Schiedsrichter-Experte Alex Feuerherdt spricht im Interview über die Handspielregel, Regel-Irrtümer und den VAR.
Schiri-Experte Feuerherdt im Interview„Die Mischung aus Video-Assistent und Handspiel ist toxisch“
Herr Feuerherdt, die meisten Schiedsrichter-Experten sind ehemalige Bundesliga-Schiedsrichter. Wie sind Sie in die Rolle geraten?
Ich habe selbst bis zur Amateur-Oberliga gepfiffen, der damals vierthöchsten Spielklasse, und war als Schiedsrichter-Assistent in der Regionalliga. Seit 1998 bin ich Lehrwart und habe schnell gemerkt, dass mir die Aus- und Fortbildung großen Spaß macht. Vor elf Jahren haben der Sportjournalist Klaas Reese und ich den Podcast „Collinas Erben“ gegründet, in dem es zunächst nur darum ging, die 17 Fußballregeln zu erklären. Wir sind damit offenbar in eine Lücke gestoßen, denn ein solches Format gab es bis dahin nicht, und das Interesse war groß, das haben wir an den Downloadzahlen und der Resonanz gemerkt. Wir haben dann auch einen Twitter-Account gestartet, vor allem um Schiedsrichter-Entscheidungen regeltechnisch einzuordnen. 2014 hatten wir während der WM erste Interviews im Deutschlandfunk, anschließend bekam ich eine Kolumne bei n-tv. Als Sky vor zwei Jahren anfragte, habe ich allerdings zunächst gesagt: Mir fehlt jede Prominenz, wenn ich mein Gesicht in die Kamera halte, fragen sich die Leute doch: Warum darf der da sitzen und reden?
Sie mussten über die Kompetenz kommen.
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Das war ungefähr das, was man auch bei Sky gesagt hat. Vielleicht ist es etwas hoch gegriffen, aber man kann es womöglich mit dem Phänomen des Laptoptrainers vergleichen. Also mit Trainern, die vielleicht nicht die ganz große Spielerkarriere in der Bundesliga vorweisen können, aber Fachwissen haben und das auch vermitteln können. Sky war es auch ganz recht, dass da jemand kam, der zwar Schiedsrichter ist. Aber nicht aus dem Stall der Bundesliga-Schiedsrichter kommt und alle persönlich kennt.
Der DFB hat eine Wissenslücke entstehen lassen, wenn es darum geht, die Anwendung der Regeln auf konkrete Spielsituationen zu erklären. Ist das nicht auch ein Problem, das die Schiedsrichter etabliert haben, indem sie sich in der Vergangenheit geziert haben, ihre Entscheidungen zu erläutern?
Das Regelwerk ist öffentlich einsehbar, aber dass DFB-Offizielle durch die Regeln geführt oder Schiedsrichter ihre Entscheidungen erklärt hätten, gab es lange Zeit nicht. Jedenfalls nicht in einem regelmäßigen Format. Es gab vor vielen Jahren mal Eugen Strigels „Pfiff des Tages“ im „Sportstudio“ des ZDF. Aber das ist relativ schnell wieder eingestellt worden. Vielleicht hatte man es damals noch nicht so mit Fehlerkultur. Schiedsrichter waren unantastbar – und plötzlich stellt sich Eugen Strigel dort hin und sagt: Das und das hat er falsch gemacht. Das kam nicht bei allen Unparteiischen gut an. Die Rolle der Schiedsrichter hat sich aber mittlerweile gewandelt. Noch in den 80er-Jahren sind sie teilweise mit einer unfassbaren Selbstherrlichkeit aufgetreten. Das hat sich zum Glück geändert, und das kann man heute auch nicht mehr bringen. Ebenso wenig wie die völlige Verschlossenheit gegenüber der Öffentlichkeit. Heute gibt es regelmäßig Interviews nach dem Spiel, die Schiedsrichter gehen in Talksendungen und machen Podcasts. In Deutschland ist dieser Wandel übrigens viel stärker als in England zum Beispiel.
Zu Gesetzen gibt es große Kommentarwerke. Im Fußball ist so etwas nicht bekannt.
Das ist definitiv ein großes Manko. Die Fußballregeln sind in vielen Sprachen problemlos öffentlich abrufbar. Aber nach Kommentaren muss man schon tiefer graben, zum Beispiel in der Schiedsrichterzeitung des DFB. Was dort zu Fragen der Regelauslegung steht, ist verbindlich, darum sollen die Schiedsrichter das auch lesen. Aber die breite Öffentlichkeit erreicht man damit nicht.
Es gibt dann auch noch unterschiedliche Auslegungen der Regeln, etwa zwischen Bundesliga und Wettbewerben auf europäischer Ebene.
