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Pandemie-FolgenKölner Erklärung fordert mehr Hilfe für psychisch kranke Jugendliche

Lesezeit 6 Minuten
Acht Jugendliche stehen vor einer knallgrünen Mauer, sie haben am Runden Tisch „Pandemiefolgen: Perspektiven für unsere Jugend“ teilgenommen, sind zum Teil selbst betroffen oder sind Mitglieder der Bezirkschülervertetung.

Am Runden Tisch „Pandemiefolgen: Perspektiven für unsere Jugend“ haben auch betroffene Kölner Jugendliche und Schülervertreterinnen teilgenommen.

Zu viele junge Menschen leiden bis heute unter den Folgen der Pandemie, gleichzeitig werden Hilfsangebote gestrichen. Ein Runder Tisch in Köln fordert die Politik jetzt zum Handeln auf.

„Ich habe unter der Isolation sehr gelitten, fühlte mich permanent einsam. Im zweiten Lockdown kam ein sehr destruktives Verhalten dazu: Ich war viel bei TikTok unterwegs, habe mich ständig mit anderen verglichen, mein Selbstwertgefühl lag am Boden, ich hörte auf zu essen“, erzählt Maja, 18, (alle Namen folgender, betroffener Jugendlicher geändert). Die Abiturientin besucht das Albertus-Magnus-Gymnasium in Ehrenfeld.

Ich hatte Suizidgedanken, habe mich selbst verletzt und versucht, es vor meinen Eltern zu verstecken. Diese negative Stimmung von damals, während der Pandemie, ist trotz einiger Therapien noch in meinem Kopf. Die Schule ist mir fremd, das Leben finde ich sinnlos. Ich stehe morgens auf und habe null Bock auf alles
Betroffener 16-jähriger Kölner Schüler, der anonym bleiben möchte

Peer hatte in dieser Zeit häufig Suizidgedanken. „Ich habe mich selbst verletzt und versucht, es vor meinen Eltern zu verstecken. Diese negative Stimmung von damals ist trotz einiger Therapien noch in meinem Kopf. Die Schule ist mir fremd, das Leben finde ich sinnlos. Ich stehe morgens auf und habe null Bock auf alles“, sagt der 16-jährige Schüler der Europaschule in Zollstock.

Beengte Wohnsituation und ein wütender Vater

Auch Mona, 16, litt massiv unter den Einschränkungen der Pandemie. „Wir wohnten zu dritt in einem Zimmer, das war sehr anstrengend. Mein Vater hat seinen Frust an mir ausgelassen, mich ständig kleingemacht. Viele Situationen endeten in handfesten Streits. Ich hatte permanent Angst, etwas Falsches zu sagen. Damit mein Vater nicht immer ausrastet, wurde ich immer introvertierter.“ Mona ist dem Stress dieser toxischen Familiensituation dank therapeutischer Hilfe entkommen.

Diese drei Jugendlichen stehen stellvertretend für unzählige weitere junge Menschen, die noch heute, zwei Jahre nach der Pandemie, unter den Folgen der damit verbundenen Einschränkungen leiden. Maja, Peer und Mona haben gemeinsam mit Kölner Schülervertreterinnen und -Vertretern am Runden Tisch „Pandemiefolgen:Perspektiven für unsere Jugend“ teilgenommen, zu dem das Deutsche Institut für Kinder- und Jugendgesundheit (DIKJ) Vertreterinnen und Vertreter von Jugendeinrichtungen, Wissenschaft, Medizin und Therapie ins Bürgerzentrum Ehrenfeld eingeladen hat.

Kölner Erklärung wird auf den Weg nach Berlin gebracht

Gemeinsam verabschiedeten sie die „Kölner Erklärung“, die von der Politik strukturelle und gesundheitsfördernde Maßnahmen, sowie gezielte Prävention und ausreichende therapeutische Versorgung fordert. Die Erklärung wird nun an Vertreterinnen der Vertreter der politischen Parteien, an Landes- und Bundesministerien geschickt – und als Petition im Deutschen Bundestag eingereicht.

Teilnehmende des Kölner Runden Tisches „Pandemiefolgen: Perspektiven für unsere Jugend!“ vom Deutschen Institut für Kinder- und Jugendgesundheit (DIKJ), der Universität Leipzig, der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, der Falkenfamilie Recklinghausen und des „transfer e.V.“

Teilnehmende des Kölner Runden Tisches „Pandemiefolgen: Perspektiven für unsere Jugend!“ vom Deutschen Institut für Kinder- und Jugendgesundheit (DIKJ), der Universität Leipzig, der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, der Falkenfamilie Recklinghausen und des „transfer e.V.“

Zum Hintergrund: Vor allem die Schließungen von Bildungs- und Freizeiteinrichtungen und der Mangel an sozialen Kontakten haben immens viele junge Menschen bis heute aus der Bahn geworfen. „Sie leiden weiterhin vor allem unter den sozialen Folgen, die weitreichende Auswirkungen auf die Gesundheit haben. So hat sich die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die aktuell unter Schlaf-, Ess- und Kontaktstörungen, Ängsten, Übergewicht oder nachlassenden schulischen Leistungen leiden, stark erhöht, oft sogar verdoppelt“, sagt Reinhard Mann.

