Am Samstagabend spielt Bayer 04 Leverkusen in Berlin gegen den FC Bayern um den ersten Titel seit 27 Jahren.
1993 gewann die Werkself den DFB-Pokal gegen die Hertha-Amateure. Auf Berliner Seite spielte damals noch Carsten Ramelow.
Der langjährige Bayer-Kapitän spricht im Interview über das Finale in Berlin und die acht zweiten Plätze seiner Karriere.
Leverkusen – Herr Ramelow, wenn wir normale Zeiten hätten und Fußballspiele mit Publikum, wären Sie dann am Samstag im Berliner Olympiastadion beim Pokalfinale zwischen Bayer 04 und dem FC Bayern?
Wahrscheinlich nicht. Das Pokalfinale ist schon etwas Besonderes, aber ich sehe solche Spiele schon gern alleine ganz in Ruhe zuhause. Ich renne den Ereignissen in den letzten Jahren nicht mehr so hinterher und bin relativ entspannt geworden. Zu Bayer 04 habe ich nach wie vor einen guten Draht, obwohl es ein wenig abgenommen hat, aber das ist ganz normal. Ich hab 2008 aufgehört, das ist mittlerweile zwölf Jahre her. Die Zeiten ändern sich. Die Spielergenerationen ändern sich. Wenn man aufhört, hat man noch Kontakt zu den Ehemaligen, die im Verein sind. In meinem Fall ist das Stefan Kießling. Er ist der letzte im Klub, der übrig geblieben ist aus meiner Zeit. Aber wenn ich im Stadion bin, freue ich mich. Ich habe ja lange da gespielt. Es ist immer ein schöner Ausflug, aber ich bin kein Dauergast. Auch ohne Bayer 04 ging mein Leben weiter. Ich bin dem Fußball als Vizepräsident der Vereinigung der Vertragsfußballspieler weiterhin verbunden. Ich empfinde diese Arbeit als wichtig, mache sie allerdings ehrenamtlich.
Wir reden mit Ihnen auch deshalb über das Pokalfinale in Berlin, weil Sie als Spieler zweimal daran teilgenommen haben. 1993 mit den Amateuren von Hertha BSC gegen Bayern 04 Leverkusen. 2002 mit Bayer 04 Leverkusen gegen Schalke 04. Beide Spiele haben Sie verloren. Welche Erinnerungen haben Sie daran?
Sehr schöne. Das Endspiel in der Hauptstadt in diesem Riesenstadion vor einem großen Publikum, das ist schon etwas ganz Besonderes. Da können Sie jeden Spieler fragen, der das erlebt hat. Jetzt in der Corona-Zeit wird es halt leider anders sein. Für mich war das erste Finale mit den Hertha-Bubis etwas ganz Spezielles, weil wir Amateure waren. Es war sehr entspannt. Dieser Druck, den man als Profi spürt, den gab es nicht. Wir waren nur die Hertha-Bubis. Wir haben jedes Pokalspiel, jedes Weiterkommen gefeiert bis ins Endspiel. Wir hatten richtig gute Jungs dabei, sonst wären wir nicht so weit gekommen. Diese Kombination aus Können, Unbeschwertheit und Leidenschaft war etwas ganz Besonderes. Das habe ich in meiner Profi-Zeit nie wieder so erlebt. Wir hatten einen Ghettoblaster in der Kabine, der lief schon vor dem Spiel. Nach der Niederlage gegen Leverkusen war keine Traurigkeit da. Wir waren mit dem zweiten Platz sehr zufrieden und konnten für uns so richtig einschätzen, was wir geleistet hatten. Wir wussten, dass Leverkusen besser war und haben mit denen zusammen gefeiert. Da sind wir in deren Kabine und durften mal den Pokal sehen. Wir fuhren danach im Autokorso durch Berlin, die Leute standen in den Straßen. Wir waren beim Oberbürgermeister. Es war so schön. Das würde heute so nie wieder stattfinden. So locker war es in der Zeit danach nie mehr. Als Profi hat man einen ganz anderen Druck.
Zur Person
Carsten Ramelow, geboren am 20. März 1974 in Berlin, absolvierte von 1991 bis 1995 80 Spiele in der 2. Fußball-Bundesliga für Hertha BSC und von 1996 bis 2008 insgesamt 333 Bundesliga-Spiele für Bayer 04 Leverkusen. Für die deutsche Nationalmannschaft spielte Ramelow 46 Mal. Ramelow stand mit den Amateuren von Hertha BSC 1993 im DFB-Pokalfinale, das Leverkusen 1:0 gewann, 2004 unterlag er im Endspiel mit Bayer 04 dem FC Schalke 2:4. Außerdem wurde er Vizeweltmeister 2002 und viermal Bundesliga-Zweiter. Er lebt als Unternehmer in Kürten. (FN)
Das war von Ihren vielen zweiten Plätzen dann wohl der schönste.
