Vor allem seit der Corona-Pandemie kommen immer mehr Kinder verfrüht in die Pubertät. Zugleich fühlen sich viele Menschen später erwachsen als frühere Generationen. Dauert die Adoleszenz also länger? Und falls ja: Sollte uns das Sorgen bereiten?
Die ewige AdoleszenzWann sind wir eigentlich erwachsen?
Nun überlegen Sie einmal!“ Richard Jaeger, CSU-Politiker und Vizepräsident des Bundestages, mahnt die Abgeordneten zur Vorsicht: „Wenn Sie die Volljährigkeit von 21 auf 18 herabsetzen, kann ein 18-Jähriger Immobilienverkäufe vornehmen, eine Erbschaft ausschlagen, er kann den kompliziertesten Prozess führen und sogar Bürgschaften eingehen.“
Doch die Warnung verhallt, damals im März 1974. Die Abgeordneten – von SPD über FDP bis zur Union – stimmten mit großer Mehrheit für die Absenkung der Altersgrenze: Seit dem 1. Januar 1975 gilt jeder und jede 18-jährige Deutsche als volljährig. Ohne Zustimmung der Eltern können sie über die eigene Ausbildung entscheiden, über Wohnsitz und Eheschließung. Doch machte sie die Volljährigkeit auch zu Erwachsenen?
2018 fragte das Meinungsforschungsinstitut YouGov rund 1000 über 18-Jährige in Deutschland, ab welchem Alter man bereit sei, eine verantwortungsvolle Position zu übernehmen. Die meistgegebene Antwort besagt, eine pauschale Auskunft sei nicht möglich. Nur 9?Prozent gaben an, man sei bereits mit 18 Jahren reif genug, ein Viertel dagegen befand, erst mit 25 Jahren sei man bereit, Verantwortung zu übernehmen – also sieben Jahre nach Erlangen der Volljährigkeit. Besonders interessant: Fast jeder Zweite geht davon aus, dass wir heute später erwachsen werden als früher.
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Diese Annahme leuchtet ein, wenn man das Alter betrachtet, in dem man typische „Schritte in die Erwachsenenwelt“ wagt: 1988 zog eine westdeutsche Frau im Schnitt mit 21 Jahren von zu Hause aus, mittlerweile passiert dies zwei Jahre später. 1991 war rund jeder zehnte 24-Jährige verheiratet, heutzutage nicht einmal mehr jeder fünfzigste. Das Durchschnittsalter einer Frau, die 1980 zum ersten Mal Mutter wurde, betrug in Ostdeutschland 22 Jahre, im Westen knapp 25. Mittlerweile liegt es bei 30 Jahren. Doch wie zuverlässig lässt sich an diesen Entscheidungen der Beginn des Erwachsenseins ablesen?
„Kind“, „jugendlich“, „erwachsen“: Hinter diesen alltäglichen Begriffen stehen Konzepte, die sich historisch herausgebildet haben. Lange Zeit galten Kinder als „kleine Erwachsene“, Kindheit als ein bloßes Durchgangsstadium. Geradezu revolutionär war 1762 die Forderung des Philosophen Jean-Jacques Rousseau: „Man muss den Erwachsenen als Erwachsenen und das Kind als Kind betrachten“ – als ein Wesen mit besonderen Neigungen und Bedürfnissen. Die Realität sah anders aus: Adlige Töchter und Söhne wurden oft schon mit zwölf Jahren verheiratet, und im Laufe der Industrialisierung erreichte die Kinderarbeit in europäischen Fabriken, Bergwerken und Minen ihren traurigen Höhepunkt. Wer also allzu sehr darauf pocht, heiraten, Kinder gebären oder der Einstieg ins Berufsleben seien verlässliche „Schritte ins Erwachsenenleben“, sollte diesen Hintergrund nicht ausblenden.
Wie aber kam die „Jugend“ in die Welt? Zu Zeiten Friedrich Schillers tauchte sie schon in schwärmerischen Versen auf: „Die Jugend brauset, das Leben schäumt / Frisch auf! eh der Geist noch verdüftet“, schreibt der Dichter 1797 in seinem „Reiterlied“. Doch zu einem eigenständigen Lebensabschnitt, relevant für die Breite der Gesellschaft, entwickelte sie sich erst später. Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Kinderarbeit allmählich eingedämmt und der technologische Fortschritt erforderte Arbeitskräfte mit präzisem Know-how. Anstatt direkt in den Betrieben verheizt zu werden, drückte die junge Generation die Schulbank, absolvierte eine Ausbildung, manche gar ein Studium. Hier waren die Heranwachsenden unter sich – und wo es Freizeit gab, entstanden die ersten Jugendkulturen, wie etwa die Bewegung der „Wandervögel“.
