Köln – Am 31. Dezember 2015 kam es vor dem Hauptbahnhof zu zahlreichen sexuellen Übergriffen durch Männer mit nordafrikanischer und arabischer Herkunft. Wie hat die Kölner Silvesternacht die Stadt und das Land verändert?
Die Opfer und die Täter
Die Auszubildende weint, als sie im Verhandlungssaal 10 des Kölner Justizgebäudes über jene Nacht spricht. Der Angreifer habe sie in den Schwitzkasten genommen, auf den Mund geküsst. Als sie sich wehrte, habe er über ihr Gesicht geleckt. „Die Zeugin, die Ekel empfand, versuchte, sich aus der Situation zu befreien“, heißt es später in der Urteilsschrift. „Dies gelang ihr jedoch nicht, da der Angeklagte sie weiterhin festhielt.“
Der Angeklagte ist der damals 21-jährige Iraker Hussein A. Sohn eines Tischlers, 2014 über die Balkanroute nach Deutschland gekommen.
Am 31. Dezember 2015 war er gemeinsam mit seinem Kumpel, dem Algerier Hassan T., nach Köln gefahren. A. hatte in einer Fördermaßnahme ein bisschen Deutsch gelernt, seine Sprachkenntnisse reichten, um an diesem Abend die Auszubildende, das spätere Opfer, zu bitten, gemeinsame Fotos vor dem Westportal des Doms zu machen. Ein Vorgang, der den beiden Männern zum Verhängnis wurde. Anhand der Handybilder nämlich konnten Hussein A. und Hassan T. eindeutig identifiziert werden. „Wie Tiere“ seien die Männer auf ihr Opfer losgegangen, schilderten Zeugen den Sachverhalt laut Prozessunterlagen später. T. hatte zudem einer Freundin der Frau aus Siegen brutal in den Schritt gefasst.
„Ich hab nix gemacht“
A. und T. sind die einzigen der 355 Beschuldigten aus der Kölner Silvesternacht 2015, die am Ende wegen sexueller Nötigung verurteilt wurden. Das Gericht beließ es bei Bewährungsstrafen von einem Jahr. Als Hussein A. damals das Justizgebäude verlässt, ist er guter Dinge. „Ich hab nix gemacht“, ruft er lachend den Journalisten zu.
Die massenhaften sexuellen Übergriffe auf Frauen stellten die Ermittler nach der Silvesternacht vor eine Herkulesaufgabe. Mehr als 1210 Anzeigen mussten sie nachgehen, 1200 Stunden Videomaterial auswerten. DNA-Spuren und Fingerabdrücke fehlten. Die Fangquote sei eine „Katastrophe“, heißt es aus Düsseldorfer Regierungskreisen. „Man muss die Taten auch beweisen können, und das war oft leider nicht möglich“, sagt NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU). „Die Beweislage war von Anfang an sehr schlecht. Das in großen Mengen ausgewertete, grobkörnige Videomaterial der am Bahnhof aufgestellten Kameras war schlicht unbrauchbar, um Verdächtige gezielt identifizieren zu können“, berichtet Ulrich Bremer, Sprecher der Staatsanwaltschaft in Köln.
Auch von Scotland Yard entsandte Beamte, sogenannte „Super-Recognizer“, brachten keinen Durchbruch. „Die brauchbarsten Hinweise stammten noch von Handyaufnahmen einiger Zeugen“, so Bremer.Die Opfer seien aufgrund des Tumultgeschehens fast durchgängig nicht in der Lage gewesen, Täter auf Lichtbildern identifizieren zu können. Viele Verdächtige hätten von ihrem Schweigerecht Gebrauch gemacht. „All dies verbunden mit den nicht ausreichenden Personalienfeststellungen durch die Polizei hat die Sachverhaltsaufklärung ungemein erschwert“, erläutert Bremer.
Die Spur der Täter von damals hat sich mittlerweile verloren. Männer, die erneut straffällig wurden, seien zum Teil abgeschoben worden, hört man aus Justizkreisen. Viele Frauen, die damals öffentlich sprachen, wollen sich nicht noch einmal äußern. „Bringt ja eh nichts mehr“, antwortet ein Opfer per SMS auf eine Anfrage.
Monika Kleine, Geschäftsführern des Sozialdienst Katholischer Frauen in Köln, sieht in der Kölner Silvesternacht auch den Startpunkt für einen Paradigmenwechsel. Vorneweg sei dabei die Verschärfung des Sexualstrafrechtes zu nennen, beschlossen im Sommer 2016. „Inzwischen lassen die Kriminalstatistiken vermuten, dass immer mehr Opfer von Übergriffen und Grenzüberschreitungen die Taten zur Anzeige bringen.“
Gerhard Voogt
Die Polizei
Hunderte junge Männer, fliegende Feuerwerksraketen und davor, in der Dunkelheit des Bahnhofsvorplatzes, eine Handvoll Polizisten. Sie „überfordert“ zu nennen wäre kein Ausdruck. Die Bilder dieses staatlichen Kontrollverlusts blieben im Gedächtnis der Stadt. Aber die Silvesternacht war nur eine Etappe des Polizeiversagens dieser Tage, das auch einen Polizeipräsidenten in den einstweiligen Ruhestand und die Einsatzleiter vor den Untersuchungsausschuss des Landtags brachte. Die Silvesternacht wurde zur Zäsur für Kölns Polizei.
Mitte Dezember 2020 sitzen Kriminaldirektor Klaus Zimmermann und Pressesprecher Wolfgang Baldes in der fünften Etage des Präsidiums in Kalk. Ob er den Kölnern sagen wolle, dass so etwas nicht noch einmal passieren werde, wird Zimmermann, Chef des Leitungsstabs, gefragt. Nein, das will er nicht. „Die Silvesternacht 2015 wird sich in Köln aus Planungssicht der Polizei so nicht wiederholen, aber wir können nicht vorhersehen, wohin sich die Gesellschaft entwickelt“, sagt Zimmermann. Er redet viel von sozialen Veränderungen im Volk, mit denen es die Polizei zu tun hat. Frühzeitiger einzugreifen, bevor „irgendetwas aus den Fugen gerät“ sei eine der Lehren aus 2015 gewesen. „Dass wir Fehler gemacht haben, steht fest – dass wir daraus gelernt haben, haben wir in den vergangenen fünf Jahren bewiesen“, sagt Zimmermann.
Damals kam schon ein paar Monate später die erste Prüfung, an Karneval, in der nächsten Silvesternacht bahnten sich ähnliche Szenen wie 2015 an, doch die Polizei griff diesmal früh ein, kontrollierte hunderte junge Männer, meist arabischer Herkunft, vor dem Bahnhof und schon in den Zügen, was ihr Tags darauf den Vorwurf des „Racial Profiling“ einbrachte. Man habe den Einsatz mit Gewaltforschern, Streetworkern und Islamwissenschaftlern analysiert, sagt Zimmermann. „Wir haben uns damit auseinandergesetzt, wie Menschen, die aus Ländern mit einer anderen Polizeikultur kommen, eine rechtsstaatliche Polizei wahrnehmen, die erst einmal ermahnt oder nicht sofort einschreitet. Wenn Polizei dann als schwach erlebt wird, kann das Folgen für das Verhalten haben“, sagt Zimmermann.
Selbstgebastelte Rohrbombe
Starke Präsenz – in dieser Nacht waren etwa 1500 Beamte im Einsatz –, entschiedeneres Eingreifen. All das fehlte 2015, bestimmt aber seither die Polizeiarbeit. Im Alltag habe sich das schnell bewährt, sagt Baldes. „Zum Beispiel in einem Fall, als einer mit einem T-Shirt mit der Aufschrift »Fck Cps« über den Alter Markt lief. Den haben wir kontrolliert und eine selbstgebastelte Rohrbombe in seinem Rucksack gefunden.“Eine unmittelbare Folge von Silvester 2015 waren auch die Videokameras, die nun Bahnhofsvorplatz und weitere Brennpunkte in der Stadt beobachten. Die Kommunikation während Großeinsätzen ist enger geworden.
2015 waren die Einsatzleiter von Bundespolizei und Ordnungsamt kaum erreichbar oder schon im Feierabend, als die Situation eskalierte. „Bei größeren Einsätzen sind wir inzwischen im Leitungsgremium bei der Stadt vertreten und in unserem Führungsstab sind Verbindungsbeamte der Bundespolizei, wenn der Bahnhof betroffen ist. Auch vor Ort sind die Entscheidungsträger viel enger im Kontakt“, sagt Zimmermann.
Ihre Lehren gezogen hat die Polizei auch aus der Wirkung, die die Pressemitteilung vom Neujahrsmorgen 2016 entfachte, in der die Situation fast schon in obszöner Weise verharmlost wurde, weil der Stelle schlichtweg die Informationen fehlten. Pressesprecher Baldes spricht von einer großen Veränderung der Öffentlichkeitsarbeit im Nachgang. „Wir verzichten auf wertende Adjektive. Was ist denn eine »friedliche« Silvesternacht, oder ein »gelungener« Polizeieinsatz?“, fragt er. „In solchen Dingen sind wir hypersensibel geworden. Jedes Wort steht auf dem Prüfstand, damit die Meldungen nicht mehr angreifbar sind.“
Alexander Holecek
Die Medien
Sollen Medien bei Straftaten die Herkunft der Täter oder Tatverdächtigen nennen oder nicht? Diese Frage wurde im Anschluss an die Ereignisse in der Silvesternacht in Köln kontrovers diskutiert.
Die einen warfen der Presse Zensur vor, weil sie die Herkunft der Täter nicht oder erst spät genannt hätten. Andere befürchteten die Diskriminierung einer ganzen Gruppe durch die Taten einzelner, sollten die Medien ihr Vorgehen in der Folge ändern und künftig immer die Herkunft nennen.Im Pressekodex, einer Sammlung journalistisch-ethischer Grundregeln, den der Deutsche Presserat erstellt hat, hieß es zum damaligen Zeitpunkt unter Richtlinie 12.1.: „In der Berichterstattung über Straftaten wird die Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten nur dann erwähnt, wenn für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein begründbarer Sachbezug besteht. Besonders ist zu beachten, dass die Erwähnung Vorurteile gegenüber Minderheiten schüren könnte.“
„Vorwurf des Verschweigens und der Zensur“
Doch besonders die Formulierung „begründbarer Sachbezug“ geriet in die Kritik. Zu schwammig war sie vielen. Es wurde über eine Änderung diskutiert. Doch der Presserat sah das zunächst anders. Im März 2016 votierte er mit einer deutlichen Mehrheit gegen eine Änderung oder Streichung des Abschnitts 12.1.
Den „Vorwurf des Verschweigens und der Zensur“ wies die Organisation ausdrücklich zurück. Der Presserat sei nicht der Vormund von Journalisten und Medien, er gebe nur Orientierungen: „Es gibt kein Verbot, die Herkunft von Straftätern und Tatverdächtigen zu nennen.“ Doch der öffentliche Druck blieb hoch. Auch im Fall einer Studentin, die im Oktober 2016 in Freiburg von einem Geflüchteten aus Afghanistan vergewaltigt und ermordet wurde, wurde die Berichterstattung der Medien teilweise harsch kritisiert.Im März 2017 entschied der Presserat, den Passus im Pressekodex zu überarbeiten. In der neuen Fassung lautet die entscheidende Änderung: „In der Berichterstattung über Straftaten ist darauf zu achten, dass die Erwähnung der Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu ethnischen, religiösen oder anderen Minderheiten nicht zu einer diskriminierenden Verallgemeinerung individuellen Fehlverhaltens führt. Die Zugehörigkeit soll in der Regel nicht erwähnt werden, es sei denn, es besteht ein begründetes öffentliches Interesse.“
Ob ein begründetes öffentliches Interesse besteht, muss jede Redaktion weiterhin abwägen und im Einzelfall entscheiden.
Anne Burgmer
Die Stadt Köln
So etwas kann nur in Köln passieren – das war nach den Ereignissen der Silvesternacht 2015/16 nicht selten zu hören. Kein Wunder, hatte sich Köln doch seinen Ruf als Party- und Eventstadt durch konsequenten Ausbau seiner populären Großereignisse maximal verdient. Karneval, Christopher Street Day, Kölner Lichter, selbst der Köln-Marathon, der Sessionsauftakt am 11.11. – gefeiert wurde eigentlich immer. Und immer größer. Manches Stadtoberhaupt sah die Eventisierung Kölns durchaus mit Sorge, schon weil die Menschenmassen natürlich ihre Spuren hinterließen und das leicht schmuddelige Bild der Stadt noch verstärkten. Doch die konsequente Durch-Kommerzialisierung und Vergrößerung all dieser Events konnten auch sie nicht stoppen. Zumal der oder die OB ja auch immer prominenter Akteur war bei jeder der genannten Großveranstaltungen.
Und die Mega-Events waren ja nur ein Teil des Problems. Unzählige Junggesellenabschiede, Mannschaftstouren und ähnlich gelagerte Veranstaltungen fluteten unentwegt die Altstadt und die anderen Partyzonen Kölns – die inzwischen untersagten „Biermobile“ waren ein unschönes Symbol für diesen Trend. „Hier kann man so richtig die Sau rauslassen“ – das war für nicht wenige das ausschlaggebende Kriterium, die jeweilige Feier in Köln auszurichten und nicht anderswo.Nun gab es in jener Silvesternacht Übergriffe nicht nur in Köln, sondern – allerdings in deutlich kleinerem Maßstab – auch in Bielefeld, Stuttgart oder Hamburg.
Größter Imageschaden
Das mit Abstand größte Event war jedoch in Köln, der größte Imageschaden auch. Dass sich der weltweit schlechte Ruf Kölns inzwischen wieder deutlich verbessert hat, liegt auch am deutlich verstärkten Engagement aller Akteure ab 2016: Stadt und Polizei konzentrierten sich mit personell und finanziell großem Einsatz darauf, die folgenden Silvesternächte neu zu strukturierten, in der Innenstadt Konzerte und aufwendige Lichtprojektionen zu veranstalten, gleichzeitig aber auch die Besucher streng zu kontrollieren und überwachen.
Auch der Karneval überprüfte seine Konzepte – zum einen mit Blick auf die Sicherheit der Besucher und Feiernden, aber auch mit der Zielrichtung, alternative Angebote für die Feiernden im Straßenkarneval jenseits der großen Bühnen und Events zu finden. Doch die Gefahr, dass Großstädte – nicht nur Köln – