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Kölner Gewerkschaftschef Roßmann„Die Streikwelle ist nur mit der in den 70er Jahren vergleichbar“

Lesezeit 6 Minuten
Dr. Witich Roßmann, Vorsitzender DGB Köln PK Stadt Köln Coronakrise Köln 08.04.2020 Foto: Uwe Weiser

Witich Roßmann ist Vorsitzender des DGB in Köln

Kölns DGB-Chef verteidigt zum 1. Mai die Streiks und ihre Auswirkungen auf Familien und Pendler. Die Anhebung der Anwohnerparkgebühren nennt er „hochgradig unsozial“.

Herr Roßmann, wir erleben Streiks wie seit Jahren nicht mehr. Man kann den Eindruck gewinnen, dass gezielt die Bereiche bestreikt werden, die besonders viele Menschen treffen und weniger die Arbeitgeber. Warum ist das so?

Roßmann: Wir hatten Streiks in der Metall- und Elektroindustrie, in der Lebensmittelindustrie, auch in der Chemieindustrie. Da waren die Unternehmen direkt betroffen. Den Eindruck, den Sie beschreiben, gibt es eigentlich nur im Bereich des öffentlichen Dienstes. Bahn und Kitas eben, wo es von den Gewerkschaften nicht gewollte Nebenwirkungen gibt, die aber schwer zu vermeiden sind. Natürlich werden wir weiter über Streikkonzepte reden, die möglichst die treffen, die wir treffen wollen, nämlich die Entscheidungsträger in den Unternehmen und Kommunen.

Noch einmal konkret. Sind die Auswirkungen des Streiks auf die einfachen Leute ein Kollateralschaden, den Sie bewusst in Kauf nehmen, um mehr mediale Aufmerksamkeit zu bekommen?

Nein, das liegt an der fehlenden Wertschätzung der Berufe in der öffentlichen Daseinsvorsorge. Hier gibt es gibt viel Nachholbedarf bei den Gehältern.

Läuft man mit den Streiks in Kitas, auf Flughäfen und bei der Bahn nicht Gefahr, statt der Arbeitgeberseite die eigene Klientel zu treffen, also Eltern, Pendler?

Deshalb diskutieren wir weiter über Streikkonzepte. Aber wir registrieren bei den aktuellen Streiks ein großes Verständnis in der gesamten Bevölkerung. Das Anliegen kommt an, weil alle auch von der Inflation betroffen sind. Die Streiks in den Kliniken für Entlastungstarifverträge stoßen auf große Sympathie, weil jeder, wenn er ins Krankenhaus kommt, von ausgeruhten, nicht gestressten Schwestern und Ärzten sorgfältig behandelt werden möchte. Das gilt auch für die Forderung der IG Metall nach der Vier-Tage-Woche in der Stahlindustrie.

Trotzdem hat man den Eindruck, dass es jeden Tag einen Streik gibt, der den Normalverbraucher trifft. Flug, Bahn, öffentlicher Dienst. Ist das nicht ein bisschen viel auf einmal?

Diese Streikwelle, auch in Großbritannien und Frankreich, ist nur mit der in den 70er Jahren vergleichbar. Und sie hat Ursachen! Unsoziale Rentenreformen in Frankreich, Rekordinflation im Brexit-Britannien, überlastete Beschäftigte in allen Branchen. Für die Streiks in Deutschland gibt es einen weiteren Grund, den allein die Arbeitgeber zu verantworten haben. Sie haben jahrelang alle möglichen Unternehmensbereiche zur Kostensenkung ausgegliedert, zum Beispiel im Flugverkehr: Jetzt gibt es für jeden Bereich eigene Haustarifverträge, Sicherheitspersonal, Bodenpersonal. Das Sicherheitspersonal zum Beispiel, das waren früher alles Beschäftigte des Flughafens. Aber jetzt gibt es keine Flächentarifverträge mehr. Jede Gruppe muss ihre eigenen Interessen durchsetzen. Das führt zu dieser aktuellen Häufung von Streiks. Die enge Vernetzung zeigt bei jedem Streik direkte Auswirkungen. Das ist in der Privatwirtschaft nicht anders: Wenn beim Zulieferer alle Räder stillstehen, stehen auch bei Ford die Bänder still.

Wie lassen sich die lästigen Streiks verhindern?

Nur eine Renaissance der Flächentarifverträge kann Dauerstreiks verhindern. Faire Löhne für alle Branchen, für Frauen und Männer brauchen wir eine Ausweitung der Tarifbindung: Das ist eine unserer Forderungen zum 1. Mai 2023.

Wie bewerten Sie die vorgeschlagene Einigung beim Tarifstreit im Öffentlichen Dienst? 10,5 wollten Sie haben, 5,5 Prozent kriegen Sie …

Falsch: Die dauerhaften Tariftabellen steigen um 200 Euro, darauf 5,5 Prozent: Das summiert sich im Schnitt auf 11,6 Prozent, für untere Gruppen sogar 16 Prozent. Ein tragfähiger Kompromiss, auch wenn durch die hohe Inflation der letzten Jahre noch ein Reallohnverlust übrig bleibt. Ich kenne keinen Bereich ohne Gewerkschaften und Tarifverträge, in dem Beschäftigte solche Lohnsteigerungen durchsetzen konnten.

Wir haben keine Lohn-Preis-Spirale, da sind sich Ökonomen und EZB einig
Witich Roßmann, DGB-Chef

Sind solche Abschlüsse eine gute Werbung für Sie?

