Köln – Der Ärger ist da, noch bevor die Arbeit überhaupt begonnen hat. Dabei ist die sogenannte Unabhängige Aufarbeitungskommission (UAK) des Erzbistums Köln ein Projekt mit Prestigecharakter. Sie soll nach dem Willen von Kardinal Rainer Woelki „die Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt im Erzbistum konsequent weiter vorantreiben“.
Das siebenköpfige Gremium, das sich im Juni konstituierte, geht zurück auf eine Vereinbarung aus dem Jahr 2020 zwischen der Deutschen Bischofskonferenz und dem damaligen Missbrauchsbeauftragten des Bundes, Johannes-Wilhelm Rörig. Gemäß dieser Übereinkunft wurden zwei Mitglieder vom Land NRW in die Kölner UAK entsandt, zwei durch den Kölner Betroffenenbeirat und drei durch das Erzbistum. Ernannt hat sie allesamt der Erzbischof, Kardinal Woelki.
Vor der ersten regulären Sitzung an diesem Donnerstag hat sich massive Kritik an einem der beiden Betroffenen-Vertreter entzündet. Peter Bringmann-Henselder, der 2021 Sprecher des Kölner Betroffenenbeirats wurde, tat am 30. Juni auf einer Fachtagung in Berlin kund, er sei im Besitz von Personalakten ehemaliger Heimkinder, die er privat ausgewertet habe. Eine Zusammenfassung in Buchform habe er staatlichen Archiven angeboten. Die Unterlagen selbst „kann ich nicht herausgeben, weil ich die selber für meine Bearbeitungen brauche“.
Bringmann-Henselders 2020 zurückgetretener Vorgänger Karl Haucke verließ daraufhin unter Protest die Tagung. Er leide darunter, jemandem zuhören zu müssen, der bereits vor zehn Jahren massiv Aufarbeitungsprozesse behindert habe, sagte Haucke und nannte Bringmann-Henselder hörbar angefasst einen „Komplizen von Vertuschung“.
Angela Marquardt, frühere Bundestagsabgeordnete und Mitglied im Betroffenenrat des Bundes, reagierte noch in der laufenden Tagung öffentlich auf den Vorgang. „Ich bin förmlich zusammengezuckt“, sagt sie im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“.
„Indiskutabel und empörend“
„Ein Betroffenenvertreter hortet privat Akten anderer Betroffener und weigert sich, den gesamten Bestand herauszugeben, weil er den für sich selbst benötige. Das ist indiskutabel und empörend“, sagt Marquardt. „Offenbar fehlt es hier an jeglichem Bewusstsein, dass es hier um Menschen und deren Leidensgeschichte geht.“ Wer so agiere, habe in Aufarbeitungsgremien nichts verloren.
„Da kann es keine zwei Meinungen geben. Ich erwarte, dass die Kirche, in deren Gremien Herr Bringmann-Henselder sitzt, aktiv wird und klärt, auf welchen Akten er sitzt und was damit in einem rechtskonformen, transparenten Verfahren unter Einbeziehung der Betroffenen zu geschehen hat.“
Staatsrechtler Stephan Rixen: Wie vom Blitz getroffen
Der Kölner Staatsrechtsprofessor Stephan Rixen, der auf der Berliner Tagung einen viel beachteten Vortrag zur Verantwortung des Staates für die Aufarbeitung des Missbrauchsskandals hielt, zeigt sich ähnlich perplex wie Marquardt. „Ich war wie vom Blitz getroffen von dem, was ich da hörte.“
Auf Anfrage führt Bringmann-Henselder nun aus, er habe mit Zustimmung der Betroffenen „Kopien aus den Heimkinderakten“ bekommen. Auch mit der „Verarbeitung der Unterlagen in Form eines ‚Buchs‘ seien die Betroffenen einverstanden gewesen. „Zweck war dabei die Archivierung der Unterlagen.“ An dem „Buch“ hätten die Heimkinder mitgewirkt und auch die Offerte an Archive erlaubt. Inzwischen aber seien diese Bücher ohnehin „geschreddert“, soweit die darin Genannten verstorben seien, oder an die Betroffenen übergeben worden.
Missbrauchsbeauftragte des Bundes mahnt
Akten sollten ein öffentliches Gut sein, gerade wenn sie potientiell sensible Daten enthalten, mahnt Rörigs Nachfolgerin als Missbrauchsbeauftragte des Bundes, Kerstin Claus. „Akten, die sich aus den unterschiedlichsten Gründen in privatem Besitz befinden, sollten aus meiner Sicht an Archive mit gesichertem Zugang zu den Akten übergeben werden .“
Rixens und Marquardts Reaktion auf Bringmann-Henselders Auftritt in Berlin nimmt Ursula Enders vom Kölner Beratungsverein „Zartbitter“ wenig wunder. Sie kennt Bringmann-Henselder schon aus der Zeit, als Claus‘ Vorgänger Rörig in Berlin einen „Jour fixe“ zur Betroffenenbeteiligung installiert hatte. Bringmann-Henselder war daran beteiligt.
