Köln/Düsseldorf/Lüdenscheid – Jeden Tag schnappt sich Reiner D. den blauen Plastikeimer und den Fensterwischer, um das Superwash-Schild in der Einfahrt zur Aral-Tankstelle an der Werdohler Landstraße vom gröbsten Dreck und einem klebrigen Schmierfilm zu befreien, den die Abgase Tausender Lastwagen aus halb Europa hinterlassen haben.
„Jeden Tag ist das hier eine Katastrophe“, brüllt der Tankwart dem Höllenlärm entgegen, den die Fernfahrer mit ihren Trucks verursachen, wenn sie die Sauerlandlinie an der Ausfahrt Lüdenscheid verlassen, abbremsen und sich in die endlose Schlange einreihen, die sich im Schritttempo vorwärts quält. Mitten durch Lüdenscheid. Dicht an dicht und so eng, dass sie den Kollegen, die im Gegenverkehr im Stau stehen, die Thermobecher mit Kaffee durchs Seitenfenster reichen könnten.
Google Maps hat die BrückeRahmede schon gelöscht
Bei Google Maps existiert die Talbrücke Rahmede an der A45 nicht mehr, deren Totalausfall seit Anfang Dezember eine ganze Region in Chaos stürzt. Zwischen Lüdenscheid und Lüdenscheid-Nord klafft auf der Karte eine große Lücke. Eine Lücke, die den Fernverkehr dennoch nicht davon abhält, die Sauerlandlinie zu nutzen.
20 000 Fahrzeuge täglich muss das Straßennetz von Lüdenscheid zusätzlich verkraften, darunter 6500 Lkw. Die weiträumigen Umleitungen hätten zwar einiges gebracht, „doch wir haben immer noch Fernfahrer, die einfach hier durchrollen, weil das günstiger ist und schneller geht“, sagt Sebastian Wagemeyer.
Lüdenscheids Bürgermeister wäre heilfroh, wenn die alte Brücke nicht nur bei Google Maps verschwunden wäre. Ende Januar soll es den nächsten Krisengipfel geben. Doch die Frage, ob man das 453 Meter lange Bauwerk einfach sprengen kann, wird bis dahin kaum beantwortet sein. „Wenn das nicht geht, müssen wir eine Behelfsbrücke errichten und alle Stahlteile von Hand abschrauben“, sagt Wagemeyer. Für ihn unvorstellbar.
Der SPD-Politiker ist zu allem bereit, um die Lage so schnell wie möglich in den Griff zu kriegen. Selbst der Galvanik-Betrieb unter der Brücke ließe sich umsiedeln, sollte er einer Sprengung im Wege stehen.
Wagemeyer fühlt sich machtlos. Anfangs seien Lastwagen sogar durch ein Wohngebiet gefahren, hätten in den Kurven „sämtliche Vorgärten plattgemacht. Die rauschen durch und sind weg.“
Seine Bitte um mehr Polizeikräfte habe der Märkische Kreis nicht erfüllt. Personalmangel. Wagemeyer hat einen zusätzlichen Blitzer angeschafft und prüfen lassen, ob man wenigstens nachts Lkw-Fahrverbote verhängen könne. „Wir dürfen das nicht, weil es keine andere Umleitungsstrecke gibt.“ Er kämpft um dreifachverglaste Lärmschutzfenster für Anwohner, deren Häuser keinen Wert mehr haben. „Die stehen vor den Scherben ihrer Existenz. Die Immobilienpreise sind im Keller.“
Bürgermeister fordert Sonderfonds für die Region
Madalena Müller kann das nur bestätigen. „Wir haben vor sechs Jahren das Haus gekauft. Jetzt verkaufen geht doch gar nicht. Wer will denn in so einer Situation hier hinziehen?" Vor allem nachts sei es schlimm. „Dann ist weniger Verkehr und die Lkw rasen in hohem Tempo hier durch. Da vibrieren die Jalousien. Erst hatten wir Corona und jetzt das. Ich kann mich nicht mal mehr auf den Sommer freuen. Unsere Terrasse können wir über Jahre vergessen.“
Bürgermeister Wagemeyer fordert einen Sonderfonds für die Region nach dem Vorbild der Fluthilfe mit niedrigen bürokratischen Hürden. „Wir müssen die Region in den nächsten Jahren attraktiv halten, damit sie nicht abgehängt wird.“ Das seien alles Probleme, „bei denen wir das letzte Glied in der Fresskette sind“. Die Sauerlandlinie sei die Lebensader von Südwestfalen. „Es geht nicht nur um den Anlieferverkehr in der Stadt und der Region. Wir reden hier auch von Halver, Kierspe und Meinerzhagen mit ihren Unternehmen.“
Lkw-Anteil auf dem Kölner Ring ist um 15 Prozent gestiegen
Welche Folgen die jahrelange Unterbrechung der Sauerlandlinie für das Autobahnnetz in NRW und den Kölner Ring haben wird, lässt sich nicht absehen. Die Autobahnen 1, 3 und 4 werden bis zur Fertigstellung des Neubaus in Lüdenscheid eine von zwei Ausweichrouten bleiben.
