Die Jugendkriminalität in NRW ist 2023 um 7,4 Prozent angestiegen. Kann ein Kölner Modell verhindern, dass Intensivtäter rückfällig werden?
Neue BewährungshilfeMarc B. aus Köln ist Intensivtäter – So will der 18-Jährige den Neustart schaffen
Ja, das mit dem bewaffneten Überfall war wohl nicht so eine gute Idee. Auch nicht, Geldbörsen zu klauen und in Wohnungen einzubrechen. Marc B. sieht das mittlerweile ein. Er sitzt im Büro von Martin Maurer und erzählt, was in seinem Leben so alles schiefgelaufen ist. Maurer ist der Bewährungshelfer von Marc B. Das Gespräch mit dem 18-Jährigen findet in der Dienststelle des „Ambulanten Sozialen Dienstes“ der Justiz in der Kölner Innenstadt statt.
Im „Ambulanten Sozialen Dienst“ des Landgerichtsbezirks Köln kümmern sich die Bewährungshelfer gezielt um junge Straftäter. „A.I.B.“ heißt das Modellprojekt, die Buchstaben stehen für „ambulante, intensive Betreuung“. Maurer und Marc B. treffen sich seit Monaten mindestens einmal pro Woche und erörtern, wie es um den jungen Kölner steht. Mittlerweile vertraut er dem Sozialarbeiter. Wohl auch deshalb hat sich Marc B. bereiterklärt, mit einem Journalisten über seine Situation zu sprechen.
Marc B. macht den Hauptschulabschluss nach
Der junge Mann aus dem rechtsrheinischen Köln hat sich verspätet. Aber aus gutem Grund, wie sich schnell herausstellt, denn der Unterricht hat an diesem Tag wegen einer Klassenarbeit länger gedauert als erwartet. Marc B. ist dabei, seinen Hauptschulabschluss nachzumachen. „Ein wichtiger Schritt, damit wir weiterkommen“, sagt Bewährungshelfer Maurer. Er hat Marc B. den Platz an der Kölner Tages- und Abendschule vermittelt – und hält jetzt den Kontakt mit den Lehrern, um im Bild zu sein, falls es Probleme geben sollte.
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Marc B. war von einem Kölner Jugendrichter zu einer Gesamtstrafe von zwei Jahren Haft verurteilt worden. Fast ein halbes Jahr saß er in der JVA Wuppertal-Ronsdorf wegen Fluchtgefahr in Untersuchungshaft. Eine Erfahrung, die ihre Abschreckung nicht verfehlt hat. „Ins Gefängnis gesteckt zu werden, das war ein Schock für mich“, erzählt Marc B. Seine Mutter habe am Telefon geweint, als er sie anrief. „Es fühlte sich schlimm an, dass sie so enttäuscht von mir war. Ich hab immer versucht, dass sie von den Sachen nichts mitbekommen hat.“
Die „Sachen“, die sind alle gründlich schiefgelaufen. Beim ersten Wohnungseinbruch war die Beute minimal, beim zweiten kamen die Bewohner überraschend nach Hause und störten Marc B. und seinen Komplizen. Das schwerste Delikt war ein bewaffneter Raub auf einen Lebensmittelladen in Köln-Kalk. „Einer von uns hatte eine neue Freundin und wollte ihr imponieren. Aber die hat uns bei der Polizei verpfiffen. Die hat mich dann einkassiert.“
Fast alle hatten die Schule abgebrochen, viel Zeit, wenig Geld
Marc B. war verblüfft über seine Festnahme, er hatte nie ernsthaft darüber nachgedacht, dass seine Taten Konsequenzen haben könnten. Seine Clique bestand aus Jungs, in der ein eigener Kodex galt. Fast alle hatten die Schule abgebrochen, viel Zeit, wenig Geld, aber ein großes Geltungsbedürfnis. Es galt als cool, ein kleiner Gangster zu sein. „Wir wollten zeigen, dass wir nicht nur rumquatschen“, erinnert sich Marc B. Der Plan, den Laden zu überfallen, sei eine spontane Idee gewesen: „Ein Freund hatte Masken und eine Machete im Keller.“
600 Euro erbeuten Marc B. und drei Kumpane bei dem Raub. „Jeder bekam 150 Euro – nicht viel, aber auch nicht nichts“, sagt der junge Mann, der im Jogginganzug zu dem Gespräch gekommen ist. Ein Störgefühl hatte niemand? „Nö. Ist ja keinem was passiert. Wenn wir nicht aufgeflogen wären, hätten wir bestimmt weiter gemacht.“
Die allerletzte Ausfahrt
Und heute? Marc B. hatte das Glück, dass bei seiner Verurteilung eine Vorbewährung eingeräumt wurde. „Dabei wird die Entscheidung, ob eine Strafe verbüßt werden muss oder nicht, zurückgestellt“, erklärt Martin Maurer. Erfüllt der Täter bestimmte Auflagen und hält zum Beispiel Kontaktverbote ein, kann die Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden. „Das ist die allerletzte Ausfahrt, um der Haft um entgehen“, so der Bewährungshelfer.
Marc B. ergriff die Chance und wurde in das Modellprojekt der Kölner Justiz aufgenommen. Dort kümmern sich die Bewährungshelfer schon seit 2006 wie „Case Manager“ um jeden Fall. Sie vermitteln Ausbildungsplätze, Wohnplätze, Qualifizierungen und Therapieangebote. „Wir versuchen, feste Strukturen zu schaffen. Es kommt auch vor, dass ich mit Fußballvereinen spreche, um einem Probanden eine neue Perspektive für die Freizeitgestaltung zu ermöglichen.“
Im Jahr 2022 wurden von den 331 aussetzungsfähigen Jugendstrafen bei Jugendlichen 265 zur Bewährung ausgesetzt. Das NRW-Justizministerium überlässt den Präsidenten der Landgerichtsbezirke die Entscheidung, ob sie das A.I.B.-Projekt übernehmen wollen. Sonja Bongers, rechtspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion im Landtag, steht einem landesweiten Roll-Out des Kölner Modells positiv gegenüber. „Gerade angesichts der steigenden Jugendkriminalität und wachsenden Gewaltbereitschaft kann die Betreuung von Intensivtätern ein geeigneter Baustein zu ihrer Bekämpfung sein“, sagte die Politikerin aus Oberhausen.
Werner Pfeil, Justizexperte der FDP, sieht das ähnlich: „Nur wenn es gelingt, straffällige Jugendliche wieder in ein normales Alltagsleben einzubinden und ihnen Stabilität zu geben, besteht eine Chance, sie in der Zukunft von der Begehung weiterer Straftaten abzuhalten. Eine Ausweitung des Programmes ist daher zu befürworten“, so der Politiker aus Stolberg.
Projekt verbessert den Opferschutz
Rita Lüttmer ist die Leiterin des Ambulanten Sozialen Dienstes der Justiz NRW im Landgerichtsbezirk Köln. „Der Schlüssel zum Erfolg im Projekt A.I.B. ist die Beziehungsarbeit“, sagt die Chefin der Bewährungshilfe. „Die Kunst besteht darin, den Probanden klarzumachen, dass sie einen Nutzen davon haben, wenn sie unsere Unterstützungsangebote annehmen und nicht mehr straffällig werden“, so Lüttmer. Dabei liege die Erfolgsquote bei 70 Prozent. „Jeder Proband, der nicht rückfällig wird, spart Geld ein. Noch viel wichtiger ist, dass wir mit jeder Tat, die verhindert wird, weniger Opfer beziehungsweise Geschädigte haben.“
Den Opferschutz zu verbessern, sei eine starke Motivation bei der Arbeit der Bewährungshelfer. „Je mehr Zeit wir haben, uns mit den Menschen zu beschäftigten, umso gezielter können wir Hilfe leisten. Oft ist es wichtig, die Probanden in Netzwerke zu vermitteln, die für Stabilität sorgen“, erklärt Rita Lüttmer. Jugendliche, die regelmäßig zur Schule gingen und zum Beispiel nachmittags im Vereinssport aktiv seien, hätten eine bessere Perspektive, straffrei zu bleiben als die, die in schädlichen Strukturen verharrten. „Für viele Jugendliche ist es nicht leicht, alte Gewohnheiten abzulegen. Es fällt ihnen manchmal schwer, ihr Verhalten zu ändern, so wie Rauchern, die mit dem Qualmen aufhören möchten.“
Marc B. will seine Chance nutzen. Er ist wieder bei seiner Mutter einzogen, hat eine neue Freundin, die seine Vergangenheit kennt. „Mein Plan ist es, mit dem Schulabschluss eine Lehre als Maler und Lackierer zu machen“, sagt er zuversichtlich. Bewährungshelfer Maurer nickt. Er hat schon Kontakt mit einem Handwerksunternehmen aufgenommen.