Je länger diese jungen Menschen unbehandelt bleiben, desto stärker prägen sich die Störungen aus und desto teurer wird die Behandlung. Wir dürfen sie nicht alleine lassen, es geht um die Zukunft der nächsten Generation
Reinhard Mann, Geschäftsführer Deutsches Institut für Kinder- und Jugendgesundheit (DIKJ)

Der Geschäftsführer des DIKJ und Mitinitiator des Runden Tisches warnt: „Je länger diese jungen Menschen unbehandelt bleiben, desto stärker prägen sich die Störungen aus und desto teurer wird die Behandlung. Wir dürfen sie nicht alleine lassen, es geht um die Zukunft der nächsten Generation.“ Mann prognostiziert zudem enorme gesellschaftliche Kosten: „Sollte nicht entgegengesteuert werden, ist absehbar, dass sich etwa die Zahl der Diabetiker verdoppelt.“

Zahl der jungen Hilfesuchenden hat sich versechsfacht

Die Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und die Kliniken verzeichnen im Vergleich zu „Vor-Corona-Zeiten“ oft den sechsfachen Unterstützungsbedarf. Doch der dramatisch erhöhten Zahl Hilfesuchender steht ein viel zu kleines Hilfsangebot gegenüber. Es fehlt an Therapie- und Klinikplätzen, öffentlich finanzierte Beratungsangebote in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe gibt es weniger als vor der Pandemie. Die Wartezeiten für Beratung und therapeutische Behandlung haben sich verlängert – auf bis zu einem Jahr und mehr.

Beim Runden Tisch vertreten war auch der in er in Köln ansässige Verein „transfer e. V.“, der sich seit mehr als 40 Jahren bundesweit stark macht für die Gesundheitsförderung. „Niemals war die Situation junger Menschen so multifaktoriell belastet wie jetzt nach der Pandemie. Und zu keinem Zeitpunkt seit unserem Bestehen war der Bedarf an Gesundheitsförderung für junge Menschen größer“, sagt die Projektmanagerin von „transfer e.V.“ Sandra Anders.

Kölner „Gut-Drauf“-Kampagne wird nicht weiter finanziert

Deshalb findet es ihre Vereinskollegin Barbara von Eltz „unfassbar, dass die Politik ein so nachhaltiges und etabliertes Programm wie die ‚Gut Drauf‘‘-Kampagne, mit der wir seit 30 Jahren täglich mehr als 25.000 Kinder und Jugendliche in ihren Lebenswelten erreichen, nicht weiter finanziert.“

„Ich bin nächste Woche in Berlin, führe Gespräche mit dem gesundheitspolitischen Sprecher der FDP und dem Vorsitzendem der Kinderkommission. Wir müssen jetzt die politische Ebene dazu kriegen, dass die Finanzierung der Pandemie-Folgen für Kinder und Jugendliche bei den Haushaltsverhandlungen Thema ist. Wenn der Posten im nächsten Jahr nicht im Bundeshaushalt steht, ist die Finanzierung vieler gut laufender Programme gefährdet“, sagt Mann. In seinem Reisegepäck befindet sich neben der „Kölner Erklärung“ auch ein Video, in dem Jugendliche ihre persönlichen Erfahrungen während des Lockdowns schildern und die Auswirkungen auf ihren Alltag bis heute verdeutlichen.

Viele Mitschülerinnen und Mitschüler leiden nach wie vor unter gravierenden psychischen Störungen, betroffen sind häufig Jugendliche aus sozial schwachen Familien, die sich einen privaten Therapeuten nicht leisten können
Arda Caliskan, Kölner Bezirksschülervertretung (BSV)

Fehlendes Geld und eine gesicherte Weiterfinanzierung ihres „Mental-Health“-Projekts ist aktuell auch bei der Kölner Bezirksschülervertretung (BSV) ein großes Thema. Die BSV vertritt 150.000 Schülerinnen und Schüler und ist nah dran an den Schicksalen. „Viele Mitschülerinnen und Mitschüler leiden nach wie vor unter gravierenden psychischen Störungen, betroffen sind häufig Jugendliche aus sozial schwachen Familien, die sich einen privaten Therapeuten nicht leisten können. Deshalb haben wir das Workshop-Projekt zur Förderung der mentalen Gesundheit ins Leben gerufen und dafür 50.000 Euro von der Stadt Köln erhalten. Leider ist die Weiterfinanzierung nicht gesichert. Wir haben eine enorme Nachfrage und es tut weh, so viele Anträge ablehnen zu müssen“, sagt der Vertreter der Kölner BSV Arda Caliskan.