Der Lkw-Anteil auf dem Kölner Ring hat seit der Sperrung um 15 Prozent zugenommen, sagt ein Sprecher der Verkehrsleitzentrale Leverkusen. Die vorsichtige Kalkulation, nach der man derzeit nicht mit „gravierenden Folgen“ rechne, weise aber viele Unbekannte auf. Es sei unstrittig, dass die Sperrung der A45 „die Komplexität der Verkehrssituation im Rheinland weiter erhöht hat.“ Damit steige die grundsätzliche Stauanfälligkeit und es werde schwieriger, genaue Vorhersagen über mehrere Jahre zu treffen.
Am Freitag hat die Autobahn GmbH eine Entscheidung getroffen, die negative Auswirkungen für den Kölner Ring haben dürfte: Auf den A45-Wegweisern in den Kreuzen Westhofen und Olpe-Süd werden alle Fernziele gestrichen, die in Richtung Dortmund oder Frankfurt führen.
„Die eindeutige Streichung der Ziele auf den blauen Hinweistafeln trägt hoffentlich zu einer weiteren Reduzierung des Verkehrs in Lüdenscheid bei“, sagt Elfriede Sauerwein-Braksiek, Direktorin der Niederlassung Westfalen.
Lüdenscheids Bürgermeister kann sich noch weitaus effektivere Lösungen vorstellen. Wagemeyer hat das Land um Unterstützung gebeten. Das Verkehrsministerium möge eine Anmeldepflicht für den Fernverkehr auf der Sauerlandlinie prüfen. „Es muss doch möglich sein, eine Internetplattform zu schaffen, auf der Unternehmen und Speditionen ihre Fahrten anmelden. Bei der Fahrt auf die Autobahn werden die Kennzeichen gescannt. Wer dann unangemeldet trotzdem durch Lüdenscheid fährt, muss eine saftige City-Maut bezahlen.“ Solange der Umweg deutlich teurer sei, werde man das Problem nicht in den Griff bekommen. So stellt sich das der Bürgermeister vor.
Seit der Sperrung für alle Fahrzeuge über 3,5 Tonnen am 30. November 2012 galt die Leverkusener Rheinbrücke bundesweit als das Mahnmal der maroden Infrastruktur in NRW. Ein Desaster, das man sich schlimmer kaum vorstellen mochte. Der Fall Rahmede hat eine neue Qualität. Dass eine Brücke über Nacht komplett wegbricht und nicht einmal mehr für den Pkw-Verkehr genutzt werden kann, hat alle aufgeschreckt.
Verkehrsministerin will 300 Millionen Euro vom Bund
Die neue NRW-Verkehrsministerin Ina Brandes (CDU) hat einen Zehn-Punkte-Plan zur Beschleunigung von Brückenneubauten vorgelegt: „Wir schaffen die Voraussetzungen, mit Planung, Genehmigung und Bau viel schneller zu sein, als es bisher möglich war.“
Sie fordert vom Bund einen Sonderfonds von 300 Millionen Euro. Mit dem Geld solle auf Vorrat geplant werden, damit man im Ernstfall „Bauprojekte ohne Zeitverzug“ angehen könne. Das soll eine der Lehren aus Rahmede sein. Bereits 2016 hatten Ingenieure des damals noch für die Autobahnbrücken zuständigen Landesbetriebs Straßen NRW im Rat der Stadt Lüdenscheid gewarnt, dass die Brücke „eines der größten Sorgenkinder“ und „spätestens 2025 nicht mehr leistungsfähig“ sei. Eine Warnung, die ganz offensichtlich überhört wurde. Dieses Szenario ist drei Jahre früher eingetreten.
