Köln – Am Sonntagnachmittag wird um 15.30 Uhr im Rhein-Energie-Stadion der Traum aller Fußball-Klubs und ihrer Anhänger zu bewundern sein. Ein junger Mann, der von Kindesbeinen an in ihrer Region Fußball gespielt hat, betritt als gefeierter Star das Spielfeld und zieht tausende in seinen Bann. Sein Talent ist unermesslich, der finanzielle Reichtum, den er seinem Arbeitgeber bescheren wird, ebenso.
Allerdings gibt es eine Besonderheit: Er trägt das Trikot des für die Erzählung dieser Geschichte falschen Klubs. Fast ein Jahrzehnt lang hatte Florian Wirtz, Jahrgang 2003, das Fußballspielen von der Pieke auf beim 1. FC Köln gelernt. Zur Verheißung wurde er aber im Trikot von Bayer 04 Leverkusen, das er seit Januar 2020 trägt. Für den 1. FC Köln ist das ein großes Unglück. So etwas wie ein verloren gegangener Lottoschein mit sechs Richtigen plus Zusatzzahl darauf, der jetzt vom ungeliebten Nachbarn eingelöst wird.
Florian Wirtz brilliert im Meisterschafts-Finale
Um zu verstehen, wie das passieren konnte, müssen wir zurück ins Jahr 2019, das für den 1. FC Köln überaus turbulent verlief. Die Mannschaft beschäftigte vier Trainer und war während des Aufstiegs in eine schwere Führungskrise gestürzt. Am Ende musste nach den Fußballlehrern Markus Anfang, André Pawlak und Achim Beierlorzer auch Geschäftsführer Armin Veh gehen. Er hatte den Verein nicht nur auf sportliche Weise kritikwürdig geführt, sondern zu Beginn des Frühjahrs auch noch Präsident Werner Spinner mit einer offenen Misstrauenserklärung in die Flucht getrieben.
Im Schatten dieses Chaos‘, aus dem das neue Führungstrio Werner Wolf, Jürgen Sieger und Eckhard Sauren und die sportliche Führung Horst Heldt/Markus Gisdol hervorging, erlebte Köln einen unerwarteten Erfolg: Am 16. Juni 2019 trat die U17 des Vereins im Finale um die Deutsche Meisterschaft der B-Junioren bei Borussia Dortmund an. Vor 10.000 Zuschauern im Stadion Rote Erde schlug der 1. FC Köln die Dortmunder um Wunderstürmer Youssoufa Moukoko 3:2, was auch daran lag, dass Köln Florian Wirtz auf dem Platz hatte, damals 16 Jahre und ein paar Wochen alt.
Sicher ist, dass sich im Stadion Scouts aller wichtigen deutschen Klubs befanden und genau wussten, wie gut dieser Junge Fußball spielen kann. In ihren Augen war Wirtz eine absolute Ausnahmeerscheinung, alle wollten mit ihm ins Geschäft kommen. Dass dies möglich war, hatte mit dem 1. FC Köln zu tun. Florian Wirtz besaß einen auslaufenden Jugend-Vertrag. Sein Verein hatte es versäumt, ihn länger an sich zu binden. Dasselbe galt zu dem Zeitpunkt übrigens auch für die talentierten U-17-Meister Jan Thielmann und Tim Lemperle, die im Profi-Kader von Steffen Baumgart aktuell eine große Rolle spielen.
Der Fußball-Weltverband Fifa sieht vor, dass Jugendspieler unter 18 Jahre nur Verträge mit einer maximalen Laufzeit von drei Jahren abschließen können. Die DFB-Spielordnung kennt zwar so genannte 3+2-Verträge, die zwei Anschlussjahre vorsehen, um die Rechte eines Ausbildungsverein an seinem Spieler zu stärken. Allerdings stehen derlei Konstrukte auf tönernen Füßen – weder die Sport- noch die Zivilgerichtsbarkeit würden eine solche Vereinbarung als verbindlich akzeptieren. Doch ein Dreijahresvertrag wäre schon eine gute Sache für die Kölner gewesen. Aber sie haben ihn nicht hinbekommen.
