Nach zweijähriger Zwangspause kann endlich wieder uneingeschränkt gefeiert werden.
Kölner Straßenkarneval eröffnetGlückselig im Schnipsel-Regen
Als Weiberfastnacht um Punkt 11.11 Uhr der Countdown runtergezählt ist und eine ganze Batterie von Konfettikanonen einen rot-goldenen Schnipsel-Regen in den Himmel zeichnet, ist der Straßenkarneval 2023 offiziell eröffnet. Große Erleichterung bei den Jecken auf und um den Alter Markt – nach zweijähriger Zwangspause kann endlich wieder uneingeschränkt gefeiert werden.
Rund zweitausend Kostümierte stehen auf und vor den schon für Rosenmontag aufgebauten Tribünen und applaudieren Dreigestirn, Oberbürgermeisterin Henriette Reker, Altstädter-Präsident Hans Kölschbach und dem vollständig vertretenen Vorstand des Festkomitees. Die Ansprachen sind erfreulich kurz.
Der Prinz gibt sein Mikrofon mit Verweis auf Wieverfastelovend direkt an Jungfrau Agrippina weiter, die aber so heiser ist, dass man kaum etwas versteht. Und das, was Oberbürgermeisterin Henriette Reker sagt, ist so leise, dass gar keiner was mitbekommt in der jecken Arena. „Die Hüsjer bunt am Aldermaat“, intoniert die Menge glückselig, Altstädter samt Mariechen tanzen dazu.
Die Alaafs jedenfalls sind angekommen, die gute Laune auf der Bühne auch. Das hat für das feierwütige Volk allemal mehr Bedeutung. Genau wie die Musik, denn dafür ist man hier – singe, höppe un danze, schunkele. Wenn dann noch ein paar Kölsch, Käse- und Mettbrötchen hängen bleiben, umso besser. Und auch musikalisch ist für jeden Geschmack was dabei. Funky Marys, Marita Köllner, Drummerholics und Philipp Godart vor dem Countdown, danach reißen Stadtrand, Lupo, Cöllner und vor allem die Höhner sämtliche Restdämme ein. „Pass op, pass op, Prinzessin, dat Krokodil will dich fresse …“
Bis 13 Uhr geht das Programm. Dann zieht man weiter in die Kneipen und Gassen der Altstadt, die schon kurz nach zwölf gut gefüllt sind, ob Gardist, Prinzessin oder eines dieser anderen „wilden Tiere“. Hier begegnet man Siegfried & Roy aus dem Sauerland, die Autogramme verteilen, einer Gruppe Damen, die offenbar das Fegefeuer geben, und ein paar Meter weiter weiblichen Schneemännern, die zwei Generationen jünger sind. Einige Kääls haben schon mittags Pupillen-Stillstand. Längst ist es egal, dass dünne Wolken aufgezogen sind und et vermeintliche Sönnche ein großer Scheinwerfer ist.
Erster Umzug schon um acht Uhr
Die Sonne war gerade über der Hohenzollernbrücke aufgegangen, als der erste Umzug des Straßenkarnevals startete: Um acht Uhr machte der Bellejeck sich am Bahnhofsvorplatz auf in Richtung Dorint am Heumarkt, um die Jecken und das Dreigestirn zu wecken. Begleitet von Abordnungen unterschiedlicher Gesellschaften, Plaggeköpp genannten Fahnenträgern und bunt Kostümierten zog er Richtung Hofburg.
In der Session 2008/2009 hatte die Große Allgemeine KG von 1900 den Bellejeck wiederbelebt, seine Tradition reicht mehr als 500 Jahre zurück. „Kritik zu halten“ ist seit dem Mittelalter die Rolle des Bellejeck, einem Narren in historischem grün-rot-goldenem Anzug mit Eulenspiegelkappen an dem „Bellen“ genannte Schellen fröhlich herumbimmeln.
Alfred Wolf verkörpert die Rolle schon seit der Session 2020/2021, aufgrund von Corona kann er aber erst jetzt im Narrenkleid durch die Straßen ziehen. Die Sache mit dem Kritikhalten nimmt er durchaus ernst. So manche Exzesse hätten mit der Idee von Karneval nicht mehr viel zu tun, so Wolf. Diesem könne man aber begegnen, indem man die Werte des Karnevals vorleben würde. „Gerade in den Familiengesellschaften, wo der Karneval generationenübergreifend gemeinsam gefeiert wird, steckt eine große Chance, die 200-jährige Tradition des Karnevals auch heute zeitgemäß zu leben.“ Und dann geht’s los, um das Dreigestirn mit „opston“-Rufen aus den Betten zu werfen.
Grüne in leuchtendem Gelb
Die Auswüchse, die das Weiberfastnachtstreiben in Köln seit vielen Jahren begleiten, sind auch OB Henriette Reker ein Dorn im Auge. Sie empfängt zur Eröffnung des Straßenkarnevals nacheinander die Blauen Funken und dann das Dreigestirn samt Entourage im Historischen Rathaus. „Die Qualität des Feierns, egal ob auf dem Alter Markt oder an der Zülpicher Straße, bemisst sich nicht in Litern, sondern zeigt sich an den Begegnungen, die wir haben und an der Herzlichkeit, wie wir miteinander umgehen“, sagte Reker und erhält dafür kräftigen Applaus.
Auch wenn sich Stadt und offizieller Karneval nicht einig sind, wer für die Lösung der Probleme zuständig ist – dass sich an den Zuständen etwas ändern muss, ist unstrittig. Die Fraktion der Grünen kommt rein und flutet den Saal mit erneuerbarer Energie, kostümiert in leuchtendem Gelb als eine Art Sonnenkinder.
Wieder Karneval zu feiern nach der Pandemie und trotz des andauernden Krieges in der Ukraine steht auch außer Frage. Karneval erinnere an die Mitmenschlichkeit: „Wir dürfen und sollten feiern“, sagt Reker und mahnt: „Fröhlich, aber nachdenklich. Wir müssen denen den Spiegel vorhalten, die sich danebenbenehmen.“
Gegen den Krieg setzt sie auch optisch Akzente. Sie steht im historischen Kleid der Hellige Knäächte un Mägde am Mikrofon und nicht, wie in anderen Jahren, in der Uniform der Roten Funken, bei denen sie als Oberbürgermeisterin qua Amtes automatisch General ist, Funkenname Agrippina Courage. „Ich wollte dieses Jahr nicht als Soldat vor euch stehen, sondern als Mädchen.“
Mädchen sein wollte in diesem Jahr auch André Fahnenbruck. Der ist als Jungfrau Agrippina an Weiberfastnacht Chefin im Ring des Dreigestirns – und mächtig heiser. „Hück es unser Daach, leev Mädcher“ sagt ihre Lieblichkeit. Auch Agrippina gibt sich nachdenklich ob der Ambivalenz der eigenen Regentschaft. Bei einem Besuch des blau-gelben Kreuzes am Vortag sei einem die Dramatik des Krieges schonungslos vor Augen geführt worden. „Wenn die Russen medizinische Helfer erschießen, da versteht man die Welt nicht mehr“, sagt die Jungfrau, und Bauer Marco hat Tränen in den Augen. Und heute stünde man hier, so Agrippina, der Straßenkarneval ginge los, und das Thema ist „zesamme fiere un et Föttche schwinge“. Genau, Agrippina, das ist Karneval.