Sowohl IG Metall als auch Verdi haben in diesen Streiks einen erheblichen Mitgliederzuwachs, gerade von jüngeren. Die Leute sehen, dass die Kaufkraft entwertet wird, dass Gewerkschaft notwendig ist. Das war so lange nicht der Fall.

Diese Streiks wurden Warnstreiks genannt. Früher dauerte sowas ein, zwei Stunden, jetzt ganze Tage, teils mehrere. Sind das noch „Warnstreiks“?

Die Intensität von Warnstreiks korrespondiert immer mit der Haltung der Arbeitgeber und ihrer Kompromissfähigkeit. Die schwierige finanzielle Situation der Kommunen. Das hat den Spielraum für Kompromisse eingeschränkt. Das erklärt die Härte der Auseinandersetzungen. Der Rückgang der Mitbestimmung trägt auch zu härteren Arbeitskämpfen in Deutschland bei.

Hohe Lohnforderungen schüren bei Ökonomen die Sorge vor einer Lohn-Preis-Spirale, also die Inflation steigt durch die höheren Abschlüsse noch stärker. Haben wir eine Lohn-Preis-Spirale?

Nein, wir haben überhaupt keine Lohn-Preis-Spirale, da sind sich erstmals alle Ökonomen und die Europäische Zentralbank einig. Wir haben die Inflation, Pandemie, den russischen Angriffskrieg. Aber in vielen Branchen haben die Unternehmen nicht nur die gestiegenen Kosten, sondern teilweise das Doppelte an die Kunden weitergegeben. Deswegen registrieren wir mit Empörung, wenn sie jetzt den Aktionären stolz über verdoppelte Gewinne berichten, zum Teil bei niedrigeren Umsätzen. Das ist in der Chemie der Fall, im Handel auch, bei Auto und Metall ebenso.

Apropos Auto, Ford, größter Arbeitgeber Kölns, streicht den Einsteigerwagen Fiesta und baut stattdessen E-Autos zum zweieinhalbfachen Preis. Ist das eine Entdemokratisierung des Autofahrens? Keine Pkw mehr für Normalverdiener? Nur noch große Modelle als Strategie?

Genau deswegen haben sich die Arbeitnehmervertreter bei Ford dafür eingesetzt, dass Ford einen Wagen in Tradition von Fiesta oder Focus in Köln baut, der aber auch mit niedrigem Stromverbrauch erschwinglich bleibt.

Ist aus Ihrer Sicht die E-Auto-Förderung in Deutschland sozial gerecht?

Nein, aus unserer Sicht ist sie in hohem Maße ungerecht. Die Subventionen für große Fahrzeuge, Wallboxen, Mehrwertsteuersenkungen auf Solarzellen fördern die Leute mit eigenen Häusern und Garagen. Arbeitnehmer in Mietwohnungen und Innenstädten bleibt der Umstieg auf E-Mobilität versperrt, weil es an Ladesäulen mangelt. Da gibt es große Defizite in Köln. Die Kölner Zahlen sind nicht ambitioniert, viel kleinere Städte sind pro Ladesäule und Kopf viel weiter.

Wer muss da handeln in Köln?

Die Strategie muss getragen werden von Stadt und Rhein-Energie. Es fehlt das Bewusstsein, dass moderne Mobilität alles umfasst, E-Auto, Fahrrad, Bus, Bahn. Viele Arbeitnehmer nutzen eben abwechselnd alle diese Säulen. Die entscheiden täglich was am günstigsten ist für den jeweiligen Weg. Autofahrer fahren auch Rad, und auch Bahn. Außerdem bleibt insbesondere für Pendler das Auto so wichtig, dass wir neben ÖPNV und Rad auch das E -Auto für die Kölner Klimaziele brauchen. Und kleine, günstige E-Autos für Pflegepersonal und Pendler. Ebenso wie E-Transporter für Handwerker und Logistiker in der Innenstadt.

Kann die Verteuerung des Anwohnerparkens die Stadt von Autos entlasten?

Nein. Der Preis für Anwohnerparken ist keine Subvention für Autofahrer auf den öffentlichen Raum. Autofahrer zahlen Mineralöl- und Kfz-Steuer. Die finanzieren das selber. Er ist eigentlich nur Bearbeitungsgebühr zum Ausstellen des Ausweises. Der Ausweis gibt mir noch keinen Parkplatz, ich nehme nur an der Lotterie des Mangels teil. Und in den Reichenvierteln gibt es keine Anwohnerparkausweise, hier wird am Straßenrand kostenlos geparkt. Nur in den hochverdichteten Innenstadtbereichen, wo Normalverdiener wohnen, soll der Preis verzehnfacht werden. Das ist in hohem Maße sozial ungerecht.

Info zum Tag der Arbeit – Maifeiertag in Köln

12 Uhr Demo zum Heumarkt ab DGB-Haus, Hans-Böckler-Platz

13 Uhr Kundgebung auf dem Heumarkt mit Yasmin Fahimi (Bundesvorsitzende DGB) und Witich Roßmann (Vorsitzender DGB Köln)

14 Uhr Musik Brings (45 Minuten), Sarah Lesch, Culcha Candela u.a.

Am Freitag, 28. April, wird Daniela Cavallo (Betriebsratschefin Volkswagen) im Historischen Rathaus von OB Henriette Reker der Hans-Böckler-Preis 2023 verliehen