Sparmaßnahmen in der Jugendhilfe bedrohen mentale Gesundheit

Der 17-Jährige wünscht sich mehr Partizipation, Mitbestimmung und eine größere Wahrnehmung der Belange von jungen Menschen in der Politik und Öffentlichkeit. Klaas, 16, findet es wichtig, dass soziale Projekte nachhaltiger unterstützt werden. Peer hofft darauf, dass die Politik auf die Hilferufe der Jugendeinrichtungen hört und rasch handelt, damit die finanziellen Defizite in der Jugendarbeit nicht „zu einem schlimmen Erwachen mit Ansage“ führen. Svenjas, 17, Wunsch an die Politik ist, dafür zu sorgen, dass es mehr Therapieplätze gibt. Maja hat zwar keine konkreten Wünsche, möchte aber allen Betroffenen Mut machen, sich trotz langer Wartezeiten zwingend therapeutische Hilfe zu holen: „Ich habe dank professioneller Hilfe meine Essstörung und meine Suizidgedanken hinter mir lassen können.“


Forderungen der Kölner Erklärung

Kinder und Jugendliche haben keine Kompensation für die während der Pandemie erlittenen Einschränkungen erhalten und werden weitgehend allein gelassen. Jetzt müssen die gemachten Versprechen eingelöst werden! Deshalb sind folgende Maßnahmen dringend erforderlich:

  1. 1. Maßnahmen zur Gesundheitsförderung:
  2. Entwicklung und Ausbau von Programmen zur Gesundheitsförderung in relevanten Bereichen
  3. Unterstützung und Ausbau bewährter Programme und Strukturen zur Gesundheitsförderung (z.B. Sprachkitas, „Gemeinsam.Gesund.Wachsen“, GUT DRAUF-Kampagne); Beendigung der „Projektitis“
  4. Verbesserung und Vermehrung der Betreuungsstrukturen in der offenen Kinder- und Jugendarbeit, Schulsozialarbeit und Vereinsarbeit
  5. Gesundheitskompetenz und -lehre als Schulfach etablieren
  6. Frühkindliche Gesundheitsförderung insbesondere in Kitas ausbauen
  7. Streetwork-Projekte etablieren
  8. Die Partizipation in allen Bereichen ausbauen
  1. 2. Maßnahmen zur gezielten Prävention:
  2. Entwicklung von Programmen zur gezielten Prävention von Beeinträchtigungen
  3. Angebot spezifischer Förderprogramme zur Frühbegegnung von Störungen und Beeinträchtigungen
  4. Schulungsangebote zur Qualifizierung von Fachpersonal
  5. Sensibilisierung der Fachkräfte, Alltagscoaching
  6. Qualifizierung und professionelle Unterstützung von Fachpersonal im Umgang mit relevanten Störungsbildern
  1. 3. Maßnahmen zur therapeutischen Versorgung:
  2. Reform der psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen
  3. Gestraffte und kostengünstige Ausbildung von Therapeut*innen und Ärzt*innen
  4. Verbesserung der Personalsituation in versorgungsrelevanten Einrichtungen zur Verkürzung von Wartezeiten
  5. Zulassung weiterer niedergelassener Kinder- und Jugendtherapeut*innen und -psychiater*innen
  6. Niederschwellige Angebote schaffen und entsprechend publizieren
  7. Enttabuisierung der Inanspruchnahme von therapeutischer Hilfe
  8. Förderung der interdisziplinären Zusammenarbeit

4. Strukturelle Maßnahmen:

  1. Bereitstellung von Haushaltsmitteln durch Bund und Länder, um strukturelle Ungleichheiten auszugleichen und notwendige Unterstützung in Gesundheitsförderung, Prävention und therapeutischer Versorgung zu gewährleisten
  2. Verpflichtung der Krankenkassen, Mittel aus dem Präventionsfond zweckgebunden bereitzustellen
  3. Verbesserung der Personalsituation in Betreuungseinrichtungen der offenen Kinder- und Jugendarbeit durch langfristige Bereitstellung entsprechender Mittel
  4. Öffentliche Vergabeverfahren für Gesundheitsförderung, Prävention und therapeutische Angebote nach evidenzbasierten Kriterien
  5. Besondere Förderprogramme zum Ausgleich von Chancenungleichheit, insbesondere für sozial und finanziell benachteiligte Kinder und Jugendliche
  6. Fortlaufende wissenschaftliche Beobachtung der Kinder- und Jugendgesundheit, insbesondere pandemiebedingter Störungsbilder
  7. Jährlicher Bericht über Maßnahmen und Ergebnisse in Bundestagsausschüssen 

Das Zusammenwirken aller dieser Bereiche ist unerlässlich, um der stark gestiegenen Anzahl und Schwere der Störungsbilder zu begegnen und spätere chronische Gesundheitsstörungen zu vermeiden. Dies sollte durch eine entsprechende Arbeitsgruppe (IMA mit Expert*innen) gefördert und kontrolliert werden. Wir fordern den politischen Willen, den Auswirkungen der Pandemie-Maßnahmen auf die Psyche und Gesundheit der Kinder und Jugendlichen durch entsprechende langfristige strukturfördernde Maßnahmen entgegenzuwirken und die psychischen und gesundheitlichen Belange von Kindern und Jugendlichen zu einem zentralen Thema politischen Handels zu machen.

Pädagogische Hochschule Ludwigsburg, Falkenfamilie Recklinghausen, Universität Leipzig, transfer e.V., Deutsches Institut für Kinder- und Jugendgesundheit e.V. (DIKJ)