Ein Beispiel: Die Fifa hat 2019 beschlossen, dass der Video-Assistent eingreifen muss, wenn ein Torwart einen Strafstoß hält und dabei nicht mit beiden Füßen auf der Torlinie gestanden hat. Das war in Deutschland noch bis in die Vorrunde dieser Saison hinein anders. Da hat man gesagt: Auf ein paar Zentimeter kommt es nicht an, lassen wir durchgehen. Auch bei der Ahnung von Handspielen sind Fifa und Uefa deutlich strenger.
Oft genug sehen wir dann fassungslose Trainer, die vorgeben, Schiedsrichterentscheidungen nicht mehr zu verstehen. Haben die Recht – oder kennen sie die Regeln und deren Auslegung nicht?
Da wird sicherlich auch oft nach Ausflüchten gesucht, und die Regelkenntnis mancher Trainer könnte besser sein. Aber es gibt schon auch Fälle, in denen die vorgesehene Regelauslegung und die fußballerische Sicht einander widersprechen. Zum Beispiel beim Handspiel, wenn es um die Frage nach der natürlichen oder unnatürlichen Bewegung geht. Uns muss klar sein, dass die Regeln nicht für die Schiedsrichter da sind, sondern für die Spieler.
Gibt es Regeln, von denen Sie glauben, dass sie abgeschafft gehörten? Es gibt ja immer wieder Überlegungen, zum Beispiel die Abseitsregel abzuschaffen.
Das ist in den Niederlanden in Testspielen versucht worden und hat erstaunlicherweise nicht dazu geführt, dass die Stürmer nur noch vorn standen und lauerten. Aber es hat nicht gezündet.
Was wurde noch probiert?
Zwei Schiedsrichter wie im Handball, Einschuss statt Einwurf – es gibt viele Vorschläge, was man ändern kann. Durchgesetzt hat sich nur wenig davon. Generell gilt: Der Ansatz der obersten Regelhüter vom Ifab ist es, den Fußball schneller und spektakulärer zu machen – mit mehr Toren. Deshalb gab es Änderungen wie jene, dass der Ball beim Abstoß schon im Strafraum angenommen werden darf. Oder dass der ausgewechselte Spieler an der nächsten Begrenzungslinie das Feld verlassen muss. Diese und andere Änderungen beschleunigen den Fußball, bedeuten für den Schiedsrichter aber zusätzlichen Stress. Wenn ich auf Schulungsabenden für die Schiedsrichter in den Jahren 2016 bis 2019 die zahlreichen Regeländerungen vorgestellt habe, habe ich in 250 verzweifelte Gesichter geblickt, und viele haben gefragt: „Wie sollen wir uns das denn alles merken?“
Wissen denn alle Spieler von den aktuellen Regeländerungen?
Längst nicht immer. Und dann bekommt der Schiedsrichter vielleicht Ärger wegen einer richtigen Entscheidung, deren Regelgrundlage aber beim Spieler oder Zuschauer noch gar nicht angekommen ist. Dieses „immer höher, schneller, weiter“ hat auch schon zur Komplizierung der Abseitsregel geführt. Weil einfach so viele Tore wie möglich fallen sollen. Deshalb gab es erst das verzögerte Fahnenzeichen der Assistenten und jetzt ein Konstrukt wie das „Deliberate Play“. Das alles ist komplex und teilweise auch schwierig zu verstehen. Und es fordert die Schiedsrichter immer mehr.
Das gilt doch bestimmt auch für die Handspielregel?
Der Grundgedanke ist bis heute, dass ein Handspiel nur geahndet werden soll, wenn es absichtlich geschieht. Doch wie soll man das bewerten? Man kann dem Spieler ja nicht in den Kopf gucken. Der Schiedsrichter braucht also Kriterien und Anhaltspunkte. Und da findet man nur welche, die interpretationsfähig sind, wie die Armhaltung und Armbewegung. Deshalb wird man aus dieser Grauzone nie herauskommen. Außer man ändert die Regel komplett.
Wie sähe denn ihre Wunsch-Handspielregel aus?
Es wird nicht ganz ohne Ermessensspielräume gehen. Meine Idee, bei der das Regelwerk aber massiv verändert werden müsste: Wir ahnden jedes Handspiel und setzen bei der Spielfortsetzung an. Jedes Handspiel wird grundsätzlich mit einem indirekten Freistoß geahndet – mit drei Ausnahmen. Nummer eins: Der Ball geht danach unzweifelhaft ins Tor – technisches Tor wie im Eishockey. Nummer zwei: Durch das Handspiel wird eine klare Torchance verhindert – Strafstoß statt indirektem Freistoß. Nummer drei: Wenn ein Spieler versucht, den Freistoß zu ziehen, indem er auf die Hand des Gegners zielt – weiterspielen.
Wäre es nicht mal ein Ansatz, dass das Ifab – analog zu Gesetzeskommentaren – die 17 Regeln kommentiert und damit präzisiert?
