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Kommentar

Rekordanstieg und „Woelki-Faktor“
Dramatische Austrittszahlen sind GAU für die Kirchen

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Lesezeit 4 Minuten
Im Dunst und im Nieselregen steht der Dom am Rheinufer. In Nordrhein-Westfalen sind im vergangenen Jahr so viele Menschen aus der Kirche ausgetreten wie noch nie.

Im Dunst und im Nieselregen steht der Dom am Rheinufer. In Nordrhein-Westfalen sind im vergangenen Jahr so viele Menschen aus der Kirche ausgetreten wie noch nie.

Der Rekordanstieg bei den Austrittszahlen in NRW hat einem angeblichen „Verdunsten“ des Glaubens und der Kirchenbindung nichts mehr gemein. Wer das nicht begreift, verabschiedet sich aus der Realität.

Wer in den Kirchen einen 40-prozentigen Anstieg der Austrittszahlen in Nordrhein-Westfalen im Jahr 2022 über den – bereits dramatischen - Rekordstand des Vorjahres hinaus nicht als Springflut oder Explosion von katastrophalem Ausmaß begreift, hat sich aus der Realität verabschiedet. Aus den Lebens- und Erfahrungswelten der Christinnen und Christen ohnehin.

Da „versickern“ oder „verdunsten“ Glaube und Kirchenbindung längst nicht mehr, wie das bisweilen in beschönigenden Metaphern beschrieben wird. Vielmehr ist ein ehedem schleichender Prozess der Abkehr von der Kirche, des Schwunds an Plausibilität, Bindekraft und vor allem Glaubwürdigkeit der Institution zu einer unumkehrbaren Kettenreaktion geworden.

Mit der Pandemie, die zuletzt gern als Erklärung für steigende Austrittszahlen angeführt wurde, lässt sich für 2022 nicht mehr argumentieren. Das kirchliche Leben, das unter den Bedingungen des Lockdowns erlahmte oder zeitweilig ganz zum Erliegen kam, konnte sich im vorigen Jahr wieder entfalten. Wer seine Gemeinde, den Gottesdienst, das gemeinsame Gebet vermisst hatte, hätte an die Vor-Corona-Zeit anknüpfen können.

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Das ist nicht geschehen, jedenfalls nicht in einer zahlenmäßig relevanten Größenordnung. Stattdessen hat sich der Auszug aus den Kirchen beschleunigt – nicht nur der sogenannten Fernstehenden, der Kirchenmitglieder an der Peripherie, sondern auch der Gläubigen aus der Herzmitte der Gemeinden. Kein Pfarrer, der nicht davon erzählen kann, dass Herr X, Frau Y oder Familie Z, die sonntags sonst immer in Reihe sieben saßen, inzwischen verschwunden sind – heimlich, still und leise oder auch mit der klaren Botschaft: „Es reicht“.

Unerfüllte Reformwünsche einer Mehrheit des Kirchenvolks

Zwischen dem Beginn der Corona-Krise und der kirchlichen Krisen-Statistik liegen auf der katholischen Seite unerfüllte Reformwünsche einer breiten Mehrheit des Kirchenvolks, der nach wie vor unbewältigte Missbrauchsskandal, das Agieren eines Erzbischofs in Köln, der tut, als hätte er mit alledem nichts zu tun, und ein Papst, der die Dinge laufen lässt.

Die Menschen unterscheiden hier nicht nach Konfession
Joachim Frank

Für die evangelische Kirche wiederum ist die Lage auf eigene Weise vertrackt. Die katholische Malaise erfasst auch sie, weil es – etwa beim Thema Missbrauch – immer auch um das Erscheinungsbild und die Glaubwürdigkeit der Kirche insgesamt geht. Die Menschen unterscheiden hier nicht nach Konfession.

Und selbst wenn: Im Umgang mit dem Missbrauchsskandal heben sich die protestantischen Kirchenleitungen nicht wirklich von den katholischen Bischöfen ab. Mit der Aufarbeitung hinken sie hinterher, und gerade in dieser Woche erst legte eine Recherche der „Zeit“-Beilage „Christ und Welt“ offen, dass Missbrauchsopfer im Raum der evangelischen Kirche noch deutlich geringere Entschädigungsleistungen erhalten als im katholischen Bereich.

Wie der Wanderer im Moor versumpft Woelki immer tiefer

In Köln lässt Kardinal Woelki mit Feuereifer und für horrendes Geld Medienrechtler und Strafverteidiger für sich arbeiten. Mit immer absurderen Windungen sollen sie ihm aus dem juristischen Schlamassel helfen, in das er sich selbst hineinmanövriert hat. Und wie der Wanderer im Moor versumpft Woelki moralisch immer tiefer, je heftiger seine Anwälte und er mit den Armen rudern und mit eidesstattlichen Versicherungen über seine Unkenntnis im Missbrauchsskandal wedeln.

Im erzbischöflichen Haus zu Köln wird man sich jetzt wieder über die lange Tabelle des Düsseldorfer Justizministeriums mit den Zahlen aus den einzelnen Amtsgerichtsbezirken beugen und wie schon in den Vorjahren mit einer Mischung aus Trotz und Genugtuung feststellen, dass der Aderlass auch in den Regionen Nordrhein-Westfalens groß ist, die nicht zum Erzbistum Köln gehören. Einen „Woelki-Faktor“ gebe es deshalb nicht, behaupten Woelkis letzte Verteidiger unverdrossen.

Aber man kann andernorts nun mal nicht aus dem Erzbistum Köln austreten, sehr wohl aber wegen des Erzbischofs von Köln.

Ja, es gebe Menschen, die seinetwegen austräten, hat Woelki erst vor wenigen Monaten erklärt. Aber es träten auch Menschen seinetwegen ein. Wo und wie sich das in den jetzt veröffentlichten Zahlen niederschlägt, bleibt Woelkis Geheimnis. Dass er selbst die tektonische Spannung zwischen dem Anspruch der Kirche und der Wirklichkeit in der Kirche von Köln nicht (mehr) wahr- oder ernstzunehmen scheint, ist das eine. Dass die Menschen, die noch in der Kirche sind, diese Spannung in wachsender Zahl nicht mehr aushalten können oder wollen, ist das andere. Sie gehen. Und die Kirche bebt. Ohne sie.