Immer mehr Täter suchen ihre Opfer über Online-Portale. Eine betroffene Mutter berichtet. Und „Zartbitter Köln“ klärt auf.
KindesmissbrauchWenn der Babysitter der Täter ist
Es ist ein Freitagnachmittag Ende Januar vergangenen Jahres, als Nina. T. (Name geändert) einen Anruf der Kriminalpolizei erhält, der sich, wie sie sagt, wie ein schwarzes Loch in ihre Seele brennen wird. „Es geht um Ihre Zeugenaussage in einem Missbrauchsfall“, sagt der Beamte am anderen Ende der Leitung. Der heute 50-jährigen Erzieherin schießen Fragen wie Blitze durch den Kopf.
„Habe ich mich falsch verhalten? Nein, die Rede ist ja von einer Zeugenaussage! Hat ein Kollege, eine Kollegin sich etwas zuschulden kommen lassen? Ein Elternteil?“ Dass es um ihre Familie geht, hätte Nina T. „im Leben nicht gedacht“. „Hatten Sie zwischen 2013 und 2015 einen männlichen Babysitter? Dann bitten wir Sie ins Präsidium zu kommen“, durchbricht der Beamte Nina T.s Gedankengewitter – nur für einen Moment, denn sie muss die Frage mit „Ja“ beantworten. Auf ihre Bitte nach mehr Informationen erhält sie ein „Nein“.
Wermelskirchener Babysitter sucht Opfer über Online-Portale
Bis zum ausgemachten Termin drei Tage später bleibt „unendlich viel Zeit für Spekulationen der schlimmsten Art. Gar nichts zu wissen, war für mich grausamer, als Fakten zu erfahren“, sagt Nina T. Ihr inzwischen jugendlicher Sohn ist eines von mindestens 13 kindlichen Opfern des Wermelskirchener Missbrauchstäters, der im April vom Kölner Landgericht zu 14 1/2 Jahren Haft verurteilt wurde und seine Dienste als Babysitter auch über Online-Plattformen anbot.
Nach neuesten Erhebungen fehlen allein in NRW rund 100.000 Kita-Plätze. Schon die Corona-Pandemie hat gezeigt, wie sehr Familien unter dem Betreuungsmangel litten: Kitas waren geschlossen, Vereinsarbeit nicht möglich und Alternativen im Freundeskreis überstrapaziert, sodass Eltern sich scheuten, sie schon wieder in Anspruch zu nehmen. In Notzeiten wie diesen, versuchen junge Familien zunehmend über Internetplattformen wie „betreut.de“, „babysitter.de“ oder „Ebay-Kleinanzeigen“ Betreuungspersonen zu finden. Die meisten von ihnen sind seriös.
Mehr Fälle durch Pandemie-bedingten erhöhten Betreuungsbedarf
„Viele dieser freiberuflich tätigen Babysitter verhalten sich kindgerecht. Leider nutzen, vermehrt auch Pädokriminelle Internetplattformen, um mit Eltern und möglichen Opfern in Kontakt zu kommen“, sagt „Zartbitter“-Leiterin Ursula Enders. Babysitter deshalb unter Generalverdacht zu stellen wäre fatal. Doch Kinderschützer sind sich einig: Missbrauchsfälle durch Babysitter haben infolge der Pandemie und dem damit verbundenen erhöhten Betreuungsbedarf zugenommen.
Täterstrategien erkennen - „Zartbitter“-Broschüre klärt auf
- Die Infobroschüre „Gesundes Misstrauen gegenüber Babysittern schützt Kinder vor Missbrauch“ stellt u.a. Strategien vor, die Täter nutzen, um über Online-Plattformen mit Familien in Kontakt zu treten.
- Ein gesundes Misstrauen sollten Eltern entwickeln, wenn Babysitter...
- ... sich bei Kindern einschleimen, ihnen Geschenke machen, die vorher nicht mit den Eltern abgesprochen waren
- ... sich selbst kindisch verhalten
- ... mit Kindern „Doktor spielen“ oder bei der „Pflege“ Grenzen verletzen
- ... Kindern den Eindruck vermitteln, ihre Eltern seien mit ihnen befreundet, denn betroffene Kinder gehen oft davon aus, dass ihre Eltern ihnen nicht glauben, wenn sie sexuelle Übergriffe durch Erwachsene erleben
- ...das Recht am eigenen Bild missachten, von Kindern Fotos oder Videos machen, sie auf dem eigenen Handy speichern oder gar posten und versenden
- ...auffallend viele, zeitlich aufwendige Aktivitäten mit Kindern außerhalb der Wohnung unternehmen
- ...die Autorität der Eltern untergraben, indem sie Dinge oder Verhaltensweisen erlauben, die die Eltern verboten haben
- ... Kinder auffordern, ohne offensichtlichen Grund die Kleidung zu wechseln
- ... Betreuungszeiten des Kindes ohne Absprache weiter ausdehnen oder die Kinder bei sich übernachten lassen.
- Hier gibt es die Broschüre zum Download online
So hat auch das Team von „Zartbitter“, der Kölner Fachstelle gegen sexuellen Missbrauch an Jungen und Mädchen in den vergangenen zwei Jahren häufiger in Fällen beraten, in denen das Vertrauen von Eltern durch Babysitter ausgenutzt und Kinder sexuell ausgebeutet wurden – darunter auch Nina T.
