen. Nicht immer nur als Gladbacher Himmelsstürmer gelobt werden, der permanent schönen Fußball spielt, doch letztendlich keine Erfolge erzielt wie die Bayern mit ihrem ökonomischen Fußball. Das war unsere Auseinandersetzung. Aber noch mal: Weisweiler hat mich gemacht. Er hatte nur vergessen, dass ich in unmöglichen Situationen meine besten Spiele gemacht habe. Auch aus lauter Wut auf seine unglaubliche Brutalität. Das hätte er im Kopf haben müssen.
Berti Vogts erzählt von einem Treffen, als Sie längst bei Real Madrid spielten und Weisweiler Trainer des FC Barcelona war.
Der hat uns in der Düsseldorfer Altstadt tatsächlich, als wir mit ihm einen trinken gingen, das Du angeboten. Doch das haben wir nie geschafft, ihn zu duzen. Wir beide nicht. Der Respekt war viel zu groß vor diesem Mann, die Anerkennung, was er für uns getan hat.
Wie hat Weisweiler reagiert, als das Spiel gegen Köln vorbei war?
Es gab keine Reaktion. Keinen Kontakt. Er wollte es nicht. Und ich nicht, dass die Journalisten über ihn herfallen, dass ich der große Held bin, der es dem Trainer gezeigt hat. Das konnte ich nicht zulassen. Dazu hatte er zu viele große Verdienste.
Wie endete der Abend?
Es gab ein offizielles Bankett vom DFB. Dann bin ich alleine in meine Diskothek gefahren (Netzer betrieb in Mönchengladbach das Lovers Lane) – ohne zu feiern. Ich habe meinen Koffer gepackt und bin nach Madrid geflogen, zu meinem neuen Verein.
(RND, Raimund Hinko)