Olympia 1972 in MünchenTerror, der die Welt schockte
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München – Palästinenser attackieren die Spiele in München – sie treffen auf deutsche Einsatzkräfte, die elf israelische Geiseln nicht retten können.
Der in München angestellte Polizeipsychologe Georg Sieber entwirft Ende 1971 insgesamt 26 Bedrohungsszenarien, sogenannte „Lagen“, die die Kraft besitzen, die Olympischen Spiele in seiner Stadt zu erschüttern. Anfang 1972 präsentiert Sieber, damals 36 Jahre alt, seinen Kollegen die von ihm ausgearbeitete „Lage 21“. Sie ist derart prophetisch formuliert, dass es einen beim Lesen des Inhalts graust. Sie geht von einem Angriff von palästinensischen Terroristen auf die israelische Mannschaft im Olympischen Dorf von München aus. Nicht allzu verwegen, weil palästinensischer Terror seit dem Ende der 1960er Jahre eine reale Bedrohung ist.
„Lage 21“ antizipiert nun einen palästinensischen Angriff: „Ein Freischärler-Kommando hat gegen fünf Uhr früh den Zaun des Dorfes überstiegen. Die Eindringlinge haben den Wohnblock der israelischen Mannschaft besetzt.“ Zwei Israelis würden getötet. Für die Angreifer gehe es laut Siebers Modell darum, die Freilassung von Gefangenen aus israelischen Gefängnissen zu erreichen, wobei zur Flucht ein Flugzeug bereitgestellt werden müsse. Sieber schlägt vor, die Athleten nach Sportarten, nicht nach Nationen im Olympischen Dorf unterzubringen.
Polizeipräsident Manfred Schneider sieht durchaus eine Gefahr für israelische Athleten in München, hält aber seine Maßnahme, diese Sportler so weit wie möglich von arabischen Athleten entfernt unterzubringen, für ausreichend. Sieber kanzelt er brüsk ab.
Acht Terroristen klettern über den Zaun des Olympischen Dorfs
Und dann passiert es doch. Am frühen Morgen des 5. September 1972, die Spiele laufen seit nunmehr zehn Tagen, klettern acht Terroristen des palästinensischen Kommandos „Schwarzer September“ über den Zaun des ungesicherten Olympischen Dorfes. Sie entern das Haus in der Connollystraße 31. In den Appartements eins bis sechs der 24 Wohneinheiten sind 21 von 30 Mitgliedern des israelischen Olympiateams untergebracht – Athleten, Trainer, Schiedsrichter.
Um 4:44 Uhr erreicht der erste Notruf die Münchner Polizei. Die Terroristen schaffen es mit Mühe, Gewalt und Schüssen, Appartement eins zu stürmen. In Appartement eins stirbt der angeschossene Ringertrainer Moshe Weinberg, als erstes israelisches Opfer der Attentäter. Zwei Israelis gelingt die Flucht aus der Wohnung, acht weitere fliehen aus den benachbarten Unterkünften. Zehn weitere sind ihre Geiseln. Der Gewichtheber Yossef Romano, der mit einem Messer auf die Angreifer losgeht, wird von mehreren Kugeln getroffen. Er überlebt zunächst.
Die Attentäter stellen nun ihre Forderungen. Zu lesen auf Blättern, die Luttif Afif, genannt „Issa“, der Anführer der Gruppe, auf die Straße wirft. 234 in Israel inhaftierte Palästinenser stehen auf der Liste, außerdem noch die RAF-Terroristen Andreas Baader und Ulrike Meinhof. Bis neun Uhr sind sie alle freizulassen, dazu wird freies Geleit und ein aufgetanktes Flugzeug gefordert, das die Terroristen in die Freiheit fliegen soll – ansonsten würden die nach Weinbergs Tod noch zehn Geiseln sterben, die in Appartement drei zusammengetrieben worden sind, darunter Romano, dessen Todeskampf zwei Stunden dauert. Die Terroristen lassen ihn verbluten. Siebers Lage 21 ist nun bis in Details hinein real.
Als die Nachricht in Israel eintrifft, steht schnell fest: Auf gar keinen Fall dürfe den Forderungen der Terroristen entsprochen werden. Später sendet das Fernsehen live von der Anschlagstelle – und informiert so auch die mitschauenden Terroristen in ihrem Quartier. Bis zu 70 000 Neugierige versammeln sich zudem im Umfeld der Geiselnahme. Sieber will die TV-Übertragungen unterbinden lassen, damit die Terroristen nicht aller Polizeipläne gewahr werden können. Der Psychologe wird aber nach Hause geschickt. Er kündigt noch am selben Tag.
Schützen wollen im Dorf wie Aktive aussehen
Das Ultimatum wird immer wieder verlängert. Befreiungspläne laufen an. Schützen der Polizei ziehen sich Sportkleidung an und wollen im Dorf wie Aktive aussehen. Schreiber, Willi Daume, der Chef des Organisationskomitees der Spiele, Walther Tröger, der Bürgermeister des Olympischen Dorfes, sowie der bayerische und bundesdeutsche Innenminister, Bruno Merk und Hans-Dietrich Genscher, sind Teil der Verhandlungsdelegation, die mit Issa diskutieren.