Begegnung mit Familie Wirtz
In diesem Gesamtkunstwerk scheint die Begegnung der damaligen FC-Führung mit der Familie Wirtz eine große Rolle zu spielen. Die Abordnung des Vereins machte nämlich im Herbst 2019 eine offenbar verwirrende Entdeckung: Bei Wirtzens in Pulheim-Brauweiler stand kein Fernseher im Wohnzimmer. Und auch kein italienischer Sportwagen vor der Tür. Man hatte es mit normalen Leuten zu tun, die kein großes Interesse zu haben schienen an den Verheißungen des Profifußballs.
Die FC-Gesandten hatten offenbar große Angst, etwas falsch zu machen. Statt dem Spieler eine Perspektive zu bieten, in deren Kern der kurzfristige Eintritt ins Leben als Profifußballer stand, versuchte man, den Ball flachzuhalten. Man wollte Familie Wirtz nicht mit Erzählungen vom großen Fußball verschrecken – und erst Recht nicht mit Millionensummen. Als die Sprache aufs Geld kam, schickte man Wirtz junior aus dem Raum. Zu viel für einen 16-Jährigen.
Was den Familienpsychologen vom Geißbockheim allerdings entging, war die Unterschiedlichkeit von Vater und Sohn. Hans Wirtz, mittlerweile pensionierter Beamter und 1. Vorsitzender bei Grün-Weiß Brauweiler, hatte mit der Familie nicht auf den goldenen Sohn gewartet, der ihm Ruhm und Reichtum verschafft. Ihm ging es nicht um materielle Erfüllung. Darin unterschied er sich von vielen Fußball-Vätern. Florian Wirtz unterschied sich, abgesehen von Talent und Ehrgeiz, allerdings nicht von den meisten kickenden Jungs. Er wollte Tore, Erfolg und Anerkennung.
Die Leverkusener kannten das Supertalent natürlich schon lange. Als sie 2019 erfuhren, dass Florian Wirtz zu haben war, zögerten sie nicht lange. An das ungeschriebene Agreement der rheinischen Fußball-Klubs, sich im Jugendbereich nicht ständig Spieler abzuwerben, fühlten sie sich in dem Moment nicht mehr gebunden, als klar war: Wirtz wird den 1. FC Köln so oder so verlassen und spätestens am Ende der Saison zu einem namhaften Bundesliga-Klub wechseln. An dem Spieler bestand Interesse aus ganz Europa, besonders gut gefiel es Wirtz offenbar in Hoffenheim. Aber auch der FC Liverpool um Trainer Jürgen Klopp, Bayern München, Borussia Dortmund und italienische Top-Klubs buhlten um Wirtz.
Bayer 04 warb nun mit vollem Einsatz um den 16-Jährigen. „Der Spieler war überraschenderweise auf den Markt und wechselwillig. Es wäre grob fahrlässig gewesen, nicht in die Verhandlungen einzusteigen“, erklärte Geschäftsführer Rudi Völler, der mit Sportdirektor Simon Rolfes Fakten schuf. Man gab Wirtz den Spind direkt neben dem des aktuellen Jung-Stars Kai Havertz, ein Trikot mit Nummer drauf, ließ ihn vom ersten Tag an bei den Profis mittrainieren und versprach ihm alsbald sein erstes Bundesligaspiel.
Horst Heldt konnte Florian Wirtz nur noch verabschieden
Mehr hatte der Spieler nicht gewollt. Wer Florian Wirtz heute sieht – einen doch recht konventionellen 18-jährigen Fußballstar mit Designerkleidung, Luxusimmobilie in Bestlage und einem Sportwagen, den er allerdings mangels Führerscheins noch nicht fahren darf – könnte zur Erkenntnis kommen: Womöglich war Wirtz viel reifer für die Verheißungen des Lebens als Starspieler, als mancher beim FC geglaubt hatte. Womöglich hätte man Wirtz, der dabei war, sich von der beschaulichen Welt seiner Eltern zu emanzipieren, nur deutlicher fragen müssen, was er selbst eigentlich wollte.
