Der Kölner Sozialwissenschaftler Kemal Bozay wünscht sich eine rationalere Debatte über Migration und Flucht. Ein Gespräch.
Kölner Wissenschaftler über Migration„Es wird eine moralische Panik verbreitet, die Ängste verstärkt“
Herr Bozay, im Januar sind Hunderttausende gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit auf die Straße gegangen, nun gibt es Umfragen zufolge eine große Mehrheit für eine restriktivere Migrationspolitik. Wie ist das zu erklären?
Kemal Bozay: Der Protest der Hunderttausenden, die Anfang des Jahres bundesweit gegen Rassismus auf die Straße gegangen sind, wird aktuell weitgehend ausgeblendet – obwohl die Gesellschaft ein klares Signal für Solidarität und eine diverse Gesellschaft gesetzt hat. Dass nach aktuellen Umfragen eine große Mehrheit für eine restriktive Migrationspolitik sind, hängt auch vom Klima ab. Auf politisch-medialer Ebene wird derzeit eine moralische Panik verbreitet, die die Ängste der Menschen verstärkt.
Weltoffenheit und Angst vor Überforderung schließen sich nicht aus – und Ängste können auch begründet sein.
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Das stimmt. Es herrscht eine große Sorge vor wirtschaftlich negativen Folgen von Migration und sozialer Überforderung. Wir erleben, dass im Zuge von Corona-Pandemie und Ukraine-Krieg die Lebenserhaltungs- und Energiekosten immens gestiegen sind. Das löst Ängste aus. Die rechtspopulistische Rhetorik, die auf Politik und Medien großen Einfluss genommen hat, fokussiert sich auf eine negative Stimmung gegen Geflüchtete und Migration, was diese Ängste weiter schürt. Das führt zu Hass und Spaltung. Die Demonstrationen gegen Rassismus zeigen, dass viele Menschen gegen Ausgrenzung und Rassismus kämpfen wollen – auf der anderen Seite fehlt das Vertrauen in die Politik, die wirtschaftlichen und infrastrukturellen Probleme zu lösen.
Inwiefern braucht es aus Ihrer Sicht eine andere, differenziertere öffentliche Debatte über Migration?
Die bisherige Logik verbindet Debatten über Migration und Flucht sehr häufig mit Defiziten und negativen Erfahrungen. Es braucht eine sachliche Debatte, die den Fokus auf die Chancen und Ressourcen legt, die Migration mit sich bringt – sowohl für die Geflüchteten als auch für die Gesellschaft. Gerade die jungen Geflüchteten bringen große Potenziale mit: Sie sind motiviert, sie wollen lernen und sich einbringen. Sie verjüngen die Gesellschaft. Das muss stärker in den Vordergrund gestellt werden – auch wenn Kriminalität und schreckliche Attentate wie das von Solingen genauso thematisiert werden müssen.
Die jungen Afghanen, mit denen ich mich kürzlich getroffen habe, haben große Sorge, abgeschoben zu werden…
Wenn die öffentliche Debatte negativ aufgeladen ist und ganze Bevölkerungsgruppen stigmatisiert werden, gibt das jungen Menschen nicht das Gefühl, willkommen zu sein und gebraucht zu werden. Dieses Gefühl ist aber dringend notwendig – das kennt jeder von uns. Oft fehlt es inzwischen an dieser Willkommenskultur. Die öffentliche Wahrnehmung ist stark von Ängsten und Vorurteilen geprägt. Doch wir wissen auch, dass der demographische Wandel die stärkere Einbindung dieser Menschen in Bildung und Arbeit benötigt. Gerade da müsste unser Fokus liegen.
Junge Geflüchtete in Köln sagen, dass sie ohne die Unterstützung der Fachkräfte in ihrer stationären Wohngruppe kaum Fuß gefasst hätten in Köln. Wo genau sehen Sie die Defizite in der Betreuung zum Beispiel in Sammelunterkünften, sogenannten Brückenlösungen?
Aus der praktischen Erfahrung der durch den Verein Interkultur in Köln geführten Wohngruppe für unbegleitete minderjährige Geflüchtete wissen wir, wie wichtig die Arbeit der pädagogischen Fachkräfte in der Betreuung und Bewältigung von Herausforderungen im Alltag ist. Hier gilt es Jugendliche abzuholen, sie zu begleiten, ihnen einen sicheren Ort zu bieten und sie beim Ankommen in Köln zu unterstützen. In einer festen Wohngruppe existiert nach den festgelegten Standards des Landschaftsverbands Rheinland ein kindgerechtes Umfeld, die Wohneinrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe bieten jungen unbegleiteten Geflüchteten einen sicheren Rückzugsort. Da die Brückenlösungen temporär sind, kann ich mir vorstellen, dass bestimmte Unterstützungsmöglichkeiten dort zu kurz greifen. Wir müssen uns auch bewusst sein, dass viele dieser jungen Menschen durch ihre Fluchtbiografien traumatische Erfahrungen hinter sich haben und eine psychosoziale Betreuung und eine professionelle Begleitung benötigen.
