Unsere Kolumnistin, Dombaumeisterin a.D. Barbara Schock-Werner, ist hellauf begeistert von der Sonderausstellung „Magie Bergkristall“ im Kölner Museum Schnütgen. Einige Exponate, sagt sie, seien zum Niederknien schön.
Auf den Punkt spezialDas Parfümfläschchen des Kalifen von Bagdad
„Magie Bergkristall“ heißt die aktuelle Sonderausstellung im Museum Schnütgen. Und tatsächlich haben mich die Exponate und ihre Präsentation magisch in den Bann gezogen. Schon als Rohstoff fasziniert das in der ganzen Welt hochgeschätzte und teuer gehandelte Mineral, das im Mittelalter wegen seiner durchscheinenden Klarheit und Transparenz ein Symbol des Göttlichen war. Aber dass man so viel Wunderbares aus diesem besonderen Material an einem Ort versammeln und zugänglich machen kann, das ist wirklich umwerfend. Die Auswahl ist ein Augenöffner für mittelalterliche Kunst. Es gibt Stücke, vor denen möchte man niederknien – so überwältigend schön sind sie.
2000 Jahre alte Tasse aus dem Römisch-Germanischen Museum
Schon in der Antike wurde Bergkristall verarbeitet. Die Ausstellung zeigt zum Beispiel eine zweihenkelige Tasse aus dem 1. Jahrhundert nach Christus, die aus einem einzigen Stück geschnitten wurde, eine handwerkliche Meisterleistung und ein Ausbund an Eleganz. Man steht vor der Vitrine und möchte gar nicht glauben, dass dieses Stück 2000 Jahre alt sein soll.
Ein paar Jahrhunderte jünger, aber immer noch weit älter als 1000 Jahre ist eine Art Lupe aus Bergkristall. Die Besonderheit: Sie ist asphärisch geschliffen, das heißt, es gibt etwa beim Lesen eines darunter liegenden Schriftstücks keine Verzerrungen zu den Rändern hin. Für diese Meisterleistung war – man höre und staune – ein Wikinger verantwortlich. Auch wenn sich meine Kenntnisse über die Wikinger nicht nur auf Hägar, den Schrecklichen beschränken, hätte ich nicht vermutet, dass es bei ihnen ein besonderes Interesse an leichterem Lesen gegeben hat. Aber wer weiß, vielleicht ist mein spontanes Bild vom schmökernden Wikinger ja auch nur eine schöne Einbildung.
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Zu meinen persönlichen Highlights der Ausstellung gehört eine Leihgabe aus der Kunstkammer des Kunsthistorischen Museums in Wien: Ein ebenfalls monolithischer, das heißt aus einem einzigen Stück Bergkristall gearbeiteter bauchiger Henkelkrug aus dem 14. Jahrhundert. Wir Heutigen, die wir immer und überall von Glasgegenständen jeglicher Art umgeben sind, brauchen ein Stück Übersetzungsleistung, um uns klarzumachen, was für einen überwältigenden Eindruck ein solches Werkstück auf die Menschen vor 700 Jahren gemacht haben muss: Glas gab es zwar auch damals schon, aber nicht in dieser Reinheit und nicht in solch einer Form. Man hat bei diesem Krug völlig auf eine Fassung und jedes weitere Dekor verzichtet, weil das Stück selbst schon staunenswert genug war – Luxus pur auf jeder fürstlichen Tafel.
Spannender Kulturaustausch zwischen der islamischen und der christlichen Welt
Meine beiden Lieblingsstücke in der Ausstellung sind zwei Reliquienbehälter. Beide erzählen von der Religiosität der Menschen im Mittelalter, von Heilssehnsucht, von irdischer und himmlischer Macht und von einem hoch spannenden kulturellen Austausch zwischen der islamischen und der christlichen Welt.
Aus dem Domschatz der Kathedralkirche Sankt Paulus in Münster kommt ein Kokosnuss-Reliquiar. Die blank polierte kugelige Schale, die für die Menschen des 13. Jahrhunderts eine Seltenheit mit exotischem Flair war, ist von einer goldenen Fassung umgeben. Sie ist nicht nur Reliquienbehälter, sondern erinnert auch an die Weltkugel. Sie wird hier bekrönt vom Lamm Gottes, einem Christus-Symbol – gut erkennbar an der Fahnenstange in Kreuzesform mit dem Siegesbanner des Auferstandenen daran.
Aber Achtung: Hier trügt der an christlicher Ikonografie geschulte Blick. Die goldene Halsmanschette des „Lammes“ verbirgt, dass der Kopf der kleinen Bergkristall-Skulptur abgesägt, dann umgedreht und neu montiert wurde. Stellt man sich den Kopf in der originalen Stellung vor, hat sich das Bild vom Lamm erledigt, und man erkennt stattdessen: einen Löwen.
Hier wurde kurzerhand eine Statuette aus dem Vorderen Orient zur Zeit der Kalifen aus der Dynastie der Abbasiden (750 bis 1258), also aus dem islamischen Kulturkreis, christlich umgedeutet. Mir hat dieses Kunstwerk auch im übertragenen Sinn den Kopf verdreht.
Kunst-Recycling bei einem Heiligdorn-Reliquiar aus dem 16. Jahrhundert
Auf einer ganz ähnlichen Form des Kunst-Recycling beruht das sogenannte Heiligdorn-Reliquiar aus dem 16. Jahrhundert. Das Schaugefäß aus Bergkristall war ursprünglich ein abassidisches Parfümfläschchen aus dem 10./11. Jahrhundert, jetzt reich gefasst mit Perlen und Rubinen, die an die Tränen und das Blut Christi während der Passion erinnern sollen. Bekrönt wird das Reliquiar durch einen zauberhaft filigranen, rundum mit Goldemail (en ronde bosse) versehenen Engel, der eine Dornenkrone in den Händen hält und dem Betrachter damit unmissverständlich bedeutet, was sich in dem Behälter darunter befindet.
Auch die Geschichte dieses Kunstwerks ist spektakulär und symbolreich: Es war ein Geschenk des 1589 ermordeten französischen Königs Heinrich III. an die Kathedrale von Reims, wo Heinrich 1574 gekrönt wurde. Aus der in Paris aufbewahrten Dornenkrone Christi brachte der König also ein winziges Stückchen an den Ort mit, an dem er die Königskrone erhielt. Der Erzbischof von Reims reichte das Reliquiar später an seine Schwester, eine Äbtissin, weiter.
Ein Parfümfläschchen, das mal einem Kalifen gehört haben mag – schon das ist ein faszinierender Gedanke. Ich denke jedenfalls gleich an die Märchenwelt aus 1001 Nacht. Dass aus dem „heidnischen Tand“ dann aber kurzerhand ein Schaugefäß für den christlichen Kult wurde, das ist dann – wie ich finde – der eigentliche Clou.