Überdies, sagt Brandes, müsse die seit Januar 2021 zuständige Autobahn GmbH des Bundes eine eigene Organisationseinheit „mit klaren Verantwortlichkeiten“ ausschließlich für die Brücken im Transitland NRW einrichten.
Die weiteren Forderungen des Zehn-Punkte-Katalogs sind nicht neu. Dass Ersatzbauten auch bei Erweiterungen vier auf sechs Spuren ohne erneute Planfeststellung und Umweltprüfung möglich sein müssen, das gesamte Verfahren von der Planung über die Genehmigung bis zum Bau nach einem verbindlichen Standard und natürlich digital erfolgen müsse, wird seit Jahren diskutiert.
Allein das, so die Verkehrsministerin, könne zu einer kürzeren Bauzeit von bis zu 18 Monaten führen. Auch Bonus-Malus-Regelungen sind längst vereinbart und werden bei der Leverkusener Brücke angewandt.
Ob das alles im Fall Rahmede weiterhilft? Dort haben die Ingenieure bei den Untersuchungen in einem Brückenpfeiler eine Fledermaus-Kolonie entdeckt. Wanderfalken sollen auch schon gesichtet worden sein. Man habe das im Blick und werde „wie bei allen Projekten“ alle Vorgaben des Naturschutzes einhalten, versichert eine Sprecherin der Autobahn GmbH. Das ist nur ein Beispiel, wie schnell ambitionierte Zeitpläne durcheinandergeraten können.
Kanzler fordert Bericht über alle Autobahnbrücken
Das Desaster von Lüdenscheid hat selbst Bundeskanzler Olaf Scholz alarmiert. Anfang Januar hat er eine Übersicht über Zustand aller 28 000 deutschen Autobahnbrücken eingefordert, von denen man bisher nur ganz grob weiß, dass rund die Hälfte in den kommenden Jahren das Ende ihrer berechneten Lebensdauer erreichen wird.
Wie es um ihren Zustand wirklich bestellt ist, darüber gibt es nur vage Angaben. Rahmede hat sich an das von den Experten prognostizierte Todesdatum leider nicht gehalten.
Man lege gerade eine sogenannte Bauwerks-Datenbank an, bestätigt ein Sprecher der Autobahn GmbH. Darauf aufbauend sei es möglich, einen umfassenden Bericht zu erstellen, „der die Datenauswertung und Zustandsbewertung der Autobahnbrücken von den Ländern übernimmt und aktualisiert.“
Dringlichkeitsliste über marode Brücken gibt es nicht
Diese Unterlagen der Landesbetriebe lagern größtenteils noch in Papierform in Aktenschränken. Die Landbetriebe waren bis Ende 2020 auch für die Autobahnen zuständig, ehe die Verantwortlichkeiten beim Bund zusammengeführt wurden.
Wie schwierig diese Recherchen sein können, hat sich nach dem schrecklichen Unglück auf der A3 bei Köln-Dellbrück gezeigt, bei dem im November 2020 eine Frau in ihrem Wagen von einer herabfallenden Betonplatte erschlagen wurde, die sich aus der Lärmschutzwand gelöst hatte. Die Ermittlungen sind bis heute nicht abgeschlossen.
Eine bundesweite Dringlichkeitsliste über die Brücken, die möglichst schnell ausgetauscht werden müssen, liege „zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht vor“, so der Sprecher, weil „für die unterschiedlichen baulich-konstruktiven Defizite und unterschiedlichen Restnutzungsdauern jeweils individuell verschiedene Maßnahmen zu prüfen und festzulegen sind. Teilweise sind dafür Bauwerksnachrechnungen erforderlich, die ebenfalls einen Zeitbedarf haben.“ Das klingt nicht danach, als werde diese Liste schnell kommen.
Immerhin: Nach Rahmede will die Autobahn GmbH bundesweit zumindest die Brücken untersuchen, die der gesperrten Talbrücke bei Lüdenscheid technisch gleichen, deren Überbauten also aus Stahl oder Stahlverbundteilen bestehen und die vor 1980 gebaut wurden. Insgesamt sind das 208.
Sonderprüfer seien unterwegs. Auf der Sauerlandlinie habe man die Talbrücken Brunsbecke und Kallenbach schon unter die Lupe genommen und dabei „keine neuen Informationen hervorgebracht“. Dennoch seien beide Brücken „vorsorglich abgelastet“ worden, die Kallenbachbrücke werde verstärkt. Sicher ist sicher.
