Köln – Höchstens eine Woche. Länger sollten Patienten nie an einECMO-Gerät, das die Lunge künstlich weiterleben lässt, angeschlossen werden. Sonst wird es gefährlich, gefährlicher als die Erkrankung, die es bekämpfen soll. Das dachte man lange. Aber „durch Covid wissen wir: Patienten können auch vier Wochen an der ECMO bleiben und davon profitieren, weil sie durch diese Beatmung eben doch überleben“, sagt die Pathologin Heike Göbel. In ihrem Labor an der Kölner Uniklinik wurden inzwischen 30 Covid-Patientinnen und Patienten obduziert. Das ECMO-Verfahren ist hochriskant und kommt fast nur dann zum Einsatz, wenn es um Leben oder Tod geht. Es kann aber eben mehr Leben retten als zunächst angenommen.
Das Sezieren von Körpern, die einmal Corona-Patienten waren, deren Kampf gegen das Virus das schlimmstmögliche Ende nahm, bringt zahlreiche Erkenntnisse wie diese zutage. Erkenntnisse, die anderen Patientinnen und Patienten das Leben retten und aus einem winzigen Stück Körper gewonnen werden, mal fünf Zentimeter groß, oft deutlich kleiner. Ausgeschnitten etwa aus einer Lunge.
Covid-19 greift die Gefäße an
An der Pathologie der Kölner Uniklinik wurden bislang 30 Corona-Leichen aufgeschnitten. Die Hälfte von ihnen starb auf den Stationen in der Uniklinik. Inzwischen scheint klar, dass die größte Gefahr für sie nicht vom Virus an sich ausging, sondern vom eigenen Körper, der es falsch versteht. So ist den meisten Leichen anzusehen, dass die willkürliche Aktivierung von Immunreaktionen zum Tod führte. Die Frage, wie genau es zu jener Aktivierung kommt, ist deutlich komplizierter. In den vergangenen Monaten „haben wir viel darüber gelernt, wie aggressiv Covid die Gefäße angreifen und verändern kann“, sagt Göbel. Sars-Cov-2 setzt sich in der Lunge fest.
Dort beschädigt es das Endothel, die innere Hülle der Blutgefäße. Es kommt zu inneren Blutungen und das Virus kann in den Blutkreislauf eindringen. „Das Endothel sorgt normalerweise dafür, dass wir frei fließendes Blut haben, dass es zu keiner Blutgerinnung kommt“, erklärt Göbel. Covid kann diese Funktion außer Kraft setzen. Auch in der Niere und am Herzen. Thrombosen entstehen, Organe versagen. Blutverdünner können inzwischen helfen, das zu verhindern.
Kölner Uniklinik-Pathologie arbeitet vor allem mit Lebenden
In der Pathologie geht es nicht nur darum, Todesursachen zu erforschen, sondern auch darum, Behandlungsmöglichkeiten für die Lebenden zu finden. „Wir arbeiten zu 95 Prozent mit und für die Lebenden“, so Göbel. Denn alles, was beim Patienten entfernt werde, lande in der Pathologie. „Egal, ob Ergüsse, wo Zellen entfernt werden können, Gewebe der Haut oder Tumore“, sagt Alexander Quaas, stellvertretender Leiter der Pathologie. Durch die Untersuchung solcher Proben kann etwa diagnostiziert werden, ob ein Tumor gut- oder bösartig ist. Die individuelle Medizin, die Suche nach der richtigen Behandlung für jeden Einzelnen, habe in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen, so Quaas weiter. Es geht ihm darum, jedem Patienten und jeder Patientin die jeweils beste Therapie zu ermöglichen. Individuelle Behandlungen können Leben retten.
