Günter Netzer wird 75„Mit kurzen Haaren sah ich bescheuert aus“
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Günter Netzer, ehemaliger Starspieler von Borussia Mönchengladbach, feiert seinen 75. Geburtstag.
Der Spielmacher duellierte sich während seiner Karriere mit seinem Freund, der FC-Ikone Wolfgang Overath.
Im Stadionmuseum ist ihm eine Sonderausstellung gewidmet. Netzer bezeichnet Overath als den besseren Nationalspieler.
Köln/Mönchengladbach – Keine zwei Minuten steht Günter Netzer im Foyer des Stadions von Borussia Mönchengladbach umringt von einstigen Mitspielern mit grauen Haaren, da geht es schon ums Laufen. Alle hätten es für Netzer getan, tun müssen, erzählen seine einstigen Zuarbeiter Berti Vogts und Herbert Wimmer, aber auch Rainer Bonhof und Jupp Heynckes, wie Netzer alle Weltmeister von 1974. Und dann taucht Karl-Heinz Drygalski auf, der ehemalige Konditionstrainer der Borussen – „der Schleifer, der uns zehn Jahre unseres Lebens gekostet hat“, wie Netzer gespielt verärgert in die Runde wirft.
Doch wie alt sich Netzer wegen Drygalski auch fühlen mag, der Kalender mit den Jahreszahlen ist eindeutig: 75 wird Netzer an diesem Samstag, weshalb ihm auch seit Anfang September eine Sonderausstellung in der Fohlenwelt, dem vereinseigenen Museum gewidmet ist. Der Titel: „Aus der Tiefe des Raumes“.
Die legendäre Disco im Gladbacher Westend
In der Tiefe des Museumraumes staunt Netzer mit den Weggefährten von einst, seiner Frau Elvira und seiner Tochter Alana über sein vor ihm ausgebreitetes Leben. Seine Fußballerzeit in Mönchengladbach von 1963 bis 1973 ist das zentrale Thema. Aber auch Netzers Anfänge als Geschäftsmann werden vorgestellt, die mit einem Werbeverlag begannen, der das „Fohlen-Echo“ verantwortete, die Vereinszeitung der Borussia. Und die damals in der Disco „Lovers Lane“ im Gladbacher Westend kulminierten, deren Theke auch in der Netzer-Schau zu sehen ist. Beides Mittel zum Zweck: Eine Gehaltsaufbesserung, die bewirkte, dass Netzer in Mönchengladbach blieb, seiner bevorzugten sportlichen Umgebung.
Beim ersten Rundgang nicht dabei ist Wolfgang Overath, Netzers großer Spielmacher-Rivale vom 1. FC Köln. Doch wenn man ihn nach Netzer fragt, gerät Overath ins Schwärmen: „Der Lange war einer der größten Spieler seiner Zeit. Er hatte die überragende Fähigkeit, ein Spiel zu lenken, an sich zu ziehen. Er hat Bälle gefordert, konnte den Ball abdecken und großartige Pässe spielen, zudem waren seine Freistöße brandgefährlich. Seine Stärke war, dass er geniale Züge im Kopf hatte.“ Overath sagt das als Freund, die Konkurrenz habe das Verhältnis der Beiden nie getrübt. Netzer bestätigt das alles. Und lobt auch den Spieler Overath.
Zu sehen sind in der Ausstellung zudem großartige Bilder des Fotografen Manfred Babucke, der Netzer besonders nahe kam und ihn vor 50 Jahren als Stilikone der späten 1960er und frühen 1970er Jahre inszenierte, modisch seiner Zeit voraus. Babuckes Meisterfoto erklärt den damaligen Netzer auf einen Blick: Es ist fünf Uhr morgens, Netzer steht lässig auf der leeren Straße der Uerdinger Rheinbrücke, weißes Hemd, Schlaghose, Lederjacke, die Daumen seiner Hände verharren in Gürtelhöhe, die langen Haare sind nach rechts gescheitelt, die Scheinwerfer seines Ferraris leuchten. Hat es je einen lässigeren Vertreter der Spezies Fußballer in diesem Land gegeben?
Netzer: Der Star, der Inszenierer
Netzer beherrscht das Spiel der Inszenierung. Nicht nur bei Fotosessions. In den 1970er Jahren galt er als Rebell mit langen Haaren, als linker Fußballutopist, als aufsässig und subversiv. Eine interessante Fehlinterpretation, sagt Netzer dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Die profane Wahrheit: „Meine damalige Freundin fand, dass ich mit kurzen Haaren bescheuert aussah. Also habe ich das mitgemacht.“ Ein politisches Statement sei das nie gewesen: „Mit Aufsässigkeit gegen das Establishment hatte das nichts zu tun.“
Und von wegen Playboy: „Jedes Mal, wenn ich mit einem Mädchen fotografiert wurde, hatte ich eine Affäre am Hals. Das war wunderbar. Das habe ich nicht dementiert. Aber es stimmte nicht.“ Doch diese Geschichten steigerten Netzers Image und seinen Marktwert. Denn: „Ich habe einen Sinn für Chancen gehabt, die das Leben mir geboten hat. Man muss nur zugreifen. Und da habe ich eine Gabe gehabt, dieses zu tun.“
Mit Gladbach wurde Netzer zweimal deutscher Meister, 1970 und 1971, nachdem er, der auffälligste Spieler der Borussia, seinem Trainer klar gemacht hatte, dass dessen Hurra-Fußball zwar schön aussieht, aber keinen Effekt hat. Also ließ Hennes Weisweiler die Abwehrbullen Ludwig Müller und Klaus-Dieter Sieloff verpflichten und gab dem Team die Statik, die zum Titeldurchbruch führte. In Madrid gewann Netzer zwei weitere Meistertitel. Und zwei Pokalfinals.