Armin Veh: „Jeder wollte den Jungen im Verein halten“
Armin Veh war vom 11. Dezember 2017 bis zum 8. November 2019 Geschäftsführer Sport beim 1. FC Köln, nach seinem Rücktritt folgte Horst Heldt als Sportchef des Bundesligisten. Der frühere Meistertrainer Veh ist der Auffassung, dass der 1. FC Köln beim Kampf um das Juwel Florian Wirtz einfach keine wirkliche Chance gehabt hat. „Bei der ganzen Geschichte geht es nicht um die Frage oder Suche nach Schuldigen. Jeder im Verein, - und ich betone wirklich jeder - wusste, dass Florian Wirtz das größte Talent des 1. FC Köln seit vielen Jahren war. Und jeder wollte den Jungen im Verein halten: die Trainer, die Chefs des Nachwuchsleistungszentrum und natürlich auch ich“, sagt Veh dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ rückblickend. „Doch Florian Wirtz war ja kein Leibeigener des FC, er und seine Familie hatten auch eigene Vorstellungen. Große Klubs waren schon seit geraumer Zeit an ihm dran“, führt der 60-Jährige aus. So buhlten auch der FC Liverpool um Trainer Jürgen Klopp, Bayern München, Borussia Dortmund, die TSG Hoffenheim und italienische Top-Klubs um das fußballerische Juwel. Veh: „Ums Geld ging es nie, da hätten wir eh nicht mithalten können. Aus meiner Sicht hatten wir nur über die Identifikation zum FC eine Chance. Natürlich tut es vielen Kölnern weh, dass der Junge nicht mehr das FC-Trikot trägt. Doch wenn man seinen bisherigen Karriereverlauf betrachtet, dann hat er persönlich mit dem Wechsel nach Leverkusen nichts falsch gemacht.“ (LW)
Als Horst Heldt im November 2019 beim 1. FC Köln in die Verantwortung kam, konnte er Wirtz eigentlich nur noch hinterherblicken. Die Entscheidung war längst gefallen, denn der bis ins Mark ehrgeizige Teenager fühlte sich von der mangelnden Wertschätzung der FC-Nachwuchsabteilung persönlich getroffen, die ihm zeitweise Einsätze im U-19-Team versprach und ihre vom allgemeinen Chaos abgelenkte Klubführung offenbar nicht nachdrücklich genug darüber aufklärte, dass hier ein Auserwählter spielte. Eine Transferentschädigung von Bayer 04 in Höhe von 300.000 Euro war alles, was dem 1. FC Köln von Wirtz blieb. Im Gegenzug gab es nach einem mäßigen Wortgefecht mit dem Werksklub die sofortige Freigabe für die Rückrunde 2020 im Bayer-04-Trikot.
Florian Wirtz, dessen Marktwert aktuell auf 50 Millionen Euro mit stark steigender Tendenz taxiert wird, ließ sich seine Zukunft von seinem Vater planen. Auf einen professionellen Berater verzichtet die Familie nach wie vor. Das brachte den Leverkusenern im Januar 2020 einen günstigen Zugang ein. Und dem Vernehmen nach an Wirtz‘ 18. Geburtstag eine Verlängerung ohne jede Klausel bis ins Jahr 2026, die Beratern die Tränen in die Augen treibt: Viele Größen der Branche hätten gern mitverdient. Der Rest ist längst deutsche Fußballgeschichte: Im Sommer 2021 wurde Wirtz U-21-Europameister, im September debütierte er unter Hansi Flick in der A-Nationalmannschaft. Und seine eigenen Pläne hat Florian Wirtz so formuliert: „Mein Ziel ist es, mit der Nationalmannschaft Titel zu gewinnen.“ Man sollte ihn nicht für zu jung halten, um so groß zu denken.