Nach der Trennung von ihrem Mann im Jahr 2008 ist die alleinerziehende Mutter auf Babysitter angewiesen. Ihr jüngster Sohn ist zwei Jahre alt, der ältere zehn und am Down-Syndrom erkrankt. „Mindestens 20 Babysitter waren es in all den Jahren, darunter auch Männer. Ich bin vom Fach, habe mir die Bewerberinnen und Bewerber genau angeschaut, auch wie meine Söhne auf sie reagieren. Ich habe sie penibel instruiert, mir zu sagen, wenn ihnen etwas komisch vorkommt. Es ist nicht zu begreifen, dass trotzdem etwas passiert ist“, sagt Nina T. Und weint.
Zollstocker Babysitter vor Kölner Gericht
In Köln steht gerade ein 34-jähriger Babysitter vor Gericht, der laut Anklage 37 Taten an 22 Kindern, zwischen eineinhalb und sieben Jahren, begangen haben soll. Im Rahmen der Ermittlungen großer Missbrauchsskandale wie diesem, aber auch von Wermelskirchen, Bergisch Gladbach und Lügde decken die Strafverfolgungsbehörden heute anhand einer riesigen Bild-Datenmenge mehr Missbrauchsfälle an Kindern auf – neue digitale Techniken machen es möglich. Keine Frage, die Ermittlungserfolge führen dazu, dass mehr Kinder vor weiterer Gewalt geschützt werden können.
Im Rahmen der Ermittlungen werden aber auch häufig Eltern von der Polizei eingeladen, die anhand des vorliegenden Bildmaterials ihr Kind als Opfer sexueller Gewalt, die Jahrzehnte zurückliegt, identifizieren sollen. Oder sie müssen Fotos ihrer Kinder zum Datenabgleich einreichen, und dann teils wochenlang auf die Antwort warten, ob ihr Kind, Opfer war oder nicht. „Aus unserer Beratungspraxis wissen wir, dass eine solche Vorladung für Eltern oft eine tiefe Ohnmachtserfahrung bedeutet“, sagt Zartbitter-Beraterin und Kindertherapeutin Ilka Villier.
Zwar legten die Beamten meist nur Abbildungen des Gesichts des Kindes oder von Gegenständen wie Spielzeug oder Kleidung vor, und nicht vom Tathergang, doch im Bewusstsein der Eltern würden sich dann häufig Fantasien über mögliche Missbrauchshandlungen einbrennen. Ob sie stattgefunden haben oder nicht. „Neben den betroffenen Kindern, brauchen auch deren Eltern massive Unterstützung, denn diese Fantasien sind ungeheuer belastend, für ihre psychische Stabilität, für die Eltern-Kind-Beziehung und dafür, das Kind bei der Verarbeitung der Gewalterfahrung zu unterstützen“, ergänzt Enders.
Sollen Eltern Kinder über zurück liegenden Missbrauch informieren?
Nina T. geriet als Mutter und in ihrer Elternrolle an ihre Grenzen, musste eine Tagesklinik besuchen, eine Traumatherapie und war monatelang arbeitsunfähig. „Sobald die Kinder aus dem Haus waren, saß ich auf dem Sofa, konnte nur noch atmen, und auch dafür fehlte mir die Kraft.“ Bei „Zartbitter“ erhält sie schließlich die Hilfe, nach der sie aus eigener, kaum vorhandener, Kraft, lange suchen musste – und auch Antwort auf die quälende Frage: Soll ich es meinem Sohn sagen, und wie?
„Das muss in jedem Einzelfall differenziert betrachtet werden. War das Kind Opfer eines Missbrauchs durch einen Babysitter, der heute keinen Kontakt mehr zur Familie hat, war es noch sehr klein, und hat keine Auffälligkeiten entwickelt, kann es sinnvoll sein, es erst zu einem späteren Zeitpunkt zu informieren, um es nicht zu belasten“, sagt Villier. Opfern, die zur Tatzeit fünf Jahre und älter waren, könne es dagegen helfen, die Gewalterfahrungen vorsichtig anzusprechen, um dem Kind die Chance zu geben, eventuell wiederkehrende Erinnerungsfetzen einzuordnen und die traumatischen Erfahrungen zu verarbeiten. „Auf jeden Fall sollten Eltern das Kind im Rahmen einer Beratung bei einer Fachstelle gut darauf vorbereiten.“
Nina T. entscheidet sich dazu, ihren 16-jährigen Sohn, der damals zwischen sieben und neun Jahre alt war, aufzuklären. „Er wurde wahrscheinlich sediert, hat keinerlei Erinnerung, das war, so paradox es klingen mag, seine Rettung, denn er zeigt bislang keine Auffälligkeiten“, sagt Nina T. Ihr Sohn wurde trotz ihres Wissens um Gefahren, Opfer eines Missbrauchs. „Wir haben die Erfahrung gemacht, dass zu viele Eltern keinerlei Informationen über Täterstrategien haben und ihre Kinder deshalb Menschen anvertrauen, die sie trickreich täuschen“, sagt Villier.
Das hat Zartbitter zum Anlass genommen, eine neue Info-Broschüre herauszubringen, in der Erfahrungen von Eltern, Täterstrategien und Tipps für weitere Hilfsangebote vorgestellt werden. „Viele Täter und Täterinnen testen, ob Eltern ihre Kinder mit klaren Regeln für Babysitter vor Grenzüberschreitungen schützen. Nicht selten geben die ihren Job in der Familie auf, wenn sie merken, dass Mütter und Väter sich aktiv für die Achtung der Grenzen ihrer Kinder einsetzen“, ermutigt Enders. Eltern sollten sich austauschen und an eine Beratungsstelle wenden, wenn sie das Verhalten einer Betreuungsperson irritiert.