Wo liegt Konfliktpotenzial bei jungen Geflüchteten, auch was die Integration in eine für die Jugendlichen fremde Kultur angeht?
Konfliktpotenzial gibt es oft durch mangelndes Wissen über kultursensible Themen und mangelnde Erfahrung mit unserem Wertesystem. Viele Jugendliche bringen aus ihren Herkunftsländern andere Vorstellungen mit, sei es in Bezug auf Familie, Geschlechterrollen oder Mitbestimmung. Das kann zu Spannungen führen. Auch die Frustration über einen ungewissen Aufenthaltsstatus und der lange Weg zur Integration sind herausfordernd. Andererseits machen wir die Erfahrung, dass junge geflüchtete Menschen sich sehr für Sprache und Bildung interessieren und sich viel Mühe geben, hier anzukommen.
Aufenthaltsstatus, Sprache, Schule, Arbeit: Was sind für Sie die wichtigsten Faktoren für gelungene Integration?
Sprache, Bildung und ein gesicherter Aufenthaltsstatus sind ganz entscheidend. Ohne Deutschkenntnisse haben die Jugendlichen kaum Chancen, sich in Schule, Ausbildung oder auf dem Arbeitsmarkt zurechtzufinden. Gleichzeitig müssen sie die Perspektive haben, in Deutschland bleiben zu können. Ständige Unsicherheit über den Aufenthaltsstatus behindert den Integrationsprozess massiv, weil die Jugendlichen dann nicht wissen, ob ihre Bemühungen überhaupt Früchte tragen werden. Ich sehe das gerade bei den Jugendlichen in der Wohngruppe, wie wichtig es ihnen ist, hier eine Bleibeperspektive zu haben. Die Schule oder die Ausbildungsstelle sind genauso wichtig, weil sie nicht nur Bildung vermitteln, sondern auch soziale Kontakte zu Gleichaltrigen. Der Schritt in eine Ausbildung oder Arbeit ist entscheidend, damit die Jugendlichen sich angekommen fühlen. Rund 80 Prozent der Jugendlichen, die in Wohngruppen leben, schaffen das unserer Erfahrung nach.
Worin liegen Gefahren von Kriminalisierung oder Radikalisierung?
Wir müssen uns bewusst sein, dass junge Geflüchtete oder auch unbegleitete Minderjährige Geflüchtete hierzulande keine homogene Gruppe ausmachen. Diese Heterogenität spiegelt sich in ihren sozialen, kulturellen und religiösen Einstellungen wider. Daher ist es fatal, per se alle jungen Geflüchteten homogen zu betrachten oder gar als „potenziell kriminell“ bloßzustellen.
Leider fallen gerade junge Geflüchtete immer wieder mit zum Teil schweren Straftaten auf.
Wenn gerade diese Jugendlichen keine Perspektive sehen und unter unsicheren Verhältnissen leben, kann dies Frustration, Wut oder auch Radikalisierungserscheinungen auslösen. Vor allem dann, wenn sie in ihrer Heimat schon Gewalt und Verfolgung erlebt haben. Fehlende soziale Anbindung, Isolation und das Gefühl, nicht dazuzugehören, machen sie anfällig für radikale Einstellungen, die einfache Antworten auf komplexe Probleme bieten. Besonders gefährdet sind jene, die lange in Unsicherheit leben – sei es durch eine ausstehende Entscheidung über ihren Asylstatus oder durch mangelnde Chancen im Bildungssystem. Hier braucht es gezielte Präventionsarbeit, aber auch eine engmaschige Betreuung, die Defizite behebt und Perspektiven aufzeigt.
Sind Sie dafür, Straftäter gegebenenfalls auch nach Afghanistan oder Syrien abzuschieben?
Die Frage, ob straffällige Personen abgeschoben werden sollten, insbesondere in Länder wie Afghanistan oder Syrien, ist sehr komplex. Straftaten müssen konsequent geahndet werden, unabhängig von der Herkunft und Zugehörigkeit der Personen. Allerdings sehe ich es kritisch, Menschen in Kriegs- oder Krisengebiete abzuschieben, wo ihnen ernsthafte Gefahr für Leib und Leben droht. Afghanistan und Syrien sind nach wie vor extrem unsichere Länder, in denen Menschenrechtsverletzungen und Gewalt an der Tagesordnung sind. Abschiebungen in solche Länder verstoßen gegen die Grundsätze der Menschenwürde und den Schutz von Menschenrechten, die auch in der Bundesverfassung und internationalen Abkommen verankert sind. Es ist wichtig, straffällige Personen zur Verantwortung zu ziehen, aber das muss im Rahmen des Rechtsstaats geschehen, ohne Menschen in lebensbedrohliche Situationen zu bringen.