Ob das ausreichen wird, weitere Fälle wie Rahmede zu verhindern? Schließlich wurde auch diese Brücke wie alle turnusmäßig alle sechs Jahre einer Hauptprüfung unterzogen. Zusätzlich fanden regelmäßige Sichtprüfungen statt. Dass die schweren und irreparablen Schäden dabei nicht entdeckt wurden, überrascht die Direktorin der Niederlassung Westfalen der Autobahn GmbH nicht.
Auf der A 45 müssen 60 Brücken neu gebaut werden
„Die Brücke ist 1968 für den Verkehr freigeben worden und damit mittlerweile 53 Jahre alt. Zuletzt ist dreimal mehr Verkehr darüber gefahren als früher geplant. Ausgelegt war die Brücke ursprünglich für maximal 25 000 Fahrzeuge am Tag. Außerdem sind die Lkw, die die Brücke am meisten schädigen, heute viel schwerer als früher“, sagt Elfriede Sauerwein-Braksiek. „Dazu kommen die zahlreichen Schwerlasttransporte, die nachts über unsere Autobahnen und Brücken geleitet werden. Und die Brücke hat eine sehr filigrane Bauweise, wie sie heute sicherlich nicht mehr angewendet würde. Auch der Stahl hatte früher nicht dieselbe Qualität wie heute. Das führt in Summe dazu, dass trotz zahlreicher Reparaturen und Sanierungen die Brücke heute nicht mehr für den Verkehr genutzt werden kann.“
Immerhin: Ein Zeitplan, wie und und wann die 60 Talbrücken auf der A 45, die neu gebaut werden müssen, liegt vor. 15 davon seien entweder in Bau oder kurz davor. Einige wie die Lennetalbrücke bei Hagen bereits fertiggestellt. Darüber hinaus würden mehrere Brücken verstärkt, um ihre Lebensdauer zu verlängern. „Bei fließendem Verkehr können wir nicht alle Brücken auf einmal angehen“, sagt Sauerwein Braksiek.
Lüdenscheids Bürgermeister Sebastian Wagemeyer kann das alles nachvollziehen. Allein es hilft ihm nicht weiter. Er lerne täglich dazu, welchen Rattenschwanz an Probleme die Brückensperrung nach sich ziehe. Die Einsatzfähigkeit der Feuerwehr sei auf Dauer nicht mehr garantiert, „weil die Gerätehäuser an der Umleitungsstraße stehen“ und von den Mitgliedern der Freiwilligen Feuerwehr im Ernstfall nicht schnell genug erreicht werden können“.
Deshalb sei er gezwungen, die Gerätehäuser mit Personal der Berufsfeuerwehr zu besetzen. „24 Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche.“ Das schreibe der Brandschutzbedarfsplan vor. „Diese Leute fehlen mir in der Hauptwache. Auch da benötigen wir dringend personelle und finanzielle Unterstützung.“
Stadt muss Schadstoffsammler aufstellen
Überall im Stadtgebiet werde man möglichst schnell Schadstoffsammler aufstellen müssen, um die Lärm- und Abgasbelastungen zu messen. „Eins kann ich jetzt schon sagen: Die sind enorm“, sagt Wagemeyer. „Es geht schließlich auch um die Gesundheit der Anwohner.“
Die Stadt werde in Kürze einen Gutachter beauftragen, der mal grob schätzt, „welche finanziellen Folgen die Brückensperrung für das gesellschaftliche und städtische Leben in den kommenden fünf Jahren haben könnte. Ich weiß gar nicht, ob man so etwas überhaupt berechnen kann.“
Für die Aral-Tankstelle an der Werdohler Landstraße kann Tankwart Reiner D. das schon nach ein paar Wochen ziemlich genau sagen. Die Straße sei voll, die Tankstelle leer. „Den Menschen, die sich morgens vor der Arbeit bei uns ihren Kaffee geholt haben, fehlt jetzt die Zeit, weil sie zu lange im Stau stehen. Die Geschäfte können nicht mehr erreicht werden, weil die Lastwagen alles blockieren.“
Dass die neue Brücke in fünf Jahren stehen wird, daran glaubt der Tankwart nicht. „Gucken Sie sich die Brücke doch mal an. Das ist doch ein Riesenvieh. So etwas schaffen in fünf Jahren nur die Chinesen. Oder die Italiener. Das haben sie nach dem Einsturz in Genua doch unter Beweis gestellt.“