Aber die Uniklinik ist auch ein Ort, an dem Leben enden, jeden Tag. Der Tod ist Teil der Institution, Obduktionen folgen dem immer gleichen Schema, zwei oder drei Mediziner sezieren die Leiche systematisch. Begonnen wird mit der äußeren Betrachtung des Körpers. Alles, was zu sehen ist, jede Narbe, jedes Tattoo, wird notiert. Dann der erste Schnitt. Die Öffnung der Haut. Brustkorb und Bauchbereich werden freigelegt. Göbel hebt Organe, die etwas über den Krankheitsverlauf verraten können, bei Covid-Patienten mindestens Lunge, Niere, Herz und Milz, heraus. Sie werden gewogen, vermessen und im Detail beschrieben. Probenentnahme. Fünf Zentimeter Lunge, ein Fetzen Milzgewebe, ein paar Gramm Fett. Dann werden die Organe dem leblosen Körper wieder zurückgegeben – so jedenfalls die Regel.
Organe der toten Corona-Patienten werden in Formalin „fixiert“
Bei Corona-Toten ist das anders, hier ist nicht klar, wie ansteckend die einzelnen Organe noch sind. Anstatt in den Körper, legt Göbel sie in große weiße Eimer zurück. Hier werden sie mit Formalin „fixiert“, das heißt: unschädlich gemacht. Auf den Eimern stehen schwarze Zahlen und Buchstaben, die zur Patientenakte führen. Vielleicht 15 dieser Eimer stehen im Labor. Sie erinnern an die gigantischen Schäden, die das Virus bereits hinterlassen hat. Die Luft ist kalt und dicht, ein paar Meter vor den Eimern steht ein Mikroskop, unter dem Totgeburten untersucht werden.
Als das Influenzavirus vor gut hundert Jahren in Europa ausbrach, „haben die Herren noch in Alltagskleidung mit Melonen-Hut auf dem Kopf seziert“, sagt Göbel, „und waren dann von Wundbrand überrascht.“ Die große, vielleicht zu große Vorsicht zu Beginn der Pandemie – das Robert Koch-Institut hat von Obduktionen in den ersten Monaten abgeraten, „retrospektiv eine schlechte Entscheidung“, wie Göbel meint – hat auch ihre Gründe. Wie sich Menschen infizieren, ist bei neuen Erregern erstmal unklar. Die Schutzanzüge lassen heute eigentlich keine Lücken mehr. Der Respekt vor den infizierten Körperteilen bleibt dennoch.
Weniger als zehn Prozent der Covid-Toten werden in Köln obduziert
Die Obduktion dauert zwei bis vier Stunden, „sie ist quasi wie eine größere Operation“, sagt Göbel. Durchgeführt werden könne sie daher sehr kurzfristig, meistens einen Tag nach dem Tod. „Anschließend wird der Leichnam schon für die Bestattung freigegeben. Für die Angehörigen verzögert sich alles um einen Tag“. Die Frage, wann eine Obduktion erlaubt ist und wann nicht, ist hochpolitisch. Denn der Blick in den toten Körper berührt die Grundrechte des Verstorbenen und der Angehörigen. Fast überall in Deutschland gilt: Es darf nur obduziert werden, wenn die Angehörigen zustimmen. Nur wenn es keine Angehörigen gibt oder diese nicht erreicht werden können, kann die Klinik entscheiden.
Aber diese Fälle sind selten. Und weil die Familien der Verstorbenen und auch die Ärztinnen und Ärzte an vieles denken, aber selten an die Frage, welche biologischen Mechanismen ausschlaggebend waren für den Tod eines geliebten Menschen, wird nur ein Bruchteil der toten Covid-Patienten obduziert, an der Uniklinik weniger als zehn Prozent. Bei jungen Patienten saß der Schock jedes Mal zu tief, von ihnen starben in der zweiten und dritten Welle viele, obduziert wurde niemand: „Hier ist es für die ärztlichen Kollegen noch schwieriger, die Angehörigen von einer Obduktion zu überzeugen“, sagt Göbel. Der jüngste obduzierte Patient wurde 56 Jahre alt. „Wir sind darauf angewiesen, dass Familien und ärztliche Kollegen in diesem dramatischen Moment des Todes in der Lage sind, eine Obduktion ins Auge zu fassen“, sagt Göbel: „Natürlich werben wir dafür“. Es gehe bei Obduktionen keinesfalls wie in der Anatomie darum, Leichen der Wissenschaft zur Verfügung zu stellen. „Unser Fokus liegt darin, die genaue Todesursache festzustellen.“
Corona-Obduktionen: Der Hamburger Weg als Alternative
Hamburg geht als einziges Bundesland grundlegend anders mit Corona-Toten um. Hier können Obduktionen angeordnet werden, „wenn dies vom Gesundheitsamt für erforderlich gehalten wird“, wie es im Hamburger Infektionsschutzgesetz heißt. Die Notwendigkeit, mehr über das Virus zu erfahren, um Behandlungen zu verbessern und so Leben zu retten, steht hier über dem Recht am eigenen Körper. Alexander Quaas findet den Hamburger Weg „nicht schlecht, wenn wir über pandemische Fragestellungen und Infektionskrankheiten sprechen“.
