Köln – Das Erzbistum Köln steht vor einem Rekord an Kirchenaustritten im Jahr 2021 mit einer Steigerungsrate in ungekanntem Ausmaß.
Nachdem das Amtsgericht Köln, auf dessen Gebiet etwa ein Sechstel der knapp 1,9 Millionen Katholikinnen und Katholiken im Erzbistum lebt, mit Beginn des Monats November die Buchungstermine für einen Austritt im Januar 2022 freigeschaltet hat und bis Ende Dezember alle 3000 Termine ausgebucht sind, lässt sich auf dieser Basis bereits eine – aus Kirchensicht – Bilanz des Schreckens ziehen.
20.000 Austritte bis Jahresende in Köln
Bis Jahresende werden in Köln mehr als 20.000 Kirchenmitglieder beider Konfessionen ihren Kirchenaustritt erklärt haben. Das sind mehr als doppelt so viele wie im bisherigen Rekordjahr 2019. Die damals erreichte Zahl von 10.073 Austritten stellte ihrerseits schon eine massive Steigerung gegenüber den Vorjahren dar: 2018 waren 7618 Mitglieder aus ihrer Kirche ausgetreten, 2017 waren es 6174.
Die errechnete Zahl von mehr als 20.000 Austritten ergibt sich aus der Addition des amtlichen Ergebnisses für die ersten drei Quartale (15.339) mit den 4500 vom Amtsgericht angebotenen Terminen von Oktober bis Dezember. Hinzu kommen dann noch die notariell beglaubigten Austrittserklärungen, die schriftlich bei Gericht eingehen. Diese Zahl dürfte sich nach den Erfahrungen der Vormonate in einer Größenordnung zwischen 400 und 900 bewegen.
Lage auf das Bistum übertragbar
Da die Gesamtentwicklung und die Relation der Zahlen in der Stadt Köln und im ganzen Erzbistum über die Jahre hinweg mit geringfügigen Abweichungen deckungsgleich sind, ist für 2021 von einer Verdoppelung auch auf Bistumsebene auszugehen. Demnach müssen die Verantwortlichen mit einer Summe von annähernd 50.000 Austritten rechnen. Im bisherigen Rekordjahr 2019 hatten bistumsweit 24.300 Katholikinnen und Katholiken die Kirche verlassen.
Der Kölner Stadtdechant Robert Kleine zeigte sich erneut bekümmert. „Ich bedauere sehr, dass weiterhin so viele Kölnerinnen und Kölner aus der Kirche austreten“, sagte er dem „Kölner Stadt-Anzeiger“.
Suche nach neuer Form von Dialog
Mit dem Beginn der „Auszeit“ von Kardinal Rainer Woelki befinde sich das Erzbistum momentan in einer Phase, in der Woelkis Stellvertreter, Weihbischof Rolf Steinhäuser, nach Kleines Worten „in eine neue Form von Dialog und Gesprächskultur eintreten möchte“. Dabei werde er ihn nach Kräften unterstützen, betonte Kleine, der als stellvertretender Dompropst auch ein führender Repräsentant des Erzbistums ist.
Die angestrebte Erneuerung sei „die einzige Chance, dass uns nicht noch mehr Menschen ihr Vertrauen entziehen. Meine Hoffnung ist, dass enttäuschte Gläubige diese Entwicklung abwarten und sich in diesen Dialog kritisch einbringen.“
Schon Anfang 2021 hatte Kleine in einem Interview(hier geht es zum Wortlaut) den sprunghaften Anstieg der Austrittszahlen im laufenden Jahr mit der Krise der Kirche im Zuge des Missbrauchsskandals und der Diskussion über das Agieren der Bistumsleitung unter Kardinal Rainer Woelki bei der Aufarbeitung zusammengebracht. Die gegenwärtige Krise im Erzbistum „verdunkelt das Licht der frohen Botschaft, die wir zu verkünden haben und treibt Menschen in Scharen aus der Kirche“. so Kleine seinerzeit. Er halte das zwar nach wie vor für den falschen Schritt, könne ihn „derzeit niemandem verdenken“.
Allerdings ist die vermehrte Abkehr der Katholikinnen und Katholiken von ihrer Kirche nicht auf das Erzbistum beschränkt. Auch andere Bistümer berichten über ähnliche Zuwachsraten bei den Kirchenaustritten. Mitbrüder Woelkis im Bischofsamt sprechen von einer Mithaftung der gesamten Kirche in Deutschland für die Situation in Köln.
„Da bleibt mir die Luft weg“
Der Vorsitzende des Kölner Katholikenausschusses, Gregor Stiels, zeigte sich angesichts der zu erwartenden Zahlen sprachlos. „Da bleibt mir spontan die Luft weg“, sagte er dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Schon im bisherigen Rekordjahr 2019 habe die Kölner Laienvertretung Kardinal Woelki und seinen Generalvikar Markus Hofmann gefragt, welche Gegenstrategie sie hätten und was sie gegen die horrenden Austrittszahlen zu tun gedächten. „Darauf gab es bis heute keine Antwort“, sagte Stiels. „Ich habe den Eindruck, es gibt auch keine Idee.“
Erzbistum: Jeder Austritt tut weh
Generalvikar Markus Hofmann, der in Kardinal Woelkis Auszeit unter dem Titel „Delegat“ an der Seite von Bistumsverwalter Steinhäuser agiert, sagte auf Anfrage des „Kölner Stadt-Anzeiger“, das Erzbistum verfolge die Entwicklung der Austrittszahlen „mit großer Sorge“. „Jeder einzelne Austritt tut weh, da er immer auch ein Zeichen der inneren Distanzierung ist und uns schmerzlich vor Augen führt, dass unsere Kirche viele Menschen nicht mehr erreicht.“ Auch die anderen Bistümer und die evangelischen Landeskirchen müssten diese Erfahrung machen.
„Hinzu kommt, dass sich die klassische Form des kirchlichen Miteinanders an vielen Stellen nicht mehr in der Lebensrealität der Menschen wiederfindet. Daraus ergeben sich große Herausforderungen für die Kirche von morgen.“ Zugleich hätten aber gerade während der Corona-Krise und auch nach der Flutkatastrophe viele Menschen „ganz praktisch erfahren, was Kirche zu leisten im Stande ist, was unserem Leben einen tieferen Sinn gibt.“
Ziel des Erzbistums sei es, „dauerhaft eine für die gesamte Gesellschaft relevante Gemeinschaft in der Nachfolge Jesu zu bleiben“. Der von Papst Franziskus ausgerufene weltweite synodale Prozess sei hier „für alle Gläubigen eine große Chance“, so Hofmann. Auf die Lage im Erzbistum ging er nicht weiter ein.
„Kirchenführung braucht eine Umkehr“
Stiels sagte jetzt, da die Austrittswelle nunmehr auch die Zentren der Gemeinden erfasst habe und Menschen weggingen, die sich über Jahre und Jahrzehnte in der Kirche engagiert hätten, müsste eigentlich mit aller Kraft gegengesteuert werden.
„Jetzt rächt es sich, dass die Sorgen der Menschen nicht mehr die Sorgen der Kirche sind.“ Es sei die Kirche und ihre Führung, die in dieser Situation eine Umkehr brauche.
Wenig Hoffnung auf Wandel nach Woelkis Auszeit
Als bitter bezeichnete Stiels es, dass sich in den vier Jahren seiner Amtszeit an der Spitze des Erzbistums „wenig bis gar nichts bewegt“ habe.
Stiels bezweifelte, dass sich daran nach einer Rückkehr des Kardinals aus seiner „Auszeit“ im März etwas ändern werde. „Er soll die Chance haben, zu sagen, was ihm eingefallen ist. Aber mir fehlt die Fantasie, was das sein sollte – außer Durchhalteparolen und einer Politik der kleinen Schritte.“ Wenn Woelki wirklich Ideen für einen großen Wurf hätte, „dann hätte er doch längst mit der Umsetzung beginnen können.“
Austritt auch über den Notar
Oktober hatte das Amtsgericht die Schluss-Statistik für die ersten drei Quartale mitgeteilt, in die neben den mündlich bei Gericht erklärten Austritten auch die schriftlichen Mitteilungen eingegangen sind, die von einem Notar oder einer Notarin beglaubigt und an das Gericht übersandt werden.
Da hierfür über die gerichtliche Verwaltungsgebühr von 30 Euro hinaus zusätzlich noch die Notarkosten anfallen, beschreiten nur vergleichsweise wenige Austrittswillige diesen Weg.
Terminstau bei Gericht
Allerdings ging mit einem eklatanten Terminstau beim Gericht in den ersten neun Monaten des Jahres auch ein starker Anstieg der schriftlichen Austrittserklärungen einher. Auch wenn das Gericht diese Zahl statistisch nicht eigens erfasst, lässt sie sich überschlägig berechnen, nämlich aus der Differenz zwischen der Gesamtzahl der Austritte und den vom Gericht angebotenen Terminen.
Der Anteil der über Notare erklärten Austritte verdoppelte sich demnach von weniger als zehn Prozent im ersten Quartal 2021 auf etwa 20 Prozent in den Monaten April bis September. Die amtlichen Zahlen für das vierte Quartal stehen naturgemäß noch aus.
Sonderfall Corona-Jahr 2020
Das Corona-Jahr 2020, in dem die Zahl der Austritte noch unter das Niveau des Jahres 2018 sank, stellte einen Sonderfall dar, weil die Austrittsstelle des Amtsgerichts wegen des Lockdowns zeitweilig komplett geschlossen war. So erklärten im gesamten zweiten Quartal des Jahres nur 763 Kölnerinnen und Kölner ihren Kirchenaustritt.
Wie Gerichtssprecher Maurits Steinebach erläutert, bot das Gericht dann ab Sommer 2020 über das Online-Portal justiz.termine.nrw.de des Landes wieder Austrittstermine an. Per Saldo wurde so im ganzen Jahr 2020 eine Zahl von 6960 erreicht.
Terminangebot fast verdreifacht
Auf dem Amtsgerichtsbezirk Köln, dem größten im Erzbistum und in ganz NRW, lag besondere Aufmerksamkeit, nicht nur weil das Gericht seine Zahlen – nach Konfessionen nicht differenziert – fortlaufend veröffentlicht, sondern weil es das Angebot an Online-Terminen wegen des enormen Ansturms seit Jahresbeginn dreimal aufgestockt hat: von zunächst rund 650 Terminen im Januar auf 1000 Termine im Februar und 1500 Termine in den Monaten März bis Mai auf schließlich 1800 Termine. Im Februar war überdies zeitweilig der Buchungsserver wegen Überlastung und technischer Probleme zusammengebrochen.
Austrittswillige nicht vertrösten
„Den Zustand, dass am Monatsersten alle Termine für den jeweils übernächsten Monat bereits nach wenigen Stunden vergriffen waren, wollten wir nicht mehr hinnehmen“, erklärt Gerichtssprecher Steinebach. Das Austrittsgesetz des Landes NRW verpflichte die Justizbehörde, Bürgerinnen und Bürgern den Austritt zu ermöglichen, ohne sie „über Monate hinweg vertrösten zu müssen“.
Die Austrittswelle habe in den Sommermonaten auf hohem Niveau etwas abgenommen, so dass seit September wieder rund 1500 Termine monatlich vergeben werden. Die exakte Größe schwankt, je nach der Zahl von Werktagen. Damit liegt das Angebot aber immer noch um mehr als das Doppelte über jenem des Vorjahreszeitraums.
Systembedingt werden diese seit November nicht mehr am Monatsersten um null Uhr freigeschaltet, sondern erst um 7 Uhr morgens, wie Steinebach weiter erläuterte.