Man kann nicht jeden Eventualfall damit abdecken, aber generell wäre das natürlich möglich und grundsätzlich gut. Eine Loseblattsammlung als Kompendium kann ich mir gut vorstellen – online dann mit Beispielvideos. Das könnte die Fifa als Exekutive übernehmen.
Welche Eventualfälle können denn nicht abgedeckt werden?
Es gibt immer wieder etwas Neues, womit niemand rechnet. Vor einigen Jahren etwa gab es in einem Spiel im arabischen Raum einen Spieler, der hat einen Strafstoß mit der Hacke ausgeführt – er ist zum Ball gelaufen, hat sich gedreht und mit der Hacke aufs Tor geschossen. Die Regel sagt, dass der Ball nach vorne gespielt werden muss. Hat er den Ball denn nun nach vorne gespielt wegen der Richtung zum Tor, oder erfolgt ein Spielen des Balles mit der Hacke nicht immer nach hinten, aus der Sicht des Spielers? Was ist denn jetzt maßgeblich? Erst nach dieser Szene wurde festgelegt: „Nach vorne“ heißt in Richtung des Tores.
Was sind die populärsten Regel-Irrtümer bei Spielern und Fans?
Dass der Strafstoß in einem Zug ausgeführt werden muss. Das ist schon seit Jahren nicht mehr vorgeschrieben. Der Spieler darf aber den Anlauf verzögern und sogar abstoppen. Was er nicht darf, ist, nach vollendetem Anlauf die Schussbewegung anzutäuschen oder abzubrechen, um dann erneut auszuholen. Finten beim Anlauf sind erlaubt, Finten nach Abschluss des Anlaufs dagegen nicht. Ein weiterer Irrtum: Der Kapitän hat Sonderrechte. Nein, hat er nicht. Er ist nur der erste Ansprechpartner des Schiedsrichters. Auch gern genommen: Das ist das erste Foul, dafür kann es kein Gelb geben. Natürlich kann es das.
Wie weit kann Ermessensspielraum gehen?
Es geht vor allem darum, die 50/50-Situationen nicht so auszulegen, dass sie immer nur zugunsten einer Mannschaft entschieden werden. Vergleichbare Zweikämpfe müssen identisch bewertet werden. Klare Vergehen müssen aber immer gepfiffen werden. Bei 50/50-Fällen sollte es möglichst eine Balance geben. Das ist dann die viel zitierte Linie des Schiedsrichters, die im besten Fall von beiden Teams akzeptiert wird. Spieler sollen die Spiele entscheiden, nicht der Schiedsrichter.
Wie zufrieden sind Sie mit dem VAR?
Es hat ja einen Grund, warum immer mehr Ligen den VAR einführen. Denn: Wenn wir die Emotionen mal beiseite lassen, filtert er tatsächlich die meisten klaren Fehlentscheidungen heraus. Das sind dann die, über die wir gar nicht sprechen. Über die würden wir aber reden, wenn es den VAR nicht gäbe. Das Versprechen von Gerechtigkeit war allerdings von Anfang an zu groß. Der VAR schafft aber mehr Korrektheit in der Spielleitung, er reduziert die Zahl der gravierenden Fehler tatsächlich. Sorgt er im Gegenzug für andere Probleme in einem Sport mit vielen Ermessensspielräumen? Ja. Insbesondere beim Thema Handspiel. Die Mischung aus Video-Assistent und Handspiel ist toxisch, weil es so schwer ist, bei Handspielen die Grenze zu ziehen, ab wann eine Entscheidung wirklich glasklar falsch ist.
Emotionen beiseite lassen? Die Menschen gehen aber wegen der Emotionen ins Stadion. Durch den VAR fällt die wichtigste Emotion, der Torjubel, fast komplett weg. Ist es das wert?
Es gibt verschiedene Perspektiven auf den VAR. Wenn Fans sich beschweren und sagen, dass der Torjubel nur noch unter Vorbehalt steht und damit das Erleben des Spiels komplett verändert wird, ist das ist ein vollkommen legitimer Einwand. Für diese Fans stört der VAR die Spontaneität und die Emotionen. Auch die Klubs, die den VAR vor allem aus ökonomischen Gründen haben wollten, wissen, dass es problematisch ist, sie sagen aber insgeheim: Unsere Sicherheit ist dieses Opfer wert. Und die Schiedsrichter freuen sich, dass sie zumindest vor den ganz dicken Fehlern geschützt werden.
Wie könnte man den VAR verbessern?
Challenges für beide Mannschaften wie im Football halte ich für eine mögliche Lösung: Jedes Team bekommt eine pro Halbzeit, wird die Entscheidung dann geändert, gibt es noch eine. Dann würde die Diskussion wegfallen, wann der Video-Assistent eingreift. Diese Rolle würde dann den Mannschaften übertragen werden. Nur Abseits nach Toren und ein mögliches Handspiel des Torschützen werden dann noch automatisch geprüft.