Ja, das war der Beginn dieser zweiten Plätze. Ich sehe das total positiv. Wenn ich heute erzähle, was ich erlebt habe, kann ich über alles sprechen von Fast-Abstieg bis hin zu den großen Endspielen. Ich glaube, nicht viele können davon erzählen, wie schön ein WM-Finale oder ein Champions-League-Finale ist. Deswegen kann mir das niemand schlecht reden. Natürlich gab es auch sehr ärgerliche Momente wie die Niederlage im DFB-Pokalfinale gegen Schalke im Jahr 2002, das wir 2:4 verloren haben. Da war ich ein paar Tage traurig. Aber ich habe im Lauf der Jahre gelernt, damit umzugehen. Ich nehme immer relativ schnell den Kopf hoch und schau nach vorn, denn es muss ja weitergehen. Ich bin in meiner Karriere achtmal Zweiter geworden. Das kann mir keiner nehmen. Und das kann mir keiner schlechtreden.
Ihr Sportlerschicksal erinnert ein wenig an den großen französischen Radsportler Raymond Poulidor, der dreimal Zweiter und viermal Dritter bei der Tour de France wurde, aber nie gewonnen hat.
Wenn mich Menschen heute erkennen, dann wissen die ja gar nicht mehr, ob ich einmal Zweiter geworden bin oder achtmal Zweiter, ob ich Meister geworden bin oder nicht. Die sagen mir: „Ich habe Sie gerne gesehen. Das war eine tolle Mannschaft. Sie haben einen guten Job gemacht.“ Darum geht es, glaube ich. Nicht um die Farbe der Medaillen. Ob ich Gold oder Silber zuhause im Schrank hängen habe, ändert an meiner Situation heute nichts. Wichtig ist es, aus einer Karriere Momente mitnehmen zu können, die man im Leben immer wieder wachrufen kann. Und das kann ich.
Der Klub Bayer 04 Leverkusen, der einst den Namen „Vizekusen“ als Markenzeichen eintragen ließ, sehnt sich jedoch sehr nach Titeln. Jetzt steht er im Finale dem FC Bayern München gegenüber.
Erst einmal ist es total positiv, dass sie im Endspiel stehen. Das muss man auch anerkennen. Ich glaube allerdings, dass sie da kaum Chancen haben werden. Bayer ist immer so ein Überraschungs-Ei. Wochenlang waren sie in dieser Saison wirklich gut, dann kam so ein Spiel wie gegen Hertha, das die Champions-League gekostet hat. Jetzt spielen sie gegen die Bayern ohne Zuschauer, was ohnehin seltsam ist. Da werden sie wenige Chancen haben und vielleicht wieder Zweiter sein. Aber ist das jetzt etwas Schlimmes? Klar würden dann wieder diejenigen aus den Löchern kommen, die sagen: Leverkusen wieder Zweiter, passt ja! Und dann gibt es Häme und was weiß ich... Wenn man es gewinnen würde, würde man Ruhe reinkriegen. Aber wenn es nicht gelingt, wird man den Spielbetrieb nicht einstellen.
Sie sind im Jahr 2002 gleich viermal Zweiter geworden. In der Bundesliga, im DFB-Pokal, in der Champions League und bei der WM mit der Nationalmannschaft. Wie hat sich das angefühlt?
Um die Geschichte richtig zu beurteilen, muss man sich die einzelnen Spiele angucken. Man kann nicht sagen: Wir haben viermal Pech gehabt. Es muss ja an irgendetwas gelegen haben. Im Pokalfinale gegen Schalke waren wie die erste Hälfte ganz gut, haben dann aber nachgelassen und verdient verloren. In der Champions League haben wir uns gegen Real sehr gut präsentiert. Aber die hatten den überragenden Zinedine Zidane, der den Siegtreffer zum 2:1 erzielt hat. Das WM-Finale gegen Brasilien war ähnlich. Wir waren sehr gut, aber die hatten Ronaldo vorne. Der nutzt dann zwei Dinger eiskalt aus – und die gewinnen 2:0. Natürlich hat auch Glück gefehlt, wir haben alles reingeschmissen. Deshalb gibt es auch keinen Vorwurf in diesen beiden großen Spielen. Im DFB-Pokalfinale hatten wir nicht den besten Tag und in der Meisterschaft hatten wir in den letzten Wochen vielleicht den Fokus ein wenig verloren, weil wir müde wurden.
Dass wir uns im Laufe der Jahre danach gesehnt haben, endlich einmal den Titel zu holen, das ist ja klar. Aber viermal Zweiter zu werden in so einem Jahr, das würden ganz viele Spieler vorher so unterschreiben. Das gibt es ja ganz selten. Jetzt sind wir im Jahr 2020 – und Bayer 04 Leverkusen ist wieder so nah dran. Wenn es klappt, dann wäre es eine Befreiung, dann hätten wir das Image ein bisschen gerade gerückt. Aber wir treffen auf den FC Bayern München, den absoluten Favoriten, und dann ohne Zuschauer, das ist ganz bitter, für Leverkusen eine ganz schwierige Situation. Ich habe 13 Jahre für Bayer 04 gespielt. Das ist wirklich ein Top-Verein. Sie waren und sind jederzeit in der Lage, unter den ersten Fünf der Bundesliga mitzuspielen. So eine Konstanz über viele Jahre hinweg, da gibt es keinen Grund, diesen Klub schlechtzureden. Es wäre schön, wenn sie mal einen Titel bekommen würden. Das hätten sie wirklich verdient. Aber wenn es nicht passiert, dann ist es halt so. Und dann muss man weitermachen.