Jugend ist nichts fest Definiertes, das man konkret vorfindet, wie das erste graue Haar im Badezimmerspiegel. Dennoch gibt es eine biologische Phase im Leben eines Heranwachsenden, die mit der Jugend eng verbunden ist und in der durchaus so manches „vorgefunden“ wird: Scham- und Achselhaare, anschwellende Brüste, vergrößerter Hoden, Regelblutung, Stimmbruch. Hinter der sozialen Bestimmung der Jugend steht die Pubertät als biologische Tatsache. Doch auch sie hat sich im Laufe der Geschichte verändert: Sie beginnt im Schnitt immer früher.
Als Johann Sebastian Bach den Thomanerchor leitete, kamen die Jungen oft erst mit 17 oder 18 Jahren in den Stimmbruch. Mittlerweile beginnt das für die Heranwachsenden oft unangenehme „Gekrächze“ zwischen elf und 15 Jahren. Und die Mädchen? Im Nordeuropa des Jahres 1850 fand die erste Monatsblutung meist im Alter von fast 17 Jahren statt. Heute berichtet mehr als die Hälfte der Mädchen, spätestens mit zwölf Jahren die erste Regel gehabt zu haben. Auch der Beginn des Brustwachstums hat sich verfrüht, und zwar seit 1977 um etwa ein Jahr.
Seit Langem verjüngt sich das „normale“ Einstiegsalter in die Pubertät und seit Kürzerem kommt es häufiger zur krankhaften „pubertas praecox“: die Ausbildung äußerer Sexualmerkmale bei maximal siebenjährigen Mädchen und achtjährigen Jungen. Chemikalien aus Pestiziden, Kunststoffflaschen und Lösemitteln könnten dabei eine Rolle spielen, aber auch die psychische Gesundheit und Mangel an Bewegung. In einem Punkt herrscht breiter wissenschaftlicher Konsens: Ein zentraler Faktor, der Anfang und Verlauf der Pubertät bestimmt, ist die Ernährung.
Bei ausreichender Nahrung produzieren die Fettzellen um die Bauchhöhle das Hormon Leptin. Dieses Hormon signalisiert dem Körper, bereit zu sein für den nächsten Schritt im Prozess der sexuellen Reife. Darin liegt einer der Hauptgründe, weshalb die Pubertät in wohlhabenderen Ländern früher beginnt und schneller fortschreitet als in ärmeren, in denen nicht oder nicht immer genug Nahrung vorhanden ist.
Je mehr Fettzellen ein Kind aufbaut, umso mehr Leptin entwickelt der Körper – und umso früher werden Eierstock und Hoden zur Bildung von Geschlechtshormonen angeregt. Gerade während der Corona-Pandemie waren immer mehr Kinder von Übergewicht betroffen. 2020 waren es 60 Prozent mehr Fälle als im Vor-Corona-Jahr 2019, berichtete die Krankenkasse DAK in ihrem Kinder- und Jugendreport. Damit könnte – zumindest teilweise – auch der Anstieg verfrühter Pubertäten während der Pandemie erklärt werden.
Fest steht: Im Schnitt findet die Pubertät früher statt und Lebensentscheidungen, die als „typisch erwachsen“ gelten, werden später getroffen. Doch ist das ein Grund zur Sorge? Der Anstieg von Fällen krankhaft verfrühter Pubertät alarmiert Mediziner und Eltern zu Recht. Sie birgt ein erhöhtes Risiko für psychische Störungen und Krebserkrankungen. Auch die Verschiebung des durchschnittlichen Pubertätsalters erfordert gesellschaftliches Handeln – allen voran eine rechtzeitige und zeitgemäße sexuelle Aufklärung.
Aber das späte Erwachsenwerden? In den Debatten um die Unterschiede zwischen den Generationen wurde nicht selten der Vorwurf laut, die jungen Leute würden Verantwortung meiden, seien fragil und wollten nicht erwachsen werden. Weil sie sich weniger um Wohneigentum bemühen, später heiraten und öfter kinderlos bleiben? Das Zögern, in ein Eigenheim zu ziehen, gar ein Haus zu bauen, ist angesichts von Marktlage und Rohstoffknappheit nachvollziehbar. Und hinter der offenen Frage des Kinderwunsches steht in vielen Fällen ein reifes Bewusstsein um die eigene Belastbarkeit oder gar eine Sorge um die Klimabilanz einer wachsenden Bevölkerung.
Vor 50 Jahren verteidigte der FDP-Abgeordnete Detlef Kleinert die Absenkung der Volljährigkeit mit folgenden Worten: „Mit der Herausforderung an die Verantwortung wächst auch das Verantwortungsbewusstsein.“ Vielleicht zeigen so manches Zögern und Zaudern der „Jugend von heute“, dass Kleinert recht hatte. Die Überzeugung, der Verantwortung einer Führungskraft oder eines Elternteils nicht gerecht werden zu können, kann auch Ausdruck eines ausgeprägten Verantwortungsbewusstseins sein. Man könnte also meinen: ein ziemlich erwachsenes Verhalten.
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