Als Manager erlebte er mit dem HSV drei Meisterschaften und 1983 den Gewinn des Europapokals der Landesmeister. Der TV-Experte Netzer erhielt 2000 den Grimme-Preis. Seine spätere Funktion als Händler von Fernsehrechten machte ihn zu einer wichtigen Figur des deutschen Fußballs. So viel zum Thema Chancen nutzen.
Beschämt über die eigene Ausstellung
Heute wirkt Netzer ausgeruht, der blonde Scheitel ist immer noch da, gut sieht er aus. Seine Herzoperation vor drei Jahren, die Einpflanzung von sechs Bypässen, habe er „wunderbar verarbeitet“. Gerührt und beschämt sei er über die Ehre einer eigenen Ausstellung. Und natürlich lacht Netzer, ein Meister der Selbstironie, viel über sich.
An diesem Samstag, seinem 75. Geburtstag, empfängt der 1. FC Köln in der Bundesliga das Team aus Mönchengladbach, es ist das große rheinische Derby, das einst Overath und Netzer geprägt und zu der Attraktion gemacht haben, die es heute noch besitzt. Zur Aktualität fällt Netzer nichts ein, in dieser Saison hat er beide Teams noch nicht spielen sehen. Damals aber war Netzer gegen Köln besonders erfolgreich, zehn Tore gelangen ihm in den Partien gegen den FC. Den berühmtesten dieser Treffer erzielte er im Pokalfinale 1973.
Als er, formschwach, zunächst auf der Bank saß, um sich dann, beim Stand von 1:1, in der Verlängerung selbst einzuwechseln. Seinem Trainer Weisweiler sagte er: „Ich spiele dann jetzt.“ Keine Intervention. Und dann das: Netzer trifft kurze Zeit später mit links in den Winkel. 2:1. Der Sieg. Heute sagt Netzer: „Stellen Sie sich dieses Happy End in einem Film vor. Diesen Mist will doch keiner sehen, was für ein Kitsch. Aber das war ja die Realität. Unglaublich.“ Overath sagt: „Wahnsinn. Wechselt sich selbst ein, der Ball rutscht ihm ab, aber er haut das Ding rein. Das zeigt, dass der Lange Mumm hatte und von sich selbst überzeugt war.“ Solche Geschichten und Typen, sagt Elvira Netzer, „gibt es heute doch gar nicht mehr“. Es war Netzers letztes Spiel für die Borussia. Anschließend wechselte er zu Real Madrid.
Overath war der bessere Nationalspieler
Nur bedingt jedoch konnte sich Netzer in der Nationalelf durchsetzen. Denn: „Overath war der bessere Nationalspieler im Vergleich zu mir.“ Er aber, Netzer, habe gewusst: „Im Verein kann ich besser spielen. Da habe ich meine vertrauten Leute um mich.“
Und so spielte Netzer, zu Beginn der WM 1974 nicht in bester Verfassung, beim Heimturnier nur gut 20 Minuten in der Vorrunde gegen die DDR, eingewechselt für den ihm ansonsten vorgezogenen Overath. Der Westen verlor 0:1, der Treffer fiel bald nachdem Netzer den Platz betreten hatte, danach war er draußen. Aber: „Ich habe nicht gelitten.“ Overath lobt Netzers kollegiales Verhalten in den WM-Tagen von 1974: „Er hat niemals Theater gemacht, er war extrem fair, er hat das alles getragen und hingenommen. Das zeigt, dass er eine außergewöhnliche Persönlichkeit ist, ein anständiger, feiner Kerl.“
1972 jedoch, bei der Europameisterschaft, als Overath mit einem Leistenbruch ausfiel, hat Netzer in der Nationalelf brilliert. Er dirigierte Deutschland im Vierer-Endturnier in Belgien zum Titelgewinn. Schon im Viertelfinal-Hinspiel gegen England machte Netzer ein grandioses Spiel. Deutschland gewann 3:1 in Wembley, woran ein Jahr später Karl-Heinz Bohrer erinnerte, der Londoner Kulturkorrespondent der FAZ.
In einem Essay über das mythische Stadion schrieb Bohrer: „Der aus der Tiefe des Raumes plötzlich vorstoßende Netzer hatte »thrill«.“ Thrill, für Bohrer so etwas wie Spannung und Erbeben, sei unter anderem eine „vor Glück wahnsinnig machende Explosion im Strafraum“. Netzer sagt: „Ein toller Satz des Herrn Bohrer, der mir einen großen Dienst erwiesen hat“. Denn egal, wo er auch heute noch auftaucht – Netzer kommt immer aus der Tiefe des Raumes. Natürlich auch in seiner Ausstellung. Sein Laudator, der Künstler Markus Lüpertz, nimmt das Wembley-Spiel in seiner Rede auf. Netzer, der Siegfried mit den wehenden blonden Haaren, der vorbeiläuft an auf dem Boden liegenden Engländern, die er dribbelnd erledigt wie der Held den Drachen, habe an jenem Abend Ende April 1972 auf dem Rasen hell geleuchtet. Mehr noch: „Günter Netzer war kein Spieler. Er war das Spiel selbst.“
In der Tiefe des Raums
Zuletzt arbeitete Netzer als „Executive Director“ der Sportrechteagentur „Infront“ in seinem Wohnort Zürich. Vor zwei Jahren beendete er seine langjährige Tätigkeit dort. Und wieder habe er eine Chance genutzt: die, konsequent und ohne Wehmut auszusteigen.
Jetzt aber werde er die Ausstellung verlassen. Müde sei er, so viele Eindrücke. Netzer biegt ab zum Ausgang. Und verschwindet in der Tiefe des Raumes.