Merkel-Kind und Politiker-SelfiesSo erleben junge Menschen den Wahlkampf
Lesezeit 5 Minuten
Köln – Wie erleben junge Wähler die Politik? Die Lokalredaktion des „Kölner Stadt-Anzeiger“ hat ihre Volontäre und Praktikanten gefragt, was ihnen wichtig ist. Das haben sie geantwortet.
Das sagt Jonah Lemm
„Ich bin ein Merkel-Kind. Nicht leiblich, klar. Aber „Mutti“ ist schon immer da. Die Erinnerung an die Regierung vor ihr ist blass. Merkel scheint’s da ähnlich zu gehen. Sie wirkt wenig besorgt um ihren Posten. Siegessicher und perfekt frisiert lächelt sie mir schon beim Einstieg in die U-Bahn vom XXL-Plakat zu. Und in meinem Kopf erklingt der Satz: „Dazu habe ich schon mit Staatschef xy telefoniert“. Die Antwort auf alles. Und eine Position, die keine ist. „Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben.“ Ja, was auch sonst? Wer würde denn bitte etwas anderes wollen? Phrasiger geht’s kaum. Nur wie, das sagt Merkel nicht. Aber darüber hat sie bestimmt schon mit Staatschef xy gesprochen. Nur halt leider nicht mit mir. Martin Schulz hingegen ist leider ein bisschen zu konkret. Denn Deutschland ist nicht nur Würselen. Trotzdem wird er nicht müde, zu betonen, wie die Dinge in seinem Heimatdorf so laufen. Mir ist das egal. Schließlich bin ich auch ein EU-Kind. Schulz war mal der Vater. Vielleicht lasse ich mich lieber adoptieren.“
„Ich habe schon an der letzten Bundestagswahl teilgenommen und das Gefühl, dass die Wahl dieses Mal in meinem Freundeskreis ein viel größeres Thema ist. Wir diskutieren – vor allem über die Flüchtlingsdebatte und den großen Unterschied zwischen den Kommentarspalten auf Facebook und unserem direkten Umfeld. Die Angst und den Hass, die den Ton in den sozialen Netzwerken bestimmen und Schlammschlachten unter den Nutzern auslösen, kann ich bei uns nicht entdecken. Social Media ist in diesem Wahlkampf generell ein großes Thema. Ich fühle mich als junger Mensch sehr umworben. Jeder versucht, möglichst jung und frisch rüberzukommen und den Ton von Instagram und Facebook möglichst genau zu treffen. Alter und Seriosität der Kandidaten passen leider oft nicht dazu. Spiegel-Selfies von Herrn Lindner und schicke Hashtags von Martin Schulz wirken gezwungen und unauthentisch. Ein wenig so, als würde der in die Jahre gekommene Lehrer plötzlich anfangen zu rappen, damit die Schüler Mathe cool finden.“
Das sagt Jessica Jumpertz
„Was muss ich wirklich über die Spitzenkandidaten wissen? Ich habe das Gefühl, dass der Wahlkampf persönlicher geführt wird als bei den letzten Wahlen. Dieses Mal scheint sich alles um die Spitzenkandidaten zu drehen – bis hin zur Konfrontation eines Kandidaten im Fernsehen damit, wie viele Wähler ihn eitel finden. Meine Entscheidung wird nicht davon beeinflusst, ob die Kandidaten sonntags in die Kirche gehen. Auch die Fotos auf Plakaten sind für mich nicht ausschlaggebend. Ich möchte wissen, wofür die Parteien stehen. Der Kandidat spielt für mich zwar eine Rolle, aber er oder sie ist eben nicht allein – Abstimmungen finden im Parlament statt. In den sozialen Medien wird man häufiger mit dem Wahlkampf konfrontiert, aber auch hier vor allem durch die Spitzenkandidaten und natürlich in kürzeren Beiträgen. Mich interessiert, was die Parteien in Bereichen wie Bildung, Wohnraum in Städten und Europa erreichen wollen. Und vor allem: Wie kann ich ihre Standpunkte mit meiner Vorstellung einer Gesellschaft, in der ich leben möchte, vereinbaren?“
„Dieser Wahlkampf ist sehr persönlich. Wir wählen am Sonntag keine Partei mehr, sondern vielmehr die Person, die die Parteiziele vertritt. In den sozialen Netzwerken sind die Kandidaten aktiver denn je. Christian Lindner postet auf Facebook bearbeitete Selfies – der Talk-Show im Hintergrund schenkt er wenig Aufmerksamkeit. Politische Statements kommentiert er gerne über ein selbst gedrehtes Video in seinem Auto. Bildunterschriften wie #butfirstletmetakeaselfie sind als Parteivorsitzender peinlich. Die politischen Ansichten der FDP werden zwar zwischendurch eingeworfen, aber im Grunde gehen sie unter all den Selfies verloren.Angela Merkel hingegen präsentiert sich auf Instagram gemäß ihres Status als Bundeskanzlerin. Sie postet professionelle Fotos mit anderen hohen Amtsträgern. Die Tatsache, dass die Spitzenkandidaten in den Social Media aktiv sind, will ich gar nicht kritisieren. Privates gehört allerdings nicht in die Politik.“
Das sagt Lisa Oder
„Meiner Generation wird oft vorgeworfen, sie würde ständig auf Facebook hängen und Politik sei ihr egal. Ich sehe das anders. Ständig regen sich meine Freunde über den Wohnungsmarkt auf. Natürlich fragen wir uns, ob der Mindestlohn höher sein sollte. Trotzdem lag die Wahlbeteiligung bei den Erstwählern 2013 unter 65 Prozent. Das liegt zum Teil an den traurigen Versuchen, Jungwähler zu erreichen. Ich will keinen Christian Lindner mit Dreitagebart in schicken Autos fahren sehen. Ich brauche keine unprofessionellen Interviews von Youtube-Berühmtheiten mit Merkel und Schulz. Statt neuen hippen Formaten hätte ich lieber mehr Themen im Wahlkampf, die mich betreffen. Die Parteien müssen nicht in jeder Show über Flüchtlinge sprechen. Ich habe andere Fragen. Wann werde ich in Rente gehen? Wieso kriege ich trotz der Schulden meiner Eltern kein Bafög? Diese Themen werden zu selten angesprochen. Egal ob beim Kanzlerduell, auf Facebook oder Plakaten.“
Das sagt Vincent Sboron
„Auf mich wirkt es befremdlich, wie sich Martin Schulz, vorgeblich bürgernah, auf Kleinstadt-Bühnen abmüht und dennoch zunehmend weniger Gehör zu finden scheint. Dem entgegen sehe ich täglich Straßen voller Plakate mit einer jovial lächelnden Angela Merkel, die mich persönlich irritieren. Und das verspätete Auftreten von Schulz in „hippen“ Formaten wie Youtube scheint mir hinter dem Merkel-Hype bei jungen Menschen beinahe zu verblassen. Der „Schulz-Zug“, der getragen vom Internet, dem primären Medium meiner Generation, zunächst tosend von Brüssel aus in den aktuellen Wahlkampf rollte, hat die Chance verpasst, junge Wähler wie mich dauerhaft abzuholen. Der Eindruck, Martin Schulz sei inzwischen vom Stillstand dieses Wahlkampfs überwältigt worden, der Hype sei zum Erliegen gekommen, fühlt sich ernüchternd an.“ (red)