Leverkusen – Der 19. Dezember 2020 dürfte unter Jonathan Tahs mannigfaltigen Erinnerungen keinen allzu ehrwürdigen Platz einnehmen. Bayer 04 Leverkusen war unter Trainer Peter Bosz nach zwölf teils furiosen Spieltagen Tabellenführer der Bundesliga und bis zur letztmöglichen Minute „Weihnachts-Meister“. Nach starker Leistung hatte die Werkself in der Bay-Arena ein 1:1 gegen den Verfolger FC Bayern eigentlich sicher. Doch dann kam Tah.
Dem Innenverteidiger misslang in letzter Reihe eine Ballannahme gründlich. Joshua Kimmich nutzte die Nachlässigkeit und setzte Robert Lewandowski in Szene – der Pole traf zum 2:1-Sieg. Die Werkself war bis ins Mark geschockt. Und blieb es über Weihnachten und den Jahreswechsel hinaus. Tahs Patzer war nicht alleiniger Wegbereiter für den folgenden Leverkusener Sturz aus allen Wettbewerben und bis auf Tabellenplatz sechs sowie das Aus des Trainers Peter Bosz. Doch als symbolischer Wendepunkt der Saison dient der Fehler durchaus.
Erster Verfolger des FC Bayern
Knapp zehn Monate später sitzt Jonathan Tah im Presseraum in der Bay-Arena und beantwortet in der ihm eigenen, ruhigen und überlegten Art die Fragen der anwesenden Reporter. Bei jener um den 19. Dezember 2020 huscht dem 25-Jährigen ein kurzes Lächeln übers Gesicht. „In dem Moment ist es unangenehm. Aber man lernt aus jeder Situation“, sagt Tah. „Wir alle wachsen nur an Fehlern. Wir müssen hinfallen und aufstehen, um besser zu werden.“ Letzteres ist dem Innenverteidiger in den vergangenen Monaten auf bemerkenswerte Weise gelungen. Auch deshalb empfängt Bayer 04 nun als erster Verfolger den großen FC Bayern (Sonntag/15.30 Uhr).
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Der Leverkusener Rückrunden-Absturz ist in der Nachbetrachtung wohl ein wichtiger Faktor bei Tahs Aufschwung. Denn unter Trainer Peter Bosz hatte der 1,95 Meter große und 95 Kilogramm schwere Hamburger keinen leichten Stand. Der Nationalspieler pendelte zwischen Startelf und Ersatzbank, kam 2019/20 nur auf 22 Liga-Einsätze von Beginn an. 2020/21 waren es 24. Nur selten überzeugte er. Das Duo Sven Bender/Edmond Tapsoba war in der Regel gesetzt. Für einen Mann mit Tahs Qualitäten und Ansprüchen war die Rolle als Nummer drei zu klein – weshalb Tah auch immer wieder Abschiedsgedanken nachgesagt wurden, 2020 stand ein Wechsel zu Leicester City kurz bevor.
Doch Tah blieb. Und mit der Verpflichtung von Gerardo Seoane und dem Karriere-Ende der Bender-Zwillinge eröffneten sich im Sommer 2021 neue Möglichkeiten für den Verteidiger. Denn plötzlich wurde aus dem seit Jahren talentierten, aber gehemmten Verteidiger der mit Abstand erfahrenste Abwehrspieler des Werkslubs – und der neue Trainer vertraute auch noch auf die Führungs-Qualitäten Tahs. „Ich habe das Gefühl, dass sich etwas verändert hat, zum Positiven hin. Das beeindruckt mich und es freut mich, dass ich es noch miterleben darf“, sagt Tah. „Sicher hat der Trainer einen großen Teil zur Umstellung beigetragen, die gerade stattfindet. Das ist ein Grund, warum ich meinen Vertrag bis 2025 verlängert habe.“
Senior mit 25 Jahren
Neben Tah verteidigen Odilon Kossounou (20), Piero Hincapie (19), Michel Bakker (21), Jeremie Frimpong (20) sowie bald wieder Timothy Fosu-Mensah (23) und Edmond Tapsoba (22). Mit seinen 25 Jahren ist Tah nun der Abwehr-Senior. „Ich mag das Wort »Chef« nicht, ich mag »Leader« lieber. Ich wünsche mir, dass ich auf und neben dem Platz ein Leader bin. Aber das fordern wir alle von uns ein. Jeder soll vorangehen, keiner darf sich verstecken“, sagt Tah.
Die durch den Abschied der Benders sowie die schweren Verletzungen von Julian Baumgartlinger vakante Verantwortung wurde auf mehreren Schultern verteilt: Lukas Hradecky, Kerem Demirbay – und eben Tah. „Wir sind als Mannschaft gewachsen und erwachsener geworden – auch wenn wir noch mehr junge Spieler dabei haben“, sagt der Innenverteidiger, der sich selbstbewusst bald wieder in der Nationalmannschaft sieht („Ich gehöre dahin“). „Der Trainer kam am Anfang in die Kabine und hat gesagt, dass jeder Spieler Verantwortung übernehmen muss. Für sich selbst und für die Mitspieler. Und jeder muss diese Verantwortung auch einfordern. Das ist ein Schritt ins Erwachsenwerden. So verändert sich etwas.“
Der Faktor Trainer
Immer wieder stellt Tah den Umgang des Trainers mit der Mannschaft heraus, ohne Seoane – oder Vorgänger Bosz – beim Namen zu nennen: „Die Atmosphäre in der Kabine und beim Training, die beeindruckt mich. Das habe ich in den vergangenen Jahren so noch nicht erlebt. Wir wollen immer mehr und fordern uns gegenseitig. Es ist eine grundlegend positive Energie.“ Deshalb hat Tah auch keine Angst vor den Bayern, einer Niederlage und einem Formknick. „Ich bin mir sicher, dass es diesmal nicht passieren wird – egal, wie das Ergebnis am Sonntag aussieht“, sagt Leverkusens Abwehr-Leader.