Heftige Querelen
Es kam zu heftigen Querelen, die im August auf einem internen Workshop mit Supervisoren in Räumen des Familienministeriums bearbeitet werden sollten. Im März 2013 publizierte Bringmann-Henselder zeitweilig heimliche Mitschnitte aus diesem Workshop – Material, das ihm nach eigenem Angaben anonym zugespielt worden war.
Massive Proteste aus den Reihen der Betroffenen hatten zum Ergebnis, dass Rörig den nächsten „Jour fixe“ kurzfristig aussetzte und das Format schließlich ganz beendete. Als Erklärung gab er „offen im Internet ausgetragene Konflikte zwischen einzelnen Betroffenen“ an, die „aktuell eine deutliche und nicht akzeptable Zuspitzung erfahren hätten“.
„Besonderes öffentliches Informationsinteresse“
Auf Anfrage erklärte Bringmann-Henselder, er habe mit Ausschnitten aus dem Material belegen wollen, „wie versucht wurde, gegen Mitglieder des runden Tischs zu arbeiten“. Wegen des besonderen öffentlichen Informationsinteresses sei dies „im Rahmen eines journalistischen Beitrags“ zulässig gewesen.
Jeder, der sich mit dem Thema Missbrauch und Aufarbeitung im katholischen Kontext beschäftigt, „hat schon vom fragwürdigen Agieren des Herrn Bringmann-Henselder gehört“, sagt Angela Marquardt. Ursula Enders ist es nicht zuletzt deshalb „völlig unverständlich, dass das Erzbistum sich solche Leute holt“. Ihre Bedenken habe sie bereits 2019, vor der Berufung des ersten Kölner Betroffenenbeirats, dem damaligen Interventionsbeauftragten des Bistums, Oliver Vogt, mitgeteilt.
Bedenken fruchteten nicht
Vogt bestätigt das. Doch seine Einwände hätten nicht gefruchtet. Man könne das Auswahlverfahren für den Beirat nicht mehr stoppen oder rückgängig machen. Umso irritierter sei er gewesen, dass der zuständige Beraterstab des Erzbistums Bringmann-Henselder im Frühjahr 2022 erneut für den Beirat benannte. Auf kritische Nachfrage habe man ihm erklärt: „Aber der versteht doch den Kardinal.“ Das Erzbistum nahm auf eine Anfrage zu dieser Schilderung nicht explizit Stellung.
Im Beraterstab sprach sich einzig der Betroffenenvertreter Georg Menne aufgrund eigener negativer Erfahrungen mit Bringmann-Henselder im Betroffenenbeirat vehement gegen die erneute Benennung aus. Menne konnte sich damit aber nicht durchsetzen und verließ daraufhin das Gremium.
Woelki folgte der Vorschlagsliste seines Beraterstabs
Dessen Mehrheit überging auch die Empfehlung einer Expertin aus dem Stab der Missbrauchsbeauftragten Claus, das Auswahlverfahren für den Betroffenenbeirat auszuweiten und die Fristen zu verlängern. Stattdessen bekam Woelki eine Vorschlagsliste mit sieben Personen vorgelegt, der er ausnahmslos folgte. Die Vorwürfe gegen Bringmann-Henselder seien ihm unbekannt, teilte das Erzbistum auf Anfrage mit.
Im neuen Betroffenenbeirat gebe es derzeit keinen Sprecher, erklärte eine Bistumssprecherin weiter. Am Beginn der Arbeit des Ende Juni neu konstituierten Gremiums stehe „zunächst eine Phase des Kennenlernens und der Vereinbarung der inhaltlichen Schwerpunkte“.
Serienbrief an den Papst
Betroffenenvertreter und Beiratssprecher Bringmann-Henselder ritt seit Jahren als einer der vehementesten Verteidiger Woelkis und seiner Rolle im Missbrauchsskandal hervor. Bei der Vorstellung des „Gercke-Gutachtens“ zum Missbrauch im Bereich des Erzbistums Köln rühmte er den Kardinal als entschlossenen und konsequenten Aufklärer. Kritiker Woelkis griff er teils persönlich an.
Ende März betätigte er sich als Ratgeber und Unterstützer für einen geplanten Serienbrief an Papst Franziskus mit der „dringenden Bitte“, Woelki in seinem Amt als Erzbischof von Köln zu belassen.
Zweifel an der Unabhängigkeit
Solange die Zusammensetzung von Gremien mit Betroffenen in der Hand der Kirche selbst liege und sich Bischöfe „Betroffene suchen können, die ihnen nach dem Mund reden“, könne von Unabhängigkeit und echter Beteiligung keine Rede sein, moniert Ursula Enders.
Über das Erzbistum hinaus sei eine Zusammenarbeit mit Gremien, in denen Bringmann-Henselder vertreten sei, im Grunde „nur sehr schwer vorstellbar“, sagt der Sprecher des Betroffenenbeirats der Bischofskonferenz, Johannes Norpoth. „Wer – wie geschehen – Journalisten Hass als Motivation für Veröffentlichungen rund um das Erzbistum Köln und seinen Erzbischof vorwirft; wer im Kontext der Bekämpfung systemischer Ursachen in der katholischen Kirche vom ‚Missbrauch des Missbrauchs‘ redet oder das Märchen von ‚Verbrechen ohne Opfern‘ bei sexueller Gewalt an Minderjährigen als Betroffenenvertreter unwidersprochen lässt, der löst nicht nur bei mir Irritationen und Sprachlosigkeit aus“, sagt Norpoth.
Keine Stellungnahme zu Woelkis PR-Strategie
Es sei zudem bezeichnend, dass Bringmann-Henselder sich bisher „nicht erkennbar zu den aktuellen Veröffentlichungen zur Instrumentalisierung des Kölner Beirats geäußert hat. Die kürzlich veröffentlichten Dokumente bestätigen, was Bringmann Henselders Vorgänger Karl Haucke und Patrick Bauer bei ihrem Rücktritt bereits 2020 öffentlich gemacht haben.“
Anfragen des „Kölner Stadt-Anzeiger“ zu Woelkis PR-Strategie für den Umgang mit dem Betroffenenbeirat im Jahr 2020 beantwortete Bringmann-Henselder nicht.
Nutzen aus Konflikten gezogen
Für die Besetzung der Aufarbeitungskommissionen sei es „essentiell, dass Menschen mit einer hohen Kompetenz und Fachlichkeit in diesen Kommissionen tätig sind“, mahnt Kerstin Claus. Dieses qualitative Element sei in den Verhandlungen mit der Bischofskonferenz immer wieder im Blick gewesen. Ohne direkt zur Personalie Bringmann-Henselder Stellung zu nehmen, betonte Claus einerseits, dass „Kritik und ein kritischer Umgang zwischen Betroffenen erstmal Ergebnis und Teil der notwendigen und auch kritischen Auseinandersetzung mit den vielfältigen Perspektiven und immer wieder auch unterschiedlichen Interessen“ sei. Betroffene seien schließlich keine homogene Gruppe.
„Gleichzeitig müssen natürlich auch Betroffene bei aller unterschiedlicher Auffassung Grenzen akzeptieren. Die Rechte des Gegenübers dürfen nicht aberkannt, eingeschränkt oder gar verletzt werden.“ Gerade Prozesse rund um Institutionen, die Taten verschwiegen oder vertuscht hätten, müssten sicherstellen, „dass alle Betroffenen, die sich beteiligen, nicht erneut in Machtdynamiken verstrickt werden. Leider ist es bisher viel zu oft so gewesen, dass Institutionen eher Nutzen aus Konflikten zwischen Betroffenen gezogen haben.“
Bedeutung klarer Standards für den Umgang mit Verstößen
Umso wichtiger seien „klare Standards und Strukturen, sie dann auch einzufordern zu können beziehungsweise transparent und konsequent mit Verstößen umzugehen“, betont die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung .
Der Jurist Rixen zieht die „Unabhängigkeit“ im Titel der UAK erheblich in Zweifel. Er wirkt in der Kölner Kommission auf Vorschlag der Landesregierung mit. Eine Nähe der vom Bistum benannten Mitglieder zum „katholischen Milieu“ könne zu Befangenheit führen, warnte Rixen in einem Gastbeitrag für den „Kölner Stadt-Anzeiger“.
„Unabhängigkeit“ droht zur reinen Fassade zu werden
Diese Nähe werde erst recht zum Problem, „wenn die Kirche gezielt Personen benennt, die dem Frömmigkeitsstil des jeweiligen Ortsbischofs zugetan sind oder im innerkirchlichen Kulturkampf (‚Romtreue‘ versus ‚Synodaler-Weg-Reformer‘) seiner Linie folgen.
Wenn dann noch Betroffene offenbar deshalb ausgewählt werden, weil sie „den Bischof verstehen“, sollte spätestens dann klar sein: Die Aufarbeitungskommissionen lassen sich personell auf Linie bringen, und ihre Unabhängigkeit wird zur reinen Fassade.“ Rixen forderte, die Besetzung stärker rechtsstaatlich zu steuern, „um Kommissionen zu verhindern, die bestenfalls Placebo-Aufarbeitung leisten könnten“.
An diesem Donnerstag nun sitzt Rixen in der Kölner UAK an einem Tisch mit Peter Bringmann-Henselder. „Nach allem was ich höre, bin ich mir sicher, dass eine solche Personalie Vertrauen kostet und Folgen für die Reputation der UAK haben wird“, sagt er. „Ich verstehe nicht, wieso das bei der Besetzung der Kommission nicht bedacht worden ist.“ Seine Vorbehalte teilte er auch dem Erzbistum mit und regte einen freiwilligen Rückzug Bringmann-Henselders an. Darauf habe man keinen Einfluss, bedeutete ihm das Erzbistum. Schließlich seien alle Beteiligten – unabhängig.