Seit etwa einem halben Jahr will die Polizei in Pressemeldungen zu Unfällen nur noch objektive Fakten darstellen.
Dennoch versäumt sie es zu häufig, wichtige Fakten zu nennen, bemängelt der ADFC.
Es folgt ein Streit um die Deutungshoheit.
Köln – Bald ein Jahr ist es her, es war ein Montagabend Ende Februar, als eine 48-jährige Radfahrerin und ein KVB-Bus in der Nähe des Zoos zusammenstießen. Auf der engen Stammheimer Straße hatte der Bus die Radfahrerin links überholt. Als die Frau mutmaßlich einem Gullydeckel ebenfalls nach links auswich, kollidierten beide. Die Frau stürzte und starb wenige Tage später im Krankenhaus an ihren Verletzungen. Bis die Schuldfrage vor Gericht geklärt wurde, verging ein knappes Jahr. „Augenblicksversagen“ auf beiden Seiten, nannte es der Richter und verurteilte den Busfahrer zu einer Geldstrafe.
So viel Zeit hat die Polizei nicht, um Unfallhergänge an die Öffentlichkeit zu geben. Detaillierte Auskünfte macht das oft schwierig. Der polizeilichen Pressemeldung des nächsten Tages war somit nur zu entnehmen, dass sowohl der Busfahrer als auch die Radfahrerin nach links gefahren sind und deshalb zusammenstießen. Dem Kölner ADFC-Vorsitzenden Christoph Schmidt fehlt da ein wichtiges Detail: „Was die Polizei nicht mitgeteilt hat, ist, dass die Straße dort viel zu eng ist, um zu überholen.“ Indem die Polizei sage, dass die Radfahrerin vor dem Bus nach links gelenkt hat, gebe sie der Frau die Schuld an dem Unfall.
Streitfall rote Ampel
Ein anderer Fall, am Morgen des 26. März vergangenen Jahres im Inneren Grüngürtel: Ein Radfahrer überquert an einer Ampel die Bachemer Straße, wird von einem Lkw erfasst und kommt mit Verdacht auf Schädel-Hirn-Trauma ins Krankenhaus. Aus der Polizeimitteilung geht nur hervor, dass „der Radfahrer nach ersten Erkenntnissen die Bachemer Straße auf dem Radweg bei Grünlicht überquerte“. Nicht zu entnehmen ist der Polizeimeldung, dass die Ampel für den Straßenverkehr auf Rot stand. Die Verursacherfrage wird nicht geklärt – und das soll sie auch nicht, erklärt Polizeisprecher Wolfgang Baldes. „Auch wenn es sehr unwahrscheinlich ist: Wir hatten schon mal einen ähnlichen Fall, bei dem eine Ampel defekt war und in beide Richtungen Grün zeigte. Und wenn wir ohne hundertprozentige Gewissheit schreiben, dass die Ampel Rot zeigte, vorverurteilen wir den Lkw-Fahrer, obwohl die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen sind. Und für die Klärung der Schuldfrage ist der Richter zuständig, nicht wir.“
ADFC-Chef Schmidt aber moniert, dass Unfallhergänge in Polizeiberichten regelmäßig zugunsten von Autofahrern dargestellt würden. „Umgekehrt wird zum Beispiel bei Unfällen mit Straßenbahnen oft erwähnt, dass Fußgänger oder Radfahrer die Straße bei Rot überqueren“, sagt Schmidt. Ebenso werde dem Radfahrer häufig eine aktive Rolle zugeschrieben, wenn dieser etwa „unter einen Lkw gerät“. „Üblicherweise ist es so: Der Autofahrer wird abgelenkt, aber der Radfahrer verletzt sich selbst“, kritisiert Schmidt.
Es sind Formulierungen wie diese, die die Darstellung von Unfallhergängen so heikel machen. 2018 sind in Köln 2065 Radfahrer verunglückt, acht starben, 282 wurden schwer verletzt. Hinter jedem Unfall steht ein Moment der Unachtsamkeit auf mindestens einer Seite. Das Handy in der Hand, das zu hohe Tempo, die Fehleinschätzung des Verkehrs. Die Ursachen für Unfälle können vielfältig sein, und meist sind Radfahrer die Schwächeren. Mit der offiziellen Unfallstatistik für 2019 ist in den kommenden Tagen zu rechnen.
Nicht bei jedem Unfall gibt es im Anschluss Streit um die Deutungshoheit zwischen den Beteiligten. Doch wenn es dazu kommt, will die Polizei nicht mehr Partei ergreifen. „Anders als früher schreiben wir nur noch, was wir zum bisherigen Stand der Ermittlungen definitiv wissen. Denn wir müssen uns klar sein, dass wir damit selbst Fakten schaffen “, sagt Baldes: „Was wir gar nicht mehr tun, ist, uns zusammenzureimen, wie etwas passiert sein muss.“Seit etwa einem halben Jahr hat sich die Polizei zum Ziel gemacht, in Pressemeldungen nur noch Fakten darzustellen und keine subjektiven Wahrnehmungen zu schildern, wie ein Unfall wohl abgelaufen sein muss. „Durch die sozialen Medien verbreiten sich die Berichte viel schneller und in größerer Reichweite als früher. Deshalb gilt für uns: keine Spekulationen und keine Vorverurteilungen“, sagt Polizeisprecher Karlo Kreitz. Immer wieder gebe es eine Flut von Kommentaren auf Facebook, deren Verfasser es besser wissen wollen.
292 Fälle von missachteter Vorfahrtsregelung
So ist auch zu erklären, warum in Meldungen oft von einer „sich plötzlich öffnenden Autotür“ die Rede ist, durch die ein Radfahrer zu Fall gebracht wird. Eine „Stilblüte“ nennt Schmidt das: „Ist das eine sich autonom öffnende Autotür, während der Fahrer schon beim Einkaufen ist?“ Einen technischen Defekt an der Autotür, der dazu führt, dass diese selbst aufgeht, habe es tatsächlich schon gegeben und sei oft nicht mit absoluter Sicherheit auszuschließen, sagt Kreitz. „Wir stellen die Dinge so dar, wie wir sie in einer Kamera sehen würden.“ Vielen Unfällen, glaubt Schmidt, könnte aber allein dadurch vorgebeugt werden, dass die Polizei immer darauf hinweist, dass man als Fahrer oder Mitfahrer im Auto erst auf den Radweg schauen muss, bevor man eine Tür öffnet.
Unachtsamkeit beim Ein- und Aussteigen war 2018 bei 164 Unfällen die Ursache, wie aus der Polizeistatistik hervorgeht. Noch häufiger, nämlich in 292 Fällen, wurde den Radlern beim Abbiegen die Vorfahrt genommen. So wie am Nachmittag des 18. September 2019 am Friedhof Melaten: Eine 26-Jährige fährt über den Radweg der Aachener Straße, als ein Citroën nach rechts abbiegt und die Frau erfasst. Sie „erleidet schwere Verletzungen“, wie die Polizei tags darauf mitteilen wird. Dass der Autofahrer beim Abbiegen offenbar nicht aufgepasst hat, wird nicht in der Pressemeldung stehen. Schmidt hält das für ein Versäumnis: „Die Kausalität ist nicht richtig dargestellt. Der Autofahrer hat der Radfahrerin beim Abbiegen die Vorfahrt genommen, sie angefahren und sie dabei verletzt. Sie hat die Verletzungen nicht »erlitten«, sondern sie wurden ihr zugefügt.“
Gefahr der Beeinflussung
Formulierungen, nach denen ein Beteiligter einem anderen Verletzungen aktiv zugefügt hat, finden sich in Unfallmeldungen nicht – auch weil sie im Zweifel spätere Gerichtsverhandlungen beeinflussen könnten, erklärt Baldes. Daher werden oft nur Aussagen der Beteiligten wiedergegeben. Und wenn ein Radfahrer im Krankenhaus liegt, bleibt in der ersten Mitteilung häufig nur die Aussage des Autofahrers, der nicht selten zu Protokoll gibt, den Radler nicht gesehen zu haben. Was Schmidt besonders ärgert ist, dass die Polizei die aktive Rolle oft dem Fahrzeug zuschreibt und nicht dem Menschen hinter dem Steuer. Wie etwa am 24. April 2019, als „der Toyota einer Kölnerin in der Innenstadt eine 28-jährige Radfahrerin erfasste“, wie es in der Polizeimeldung heißt. „Man kann nur hoffen, dass der Toyota nicht auf eigene Faust gefahren ist“, sagt Schmidt. „Hier bringt der Versuch, die Fahrerin nicht als Unfallverursacherin darzustellen, absurde Stilblüten hervor.“
Reaktionen wie diese zeigen, wie wichtig Sensibilität in Zeiten rauer werdenden Klimas auf der Straße geworden ist. Für Menschen wie die Radfahrerin, die vor knapp einem Jahr in Riehl gestorben ist, kommt der Kampf und die Deutungshoheit zu spät.