Leverkusen – Ein schlimmeres Derby hätte Bayer 04 Leverkusen kaum erleben können am Sonntag. Die 0:1-Heimpleite gegen den 1. FC Köln, ein Rückschlag im Kampf um die Champions League, ist dabei fast schon zweitrangig. Florian Wirtz – talentiertester, wertvollster und womöglich wichtigster Spieler der Werkself – hatte sich bei einem harmlos anmutenden Zweikampf nach knapp 25 Minuten das linke vordere Kreuzband gerissen. Die Diagnose kam keine zwei Stunden nach Spielschluss und war keine Überraschung mehr. Dennoch bedeutete sie einen Schock für den Verein und den 18-Jährigen. Kaum eine Sportverletzung ist so gefürchtet und hat eine so lange Zwangspause zur Folge wie ein Kreuzbandriss.
Donnerstag gegen Atalanta Bergamo
Für Wirtz, der in seiner jungen Karriere bislang nur den steilen Weg nach oben kannte, ist die Saison abrupt beendet. Das große Talent kann Bayer 04 nicht im Kampf um die Königsklasse und nicht im Rückspiel des Europa-League-Achtelfinals gegen Atalanta Bergamo (Donnerstag, 18.45 Uhr/RTL+) helfen. Wirtz wird die komplette Sommervorbereitung und Teile der nächsten Saison verpassen. Den Platz im Kader für die Winter-WM in Katar, den er sicher hatte, muss er sich nun nach einer schweißtreibenden Reha wieder erkämpfen – und es wird zeitlich knapp. Das ist viel auf einmal für das derzeit größte Versprechen des deutschen Fußballs.
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Wann und wo Wirtz am verletzten Knie operiert werden soll, war am Montag noch unklar. Ihm wird aber die bestmögliche Behandlung zur Verfügung stehen, ein Profi wie Wirtz ist eine Wertanlage für Bayer 04. Entsprechende Knie-Spezialisten gibt es unter anderem in Süddeutschland, Österreich und der Schweiz. Dank moderner Behandlungsmethoden dürfte der Bandapparat nach einem erfolgreichen Eingriff keine Schwachstelle sein und Wirtz nicht bei seiner möglichen Welt-Karriere im Weg stehen – sollten Vertrauen ins Knie und die entsprechende Muskulatur drumherum zurückkehren.
Leverkusens Trainer Gerardo Seoane versuchte, die Situation objektiv zu beurteilen – was ihm im Angesicht der Auswirkungen des Ausfalls seines Regisseurs aber sichtlich schwer fiel. „Es sind natürlich alle extrem berührt, wenn sich ein Spieler schwer verletzt“, sagte Seoane am Montagmittag. „Florians Ausfall ist durch sein junges Alter und seine Wichtigkeit auf dem Platz noch eine Spur spezieller.“
Telefonat mit Bundestrainer Hansi Flick
Im Gegensatz zu Bundestrainer Hansi Flick hatte Seoane zu diesem Zeitpunkt noch nicht mit Wirtz gesprochen. Nüchtern erklärte der Leverkusener Coach: „Solche Dinge passieren im Fußball. Jedes Jahr und bei allen Mannschaften. Jetzt gilt es, sportliche Lösungen zu suchen und zu finden. Wir haben Spieler, die diese Rolle ausfüllen können. Wir können es auffangen, indem jeder etwas mehr Verantwortung übernimmt.“ Doch liegt hier ein Problem. Theoretisch könnten Spieler wie Amine Adli, Kerem Demirbay oder Paulinho die Rolle des Regisseurs übernehmen. Praktisch hat aber bislang keiner der Kandidaten auf der Position nachhaltig überzeugen können.
Wirtz ist nicht nur Torschütze und -Vorbereiter (24 Scorerpunkte in 31 Einsätzen), er macht durch seine Spielintelligenz und seine Kombinationsfähigkeiten auch die Nebenleute um eine Klasse besser. Über eine solche Aura verfügt kein potenzieller Ersatzmann im Kader der Werkself. Hinzu kommt, dass auch Toptorschütze Patrik Schick (20 Treffer) nach seinem Muskelfaserriss erst am Montag wieder mit einer leichten Laufeinheit begonnen hat. Der schnelle Rechtsverteidiger Jeremie Frimpong (zwei Tore/acht Vorlagen) fehlt wegen einer im Derby erlittenen Knöchelverletzung ebenfalls.
Kritik an Schmährufen der FC-Fans
Als Fernziel könnte Wirtz die Katar-WM im November und Dezember 2022 ins Auge fassen. Bundestrainer Flick hatte bereits am Sonntag mit dem 18-Jährigen telefoniert, „und versucht, ihm Mut zuzusprechen“, ließ Flick mitteilen. „Florian Wirtz ist eines der größten Talente, das der deutsche Fußball in den letzten Jahren hervorgebracht hat“, sagte Flick. „Er ist noch jung, er wird wieder mindestens genauso stark zurückkommen, da bin ich ganz sicher.“
Paulinho musste 300 Tage pausieren – Khedira nur 167
Die Ausfalldauer hängt mit der genauen Art der Verletzung zusammen. Teamkollege Paulinho musste nach einem Riss des rechten vorderen Kreuzbandes über 300 Tage pausieren. Niklas Süle (Hoffenheim/Bayern) kam nach zwei Verletzungen im gleichen Knie jeweils nach knapp 200 Tagen zu seinem Comeback. Sami Khedira benötigte vor der WM 2014 sogar nur 167 Tage. Womöglich ein Hoffnungsschimmer für den Youngster.
Nachdem einige FC-Fans Wirtz am Sonntag nach dem Drama in Minute 25 noch mit Schmährufen bedacht hatten, kam am Montag viel Zuspruch vom rheinischen Rivalen. „Bei allen Emotionen haben mir die Pfiffe und Schmähgesänge nach Florians Verletzung nicht gefallen. Es geht hier um einen 18-jährigen Jungen. Er hat in Köln keinem etwas getan“, sagte FC-Trainer Steffen Baumgart dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Lizenzspielleiter Thomas Kessler entschuldigte sich im Namen des Klubs telefonisch bei Familie Wirtz. Baumgart: „Florian ist ein Hoffnungsträger für den deutschen Fußball, er bangt um die WM-Teilnahme. Das ist traurig für ihn, für alle. Ich habe mir selbst schon mal das hintere Kreuzband gerissen und weiß, wie schwer der Weg ist, der vor Florian liegt.“