Genscher und Tröger begeben sich sogar in das Appartement mit den Gefangenen, um zu erfahren, um wie viele Attentäter es sich handelt. Sie nehmen fünf Terroristen wahr.
Israels Regierung bietet an, eine in Befreiungsaktionen geübte israelische Einheit nach München zu schicken. Das wird abgelehnt, denn das deutsche Grundgesetz verbietet den Einsatz von Sicherheitskräften aus dem Ausland. Allerdings eilt Zvi Zamir nach München, der Chef des israelischen Geheimdienstes Mossad. Seine Expertise ist bei den Deutschen jedoch nicht gefragt.
Als Crew getarnte junge Polizisten sollen die Terroristen überwältigen
Zuletzt einigt man sich auf den nun auch zivil genutzten Militärflugplatz in Fürstenfeldbruck als Ort der Geiselübergabe. Eine Lufthansa-Maschine wird dort geparkt. Doch das Flugzeug hat nur wenig Kerosin getankt. Zwölf als Crew verkleidete Polizisten, junge Freiwillige, die nicht für diesen Einsatz ausgebildet sind, sollen, im Innern versteckt, die Palästinenser überwältigen. Ihnen allen wird im Flugzeug aber klar, zu was für einem Himmelfahrtskommando sie auserkoren sind. Die Freiwilligen brechen den Einsatz ab, sie verlassen das Flugzeug und erhalten dafür Verständnis.
Nur noch ein Plan bleibt übrig: Attacke auf dem Flugfeld. Dafür hat man fünf Schützen postiert, für jeden angenommen Terroristen einen. Die Polizisten vor Ort haben keinen Funkkontakt, das Netz funktioniert nicht. Erst als die Attentäter im Olympischen Dorf die beiden Hubschrauber besteigen, die sie und die aneinander gefesselten neun Geiseln nach Fürstenfeldbruck bringen sollen, wird klar, dass es sich nicht um fünf, sondern um acht Geiselnehmer handelt. Diese Nachricht gelangt nicht nach Fürstenfeldbruck. Um 22.35 Uhr landen die Hubschrauber an ihrem Bestimmungsort. Flutlicht leuchtet.
Issa und Yusuf Nazzal, Kampfname „Tony“, ein weiterer Terrorist, checken die Lage im Flugzeug und sehen, dass es leer ist. Sie wissen jetzt: Es wird keinen Abflug geben. Sie rennen zu den Hubschraubern zurück. Nun beginnt eine wilde Ballerei. Issa und Tony werden schwer verwundet, sie überleben die Nacht nicht. Auch die Einsatzleitung im Tower wird beschossen, eine Kugel trifft den Beamten Anton Fliegerbauer tödlich. Einer der Attentäter erschießt fünf Israelis im ersten Hubschrauber, zwei weitere feuern auf die vier verbliebenen im zweiten Fluggerät.
Die für einen Befreiungseinsatz nötigen Panzerwagen stecken im Stau fest, den Neugierige in Fürstenfeldbruck provozieren. Es ist unglaublich. Als sie zum Einsatz kommen, wirft ein Terrorist eine Handgranate in den zweiten Hubschrauber, in dem nun der noch lebende israelische Gewichtheber David Berger als letzte der elf Geiseln stirbt.
Neben den Israelis sterben fünf Terroristen
Um ein Uhr ist der Einsatz beendet: Es sterben neben den Israelis auch fünf Terroristen. Die drei Überlebenden werden in eine Justizvollzugsanstalt gebracht. Zuvor, gegen 23.30 Uhr, nimmt das Gerücht seinen Lauf, die Geiseln seien lebend befreit worden. Diese Falschmeldung wird als Nachricht in die Welt gesendet. Gegen drei Uhr erfolgt die Korrektur.
Am 6. September um zehn Uhr beginnt die Trauerfeier im voll besetzten Olympiastadion. Dort sagt und entscheidet somit IOC-Präsident Avery Brundage aus Chicago: „The games must go on.“ So geschieht es.
Die drei noch lebenden Attentäter werden bald nach Libyen ausgeflogen. Zwei von ihnen werden später vom Mossad getötet. Einer soll noch heute in einem nordafrikanischen Staat leben.
In der Bundesrepublik wird als Konsequenz aus dem kolossalen Versagen die GSG 9 gegründet. Sie soll die Spezialeinheit werden, die dieser Staat noch nicht besitzt.
Die Angehörigen der israelischen Opfer beklagen lautstark die stümperhafte Polizeiaktion, sie kämpfen für ein würdiges Gedenken. Und fühlen sich bis heute nicht angemessen von dem Land entschädigt, dem sich ihre Verwandten anvertraut haben.