Göbel sagt: „Obduktionen sind schlicht notwendig. Mit der Bildgebung in der Klinik und mit Laborwerten versteht man halt doch nicht so richtig, was die Krankheit eigentlich macht.“ Erst über die Histologie, die Untersuchung des Gewebes, „haben wir überhaupt gelernt, dass die Viruslast bei Covid nicht das alles Entscheidende ist, sondern die willkürliche Aktivierung des Immunsystems.“
Mediziner müssen von den Toten lernen
So konnte erst durch die Hamburger Obduktionen bestätigt werden, dass Blutverdünner gegen schwere Covid-Verläufe helfen. Aber: „Wir wissen an vielen Stellen immer noch nicht, was dieses Virus macht“, sagt Göbel. Covid-19 ist in wissenschaftlichen Zeiträumen völlig neu, immer noch. „Coronaviren haben die Eigenheit, dass sie das Immunsystem aktivieren, ohne große histologisch fassbare Entzündungen auszulösen“, sagt die Pathologin, man sehe in den Organen kaum Entzündungsreaktionen. Dennoch versagen sie. „Was wir unmittelbar sehen, sind die Auswirkungen des Virus, Thrombosen zum Beispiel.“ Nicht aber die löslichen Substanzen, die den lebendigen Körper erst überfordert haben und dann mit absterben. Oder anders: „Wir sehen sozusagen nur das Schlachtfeld, nicht die Bombe und den Ort, an dem sie eingeschlagen ist.“
Vergleichbar mache die einzelnen Fälle laut Alexander Quaas nur eines: „Das Lungenbild ist immer desaströs.“ Auch die Unterschiede zu anderen Erkrankungen seien oft schwer zu fassen, Vergleiche schwierig. „Die Veränderungen, die wir an den Gefäßen sehen, kennen wir durchaus auch von anderen Erregern. Denn der Körper hat nur eine bestimmte Art und Weise zu reagieren – das Ergebnis sieht dann oft gleich aus.“ So habe eine Sepsis, die von Bakterien ausgelöst wird, „einen ähnlichen Endpunkt wie schwere Covid-Verläufe“, sagt Quaas. Die Bakterien seien bei einer Sepsis nicht das Hauptproblem, sondern die völlig unkontrollierte Reaktion des Körpers. „Das Immunsystem flippt hier aus und führt zu den eigentlichen Problemen, wie bei Covid.“
„Die Pandemie wird nicht die letzte sein“
In der Pandemie haben die wissenschaftlichen Erkenntnisse über das Virus „hunderttausende Menschenleben gerettet, insbesondere in der zweiten und dritten Welle“, meint Quaas. Dass die politische Umsetzung des medizinisch Notwendigen oft nicht ideal oder zeitversetzt ablief, sei „ein völlig anderes Thema“, sagt Quaas.
„Die Pandemie wird nicht die letzte sein“, meint er. „HIV 81, Sars 02, Mers 09, dann Covid-19. Auch künftig werden Erreger das Potenzial haben, sich weltweit zu verbreiten.“ Die Wissenschaft stehe in der Verantwortung, darauf zu reagieren, „unglaublich, wie gut uns das in den vergangenen anderthalb Jahren gelungen ist.“ Und trotzdem sieht Quaas die Chance, „es beim nächsten Mal besser zu machen“.