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Interview mit Navid Kermani„Köln braucht liebende Wut“

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Navid Kermani 

  1. Der in Köln lebende Schriftsteller Navid Kermani zählt zu den bedeutendsten Intellektuellen Deutschlands – was nicht heißt, dass man mit ihm nicht auch über Fußball reden kann.
  2. Ein Gespräch über die verhexte Situation beim FC, die Gefährdung der Meinungsfreiheit, vor allem aber die vielen Probleme seiner Heimatstadt Köln.
  3. Was ihn besonders stört? „Der ganze Wir-sind-Karneval-wir-sind-Kultur-wir-sind-Multikulti-Quatsch.”

Herr Kermani, Sie haben eine Sammlung eigener Reden als Buch herausgegeben. Was reizt Sie am Genre der Rede?

Zunächst einmal gar nichts. Es sind Anlässe, die an mich herangetragen werden: ein Gedenktag, eine Totenfeier, eine Preisverleihung und so weiter, und manchmal kann ich mich entziehen, aber oft eben auch nicht. Anders als in meinen Büchern oder Reportagen suche ich mir das Thema also so gut wie nie aus. Ein weiterer Unterschied ist, dass ich bei meinen Büchern nie genau weiß, an wem ich mich wende. Die sogenannte Leserschaft ist für einen Autor, der tagein tagaus allein an seinem Schreibtisch sitzt, ja etwas höchst Mysteriöses, aber eben aus diesem Mysterium, dieser Vagheit und Offenheit, bezieht er auch Freiheit. Bei einer Rede jedoch sitzen die Zuhörer direkt vor mir, und sie haben Erwartungen, die sich aus dem Anlass ergeben. Im besten Fall ergibt sich aus dem Umgang mit eben diesen klaren Vorgaben eine unerwartete Dynamik, wenn man sie zugleich aufnimmt und bricht. Im langweiligsten Fall hingegen sagt man, was bei einer Trauerfeier, einem Gedenktag, einer Preisverleihung eben so gesagt wird.

Alle Ansprachen, die Ihr Buch „Morgen ist da“ versammelt, sind bis aufs Wort genau vorformuliert. Ist das dann nicht doch mehr eine Schreibe als eine Rede?

Alles zum Thema Peter Stöger

Verschriftliche Sprache ist ein eigenes literarisches Genre. Ich arbeite in der Rede viel stärker mit Elementen wie Kadenz, Rhythmus, Refrain, mit einer bestimmten Musikalität bis hin zu Lautmalereien. Die ausgearbeitete Formulierung erzwingt und erlaubt zugleich die Präzision, aber auch die Komplexität, die Abschweifungen, die langen Gedankenbögen, die in der frei gehaltenen Rede gar nicht möglich sind. Das heißt, die schriftliche Rede ist kein Manko, sondern für manche und besonders rituelle Anlässe geboten. Im Bundestag, wo es ja um eine lebendige Debatte gehen soll, würde ich mir ebenfalls wünschen, dass mehr Redner den Mut hätten, ohne Manuskript zu sprechen. Hingegen bei einer Rede, sagen wir, zum Holocaust-Gedenken muss jedes Wort und jede Metapher präzis sein.

Ihr Buch kann der Leser zuklappen. Ihrer Rede kann er nicht entkommen – es sei denn, er steht auf und geht. Verstehen Sie das als Gunst der Stunde?

Ja, klar, es ist ein seltenes Format in unserer Zeit, dass man 30 oder 60 Minuten konzentriert auf das gesprochene Wort eines Einzelnen hört. Aber es ist eben auch eine Verpflichtung, und wenn man nichts zu sagen hat, werden die 30 oder 60 Minuten ganz schnell auch quälend. Eine Rede, die nur das enthält, was der Zuhörer ohnehin schon weiß, kann man sich sparen. Das Moment der Überraschung, der Reibung, der präzisen Provokation gehört zu einer Rede dazu. Selbst in Trauerreden versuche ich, den Brüchen Raum zu geben. Natürlich viel, viel vorsichtiger als bei anderen Gelegenheiten, weil es ja auch um Pietät geht, um Rücksicht auf die Gefühle der Angehörigen. Aber ich bin sicher: Der mögliche Trost einer Trauerrede wäre nicht so echt, wenn sie nicht wenigstens eine Ahnung von dem gäbe, was im Leben des Verstorbenen schwierig, schmerzlich war.

Sie sprechen vergleichsweise oft bei Beerdigungen. Haben Sie eine besondere Freude an der Form Trauerrede?

Überhaupt nicht. Der Impuls ist eher, mich wegzuducken, wenn ich ahne, diese Aufgabe könnte auf mich zukommen. Aber so viele Schriftsteller gibt es in der Verwandtschaft oder im Freundeskreis meist nicht, und wenn nicht oder nicht nur der Pfarrer oder Mullah reden soll, ist oft der Literat dran. Ich habe den Eindruck, wir füllen in der säkularisierten Zeit oft ein Vakuum, das kaum je so stark empfunden wird, wie wenn man von einem geliebten Menschen gemeinsam Abschied nimmt. Also wenn einem die Worte fehlen, da hatte man früher die Religion, das Gebet.

Es heißt ja gern, es werde nirgends so viel gelogen wie auf Beerdigungen.

Ja, aber diese Art der Lüge ist dem Schriftsteller verboten. Die Anwesenden bei einer Trauerfeier und zumal die Angehörigen wissen doch selbst, was im Leben des Verstorbenen alles schwierig und beschwerlich war. Und sie können alles, was an Gutem gesagt wird, doch nur annehmen, wenn sie das Gefühl haben, dass es ehrlich ist und stimmig.

Selbst beim Lesen rühren Ihre Trauerreden bisweilen zu Tränen. Ist das von Ihnen beabsichtigt?

Ich ziele sicher nicht darauf, dass unentwegt Tränen fließen. Aber wo getrauert wird, darf auch geweint werden, warum denn nicht? Und wo Menschen gemeinsam Abschied nehmen, entsteht ein Raum dafür. Ich glaube, dass das eher heilsam ist, wenn man auch mal die Fassung verliert. Und wenn es den Mitmenschen genauso geht, liegt darin vielleicht sogar etwas Trost. Man ist in seiner Trauer, die ja auch immer etwas Individuelles und Einsames hat, nicht mehr nur allein.

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Sie haben auch auf der Beerdigung Ihres Vaters gesprochen. Haben die eigenen Gefühle Sie jemals übermannt?

Seltsamerweise nicht. Ich weiß, dass Rednern das bei großer emotionaler Beteiligung passieren kann. Und wenn es so ist, dann ist es eben so. Ich selber allerdings bin – wie vor allen wichtigen Reden – extrem aufgeregt und dadurch in einer Art Tunnel. Ich konzentriere mich einfach aufs nächste Wort.

Was war in Ihrem Redner-Dasein der heikelste Moment?

Als ich am Ende meiner Friedenspreis-Rede 2015 die Zuhörer in der Frankfurter Paulskirche aufgefordert habe, aufzustehen und mit Wünschen oder Gebeten bei den in Syrien entführten Christen zu sein, da war ich natürlich aufs Äußerste angespannt. Was wäre passiert, wenn das Publikum einfach sitzen geblieben wäre? So etwas kann man nicht proben. Aber genau solche Unsicherheiten machen ja das Lebendige einer Rede aus.

Reden haben in der Geschichte viel Unheil angerichtet. Ist der Macht der Rede noch zu trauen?

Das gesprochene Wort wird unterschätzt, weil wir in einer Plapperkultur leben und selbst die Schriftsprache durch die Internetkommunikation immer näher an das flüchtige Geplapper heranrückt. Dadurch geht das Gefühl für die Magie des gesprochenen Worts mehr und mehr verloren.

Von der Magie ist es nur ein kurzer Weg zur Demagogie.

Das ist das Gefährliche. Aber sollten wir deswegen die heilsame, bewegende Kraft der Sprache preisgeben, die uns anrührt, uns das Herz öffnet und uns anstiftet zu großartigen Dingen? Ich meine, gerade in Deutschland sind wir – aus gutem Grund – ohnehin sehr vorsichtig mit dem hohen Ton. Es gibt eine bleibende Aversion gegen pathetisches Reden, weil alle wissen, wie schändlich es von den nationalsozialistischen Demagogen missbraucht worden ist.

Plädieren Sie für mehr Mut zum hohen Ton?

Nein. Das muss von innen kommen oder eben nicht. Der Redner scheitert, wenn er alles richtig machen will. Wenn er sich vorher überlegt, „was muss ich sagen?“ und nicht „was will ich sagen?“, dann geht nicht nur die Individualität verloren, sondern auch die Dringlichkeit des Anliegens.Politiker-Reden klingen oft so, als hätten sie sich noch etwas ganz anderes gefragt, nämlich: „Was sollte ich besser nicht sagen?“

Das liegt natürlich auch daran, dass die Öffentlichkeit und die veröffentlichte Meinung, also die Medien, dazu neigen, schon die kleinsten Eigenheiten, Unsicherheiten und Unebenheiten wahlweise zu bespötteln oder zu skandalisieren. Das Ergebnis sind möglichst glattgeschliffene Reden, bei denen jedes Wort richtig ist, aber nichts in Erinnerung bleibt.

Ist in Deutschland die Freiheit der Rede bedroht?

Ich sehe in der Tat zwei Gefahren, die aber völlig unsinnigerweise auf einer Ebene, parallel zueinander, diskutiert werden. Die erste Gefahr ist ein zunehmender Druck durch Konventionen, wie „man“ angeblich zu denken und zu reden hat, ob nun über Migranten, Geschlechterfragen oder Homosexualität. Auch wenn ich die Haltungen überwiegend teile, die sich in Deutschland zu diesen Fragen in den letzten zwei Jahrzehnten durchgesetzt haben, stößt mir das völlige Unverständnis auf, wenn jemand in diesen Fragen auch nur drei Millimeter anders denkt. Und in bezug auf andere Länder, in Osteuropa etwa, bekommt unsere Haltung oft eine ganz unangenehme koloniale Arroganz: Die sollen schleunigst mal werden wie wir, sonst…. Also ja, es fehlt eine Bereitschaft, Andersdenkenden wenigstens einmal zuzuhören, nicht zuletzt auch an den Universitäten, im Theater, im Kulturbetrieb. Aber ist diese Unduldsamkeit so neu? Selbst Theodor W. Adorno wurde in der Universität am Reden gehindert von Studenten, die auf den Millimeter genau zu wissen glaubten, was progressiv ist und was nicht. Ich finde das nicht gut, aber ich finde es völlig ungehörig, etwa die Störung einer Rede oder auch bestimmte Sprachregelungen, die mich stören und an die ich mich nicht halte, auf eine Stufe zu stellen mit der zweiten, weitaus größeren Gefahr.

Welche ist das?

Konkrete körperliche Drohungen oder gar tätliche Angriffe. Wir leben in einer Stadt, deren Oberbürgermeisterin fast ermordet worden wäre, weil jemand anderer Meinung war als sie. Und spätestens der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke sollte deutlich gemacht haben, dass es einen abgrundtiefen Unterschied gibt zu Störungen einer Rede durch – oftmals idealistisch gesinnte - Aktivisten. Die Bedrohung von Leib und Leben zerstört die Meinungsfreiheit. Die Bundeskanzlerin, ein Minister, ein Partei- oder Verbandschef, ja selbst prominente Intellektuelle mögen von der Polizei geschützt werden. Nicht aber der Landrat, der örtliche Bürgermeister, der Lokaljournalist. Die werden sich dreimal überlegen, ob sie durch ein offenes Wort sich selbst oder ihre Familien in Gefahr bringen wollen.

Was schlagen Sie als Gegenmaßnahmen vor?

Das Internet darf kein rechtsfreier Raum sein. Es ist Öffentlichkeit, und es müssen die gleichen Regeln gelten wie anderswo im öffentlichen Raum. Was Nutzer des Internets sich im Schutz der Anonymität an Beleidigungen, Verunglimpfungen und Bedrohungen herausnehmen, das ließe kein vernünftiger Mensch unter den Schutz der Meinungsfreiheit fallen. Und jeder, der so etwas in einer Zeitung schreiben oder anderweitig veröffentlichen würde, würde dafür zu Recht belangt. Ich bin dezidiert nicht für schärfere Gesetze, ich will nicht, dass die Meinungsfreiheit enger ausgelegt wird, eher im Gegenteil. Ich fange auch gar nicht, von Herzensbildung, von Anstandsregeln, von Höflichkeit zu reden, das hat man, oder man hat es zum eigenen Schaden nicht. Ich plädiere nur dafür, dass die geltenden Gesetze endlich auch dort durchgesetzt werden, wo billionenenschwere Internetkonzerne ein Geschäftsmodell aus den niedersten Instinkten des Menschen gemacht haben. Ansonsten machen wir unsere Demokratie kaputt, die auf eine freie, also auch angstfreie, sachorientierte Öffentlichkeit angewiesen ist, in der noch zwischen wahr und unwahr unterschieden wird. Siehe Brexit, siehe USA, siehe Brasilien.

„Es ist wichtig mit denen zu sprechen, die nicht der gleichen Meinung sind”

Die Autorin Christine Brückner hat vor vielen Jahren ein Buch mit fiktiven „ungehaltenen Reden“ veröffentlicht. Welche „ungehaltene Rede“ haben Sie im Kopf?

Anfragen für Reden auf Parteitagen und ähnlichem habe ich bislang immer abgelehnt, bei allen Parteien. Nicht weil das unwichtige Foren sind, aber ich glaube, dort wäre nicht mein Platz. Um die Gesellschaft zu beobachten, brauche ich die Distanz zum politischen Betrieb, auch die Einsamkeit. Nur zur AfD wäre ich vor ein paar Jahren einmal gegangen, wenn sie mich eingeladen hätten. Aber mein Gesprächspartner dort hat auf mein Angebot nicht reagiert.

Warum ausgerechnet zur AfD?

Weil es wichtiger ist, mit denen zu sprechen, die nicht der gleichen Meinung sind. Aber es setzt eben auch deren Bereitschaft voraus. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums ist sie allerdings auch nicht eben ausgeprägt.

Worüber müsste generell einmal eine ungehaltene Rede gehalten werden?

Es gibt ein Themenfeld, das in absurder Weise zu kurz kommt: die immer größere Abhängigkeit unseres Landes von dem, was in der Welt passiert – politisch wie ökonomisch und auch ökologisch. Am Bedeutungsverlust des Außenministers lässt sich das gut beobachten, das war früher faktisch das zweitwichtigste Amt im Staat war. Und jetzt ist es Heiko Maas. Meine Generation ist noch groß geworden mit dem Internationalismus, mit Stichworten wie „Nord-Süd-Dialog“, mit der Verantwortung für die sogenannte Dritte Welt, mit Fair-Trade-Kaffee aus Guatemala und Solidaritätskundgebungen für Nicaragua. Seitdem ist die Globalisierung in ungeahnter Weise vorangeschritten, aber ich habe das Gefühl: Je enger die Vernetzung wird, je weiter sich die Alltagserfahrungen und Lebensstile sich angleichen, desto größer wird die Tendenz zur Ignoranz, zur Borniertheit und eben auch zum Nationalismus oder Fundamentalismus. Alles in dem krampfhaften Bemühen, irgendwie noch etwas Eigenes zu retten. Dagegen müsste es vielleicht tatsächlich mal eine große Rede gehalten werden.

Einspruch! Es gibt doch eine prominente Gegenrednerin: Greta Thunberg.

Das stimmt. Ich finde, ihre Rede vor den UN in New York war eine große Rede – sehr emotional, sehr einseitig, sehr anstößig im besten Sinne. Man hat es ja an den aufgeregten und teilweise auch verächtlichen, unter die Gürtellinie zielenden Reaktionen gemerkt – sie sei krank und so weiter. Dabei war die Wirkung auch deshalb so stark, weil sie in ihren Auftritten normalerweise betont sachlich, geradezu aufreizend nüchtern redet. Daran hatten sich viele ja auch schon wieder gestört: Sie soll mal nicht so altklug sein. In New York hat sie dann einmalig, punktgenau die Fassung verloren und die Erwartungen gebrochen.

Und sie schafft es offenbar mit ihren Reden, dass viele Menschen ins Nachdenken über ihren persönlichen Lebensstil kommen.

Die „Fridays for Future“-Bewegung mit der weltweiten Solidarisierung der jungen Generation ist fantastisch, und ich finde, das Aufrütteln ist schon Erfolg genug. Welche politische Bewegung der letzten Jahre hatte eine so durchschlagende Wirkung? Die Jungen müssen den Älteren nicht auch noch die Antworten liefern, dafür sind sie nicht zuständig. Allerdings würde ich schon kritisch einwenden, dass der Protest allzu einseitig auf das Thema Klima geht. Armut, Unfreiheit, Krieg – all das bleibt eher unterhalb der Empörungsschwelle. Es gab – um nur ein Beispiel zu nennen - keinen auch nur annähernd vergleichbaren Aufschrei wegen des Kriegs in Syrien. Ich habe aber schon die Hoffnung, dass aus der Klimabewegung ein Bewusstsein für so etwas wie „Weltinnenpolitik“ entsteht, der unserer Generation verloren gegangen ist.

Wenn Sie Ihre eigenen Reden an sichtbaren Erfolgen messen wollten, wären Sie mit einer grandios gescheitert: der „Ruck-Rede“ zum 70. Geburtstag des 1. FC Köln vor genau einem Jahr.

Eine schwere Schmach, ja. Auch wenn ich mir für diesen Abend keine „Ruck-Rede“ vorgenommen hatte und die Weichen damals zuverlässig in Richtung Wiederaufstieg gestellt waren, ist es danach nicht besser geworden. Und ich muss zugeben: Alle Worte scheinen bei diesem Verein vergebens zu sein. Meine Worte schon mal ganz sicher. Aber ich bin natürlich auch nicht der Mann für die Kabinen-Ansprachen. Es kommt einem ja so vor, als hätte Köln sich in ein toxisches Gelände verwandelt: Wie viele Spieler – und Trainer – sind nicht schon in diese Stadt zu diesem Verein gekommen, die davor und danach überall besser gespielt haben! Jetzt auch noch der Beierlorzer in Mainz, der mit zehn Mann mal eben 5:1 in Hoffenheim gewinnt: Das ist doch verhext!

Aber woran liegt das?

Schwer zu sagen. Vielleicht hilft es, noch einmal zu schauen, was unter Peter Stöger als Trainer, Jörg Schmadtke als Manager und Werner Spinner als Präsident funktioniert hat. Immerhin haben diese wenigen guten Jahre bewiesen: Dass es schief läuft beim FC, ist kein Naturgesetz. Von den guten alten Zeiten will ich gar nicht erst reden, sonst sind wir gleich schon wieder beim Größenwahn.

Halten Sie die Stadt Köln mit allem, was hier schief läuft, denn für veränderungsfähig?

Ganz offenkundig steht Köln in so vielen Bereichen schlechter da als vergleichbare andere Städte. Ich will Behördenversagen, Planungs- und Verkehrschaos, Bauskandale und Schlendrian, die immer wieder bodenlose Kulturpolitik und die geradezu freche Geringschätzung des öffentlichen Raums nicht einzelnen Politikern in die Schuhe schieben. Das kommt schon auch aus der Stadt selbst. Die Selbstbesoffenheit, die Leutseligkeit, die Köln zugleich sympathisch macht, ist für die Stadtentwicklung eben auch ein Problem. Es ist der ganze Wir-sind-Karneval-wir-sind-Kultur-wir-sind-Multikulti-Quatsch, der sich wie ein süßes, lähmendes Gift im Organismus der Stadt und in den Köpfen festgesetzt hat.

„Et hätt noch immer jot jejange…“

Ich kann das wirklich nicht mehr hören. Spätestens nach dem Einsturz des Stadtarchivs hätten noch die Letzten begreifen müssen, dass es eben leider nicht immer gut geht. Die Dimension dieses Unglücks ist in Köln überhaupt nicht begriffen worden: In einer Stadt mit einem deutschlandweit einzigartigen kulturellen Erbe fällt das historische Gedächtnis buchstäblich in ein gähnendes Loch. Ausgerechnet hier, wo man in ein hässliches Parkhaus fährt und plötzlich in der Römerzeit steht, wo man aus der gesichtslosen Fußgängerzone in eine romanische Kirche stolpert und buchstäblich aus der Zeit getragen und verzaubert wird! Und dann - stürzt unser Archiv ein. Welch eine dramatische Symbolik! Welch ein Trauma! Aber haben die Kölner sich damit beschäftigt? Nein. Man hat sich in die juristische „Aufarbeitung“ geflüchtet, aber innerlich, mental verarbeitet hat die Stadt die Katastrophe des Archiveinsturzes nicht.

Was bräuchte es also?

Was diese Stadt braucht, ist eine Ansprache aus liebender Wut. Ich stelle mir manchmal vor, wie es wäre, wenn Heinrich Böll seiner Stadt Köln und den Kölnern nach dem Archiveinsturz die Meinung gesagt hätte. Das wäre eine „ungehaltene Rede“, wie ich sie mir wünschen würde. Sie käme aus einem Herzen, das für diese Stadt schlägt.

Also eine Rede für Sie?

Nein. Ich bin noch nicht genug Kölner, um die Stadt frontal anzugehen, es hätte nicht den gleichen Furor, wie wenn jemand immer schon in Köln gelebt hat. Bei mir sind es erst 33 Jahre. In zwanzig Jahren vielleicht – aber selbst dann würde mir die so schöne rheinische Sprachmelodie fehlen, durch die die Attacke schon klanglich zur Selbstkritik würde.

Das Gespräch führten Carsten Fiedler und Joachim Frank