Der frühere Ford-Chef Gunnar Herrmann über Fehler der Vergangenheit, warum die Politik Mitschuld trägt an der Misere, wie es für Ford weitergeht und wo die Chancen liegen.
Branche in der Krise„Die deutsche Autoindustrie war vielleicht zu sehr berauscht von sich selbst“
Herr Herrmann, die deutsche Autoindustrie steckt in einer tiefen Krise. Wie ernst ist die Lage?
Gunnar Herrmann: Ernst! Wenn man sich die Industrie in den vergangenen zehn Jahren anschaut, so konnte man schon damals davon ausgehen, dass es in Europa kein starkes Wachstum mehr geben wird. Corona hat die Situation weiter verschlechtert. Allein in den vergangenen sechs Jahren hat die Produktion in der deutschen Autoindustrie um 20 Prozent abgenommen.
Nun droht bei VW massiver Stellenabbau – was lange als Tabu galt. Ford hat wie andere Hersteller auch bereits tausende Jobs gestrichen…
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Obwohl die Produktion stark zurückgegangen ist, sank die Zahl der Beschäftigten im gleichen Zeitraum nur um 6,5 Prozent - davon entfällt der kleinere Teil auf die Autobauer, der größte Teil dagegen auf die Zulieferer. Hinzu kommt jetzt noch die Transformation zur Elektromobilität, infolgedessen weniger Arbeitskräfte gebraucht werden. Jetzt haben alle Hersteller einen Punkt erreicht, an dem klar ist, dass man mit diesen Überkapazitäten nicht weiter wirtschaften kann.
Die Nachfrage nach deutschen Autos und vor allem E-Autos ist deutlich eingebrochen. Warum ist „Made in Germany“ offenbar nicht mehr so gefragt?
Aufgrund der schwachen Konjunktur und der Absatzschwäche weltweit haben alle globalen Hersteller ihre Bilanzen nach unten korrigieren müssen. Dabei kommt dem Markt in China, immerhin dem größten Automarkt der Welt, eine besondere Bedeutung zu. Mit der Strategie, vor allem Premium-Produkte zu verkaufen, kommen die deutschen Autobauer nicht mehr weiter, weil ihnen dort die heimische Konkurrenz mittlerweile technologisch den Schneid abkauft.
Inwiefern?
Die chinesischen Hersteller sind in der Vergangenheit mit dem Bau von Verbrennern gescheitert und haben sehr klug komplett auf E-Mobilität umgesteuert. Mittlerweile bieten sie vernünftige Produkte zu vergleichsweisen günstigen Preisen an und forcieren den Verkauf im Land mit Vorgaben und Vergünstigungen. Außerdem treffen sie den Nerv der jüngeren Generation durch das große digitale und vernetzte Angebot in den Fahrzeugen.
Sind die goldenen Zeiten nun endgültig vorbei?
Wir als deutsche Autoindustrie sind stehen geblieben und waren in der Vergangenheit vielleicht auch zu sehr berauscht von uns selbst. Die alte Philosophie, nach der sich etwa ein VW-Golf oder ein Ford-Focus Millionen Mal verkauft hat, funktioniert nicht mehr. Zukünftig reicht der reine Verkauf von Autos nicht mehr aus. Geld wird zukünftig und zunehmend über die digitale Architektur verdient, also die kostenpflichtige Nutzung von Apps und Features. Im Moment kommt also einiges zusammen und die Industrie steht gerade mit dem Rücken zur Wand. Es ist erschreckend, wie wir darauf politisch reagieren, aber auch wankelmütig in der Industrie.
Nämlich wie?
Wir schauen nicht nach vorne, sondern blicken zurück auf die glorreichen Zeiten und sagen: „Lass uns noch etwas weiter machen, da waren wir so gut.“ Jetzt wird das Verbrenner-Aus verteufelt. Aber irgendwann will diese Fahrzeuge kein Kunde mehr. Fossile Brennstoffe werden aufgrund von Co2-Abgaben immer teurer. Die Hersteller müssen sich mit ihrem Co2-Flottenausstoß den neuen EU-Grenzwerten anpassen und bei Verfehlung Strafen zahlen. Ich würde vorschlagen: „Schaut nach vorne und stellt euch der Herausforderung und beschleunigt den Klima-neutralen Ausbau und die Digitalisierung!“ Hier muss man sich politisch einen und der Industrie Leitplanken und Planungssicherheit geben.
Einige Hersteller werden ab 2025 hohe Strafen zahlen müssen. Kann die ohnehin geschwächte Industrie das stemmen? Oder sollte die Anhebung der Grenzwerte verschoben werden?
Schon für kleinere Hersteller könnten Strafen im hohen zweistelligen Millionenbereich drohen. Für große Hersteller wie etwa VW können es auch gut 250 Millionen sein – und das jedes Jahr. Aber es ist ein gesamteuropäisches Gesetz und Deutschlands Stellung auf dem Verkehrssektor ist nicht mehr so stark wie früher. Es wird vielleicht aufgrund der schwierigen Marktlage kleinere Anpassungen geben können, aber im Prinzip wird der Zeitplan wohl eingehalten – wenn es die EU weiterhin ernst meint, 2050 klimaneutral sein zu wollen. Natürlich können wir die Klimaziele ignorieren und bauen weiter den guten alten Verbrenner. Aber die Welt um uns herum entwickelt sich weiter und wir fallen dann nur weiter zurück.
Debatte über Verbrenner-Aus, kurzfristige Abschaffung der Förderung von E-Autos - auch die Politik scheint noch nicht im Zeitalter der E-Mobilität angekommen.
Wir brauchen von Seiten der Politik zwingend mehr Verlässlichkeit. Sie hat durch die Diskussion um das Verbrenner-Aus für sehr viel Verunsicherung gesorgt – sowohl bei den Verbrauchern als auch bei der Industrie und den Investoren. Nach Einführung der Förderung für Stromer 2020 stieg die Nachfrage deutlich an. Aber leider war diese Förderung so konzipiert, dass sie eigentlich nur die Kaufpreise gesenkt hat. Viele konnten sich plötzlich ein Auto in einer höheren Klasse leisten. Damit wurden die Segmente verfälscht. Zeitgleich wurde aber die Infrastruktur nicht aggressiv ausgebaut. Dann wurde die Förderung fast über Nacht eingestellt. Damit kollabierte der Markt, weil die Menschen verunsichert wurden. Das war auch eine Klatsche für die Industrie, die bereits Milliarden in die Umstellung investiert hat. Allein Ford hat zwei Milliarden in das Kölner Werk investiert. Welcher Investor glaubt noch daran, wenn die Politik ihre Meinung immer wieder kurzfristig ändert? Viele Hersteller schrauben aufgrund der Unsicherheit gerade ihre Investitionen zur E-Mobilität wieder zurück, weil verlässliche Leitplanken nicht mehr gegeben sind.
Jetzt soll wieder gefördert werden – vor allem Dienstwagen. Ein richtiger Schritt und reicht er aus?
Wenn jetzt wieder subventioniert wird, wird das ein teurer Sport. Im Klartext, es wird richtig Geld kosten. Denn es geht um mehr als den Autoabsatz. Es geht um Ladeinfrastruktur, Netzausbau und die Infrastruktur überhaupt, die jahrelang vernachlässigt wurden, inklusive der zukünftigen digitalen Verkehrsleitstruktur. Autos werden in einigen Jahren rechnergestützt fahren. Asiatische Städte haben längst damit begonnen, diese Infrastruktur aufzubauen. Aber wenn wir weiter zu den besten Autoherstellern und -standorten weltweit gehören wollen, dann müssen wir den Weg zu High-End-Technologie und zur E-Mobilität gemeinsam konsequent gehen.
Ford setzt mit den beiden neuen E-Modellen Explorer und Capri aus Köln alles auf eine Karte. Geht die Rechnung auf?
Ford hat sehr früh gesagt, dass man erst 2027/8 mit der E-Mobilität profitabel sein wird. Die Situation hat sich mit dem schwachen Markt leider verschlechtert. Sicher hätte man den Fiesta, wie einige gefordert haben, noch etwas länger bauen können. Aber auch mit Blick auf die EU-Grenzwerte hätte das wenig Sinn gemacht. Daher hat die Company entschieden, konsequent zu transformieren. Beide Modelle sind klasse und decken unterschiedliche Kundensegmente ab. Sie haben eine sehr gute Chance am Markt.
Wie sind denn die Erwartungen an den Verkauf, damit man in der US-Zentrale sagt: Die Strategie ist aufgegangen?
Das Kölner Werk hat eine installierte Produktionskapazität von bis zu 250.000 Fahrzeugen im Jahr. Wenn davon allerdings - das gilt für die gesamte Industrie und nicht nur für Ford - die volle Kapazität nicht dauerhaft genutzt wird, werden Investoren das Interesse verlieren, denn es wird zu wenig Rendite erwirtschaftet. Sicher, Ford hat derzeit weniger PKW-Modelle am Markt als andere Hersteller. Aber wenn wir kostengünstige Strukturen und Produkte wollen, dann muss man sich auf eine Technologie konzentrieren. E-Autos und Verbrenner parallel zu bauen, ist nicht effizient.
Wo steht der Ford-Standort Köln in fünf Jahren?
In Köln wurde ein phänomenaler Job gemacht, in dem ein Werk aus den 1930-Jahren jetzt zu einem der modernsten E-Werke umgebaut wurde. Dieses Werk hat alles, was es braucht, um erfolgreich zu sein und ist technologisch an vielen Stellen führend.
Und wie steht es um die Zukunft der deutschen Autoindustrie – Wiederaufstieg oder dauerhafter Absturz?
Die deutsche Industrie stürzt nicht ab. Das, was wir derzeit erleben, sind die schmerzhaften Begleiterscheinungen der Transformation. Der Prozess zur Anpassung der Technologie, Ressourcen und Kapazitäten braucht Zeit und Geduld. Aber Industrie und Politik müssen sich den Aufgaben stellen! Und das tun wir zurzeit nicht ausreichend. Innovationsgeist und Ingenieurskunst hatten wir immer, aber jetzt scheint es, dass wir Angst haben vor dem Fortschritt. Das müssen wir nicht.
Zur Person
Gunnar Herrmann wurde 1959 in Leverkusen geboren. 1979 begann er als Auszubildender bei Ford seine Laufbahn. Nach der Lehre studierte er in Hamburg Fahrzeugbau und erwarb an der britischen Loughborough University einen Master-Abschluss. 1986 fing Herrmann im Entwicklungszentrum in Köln-Merkenich in der Karosserie-Konstruktion an. Ab 1994 leitete er verschiedene Fahrzeugprojekte und entwickelte den Focus. Seit 2012 war er Mitglied der Geschäftsführung, seit 2017 Deutschland-Chef von Ford. Er wechselte Ende 2021 in den Aufsichtsrat des US-Autobauers. Seit 2020 ist er zudem auch Vorstandsvorsitzender des Verbands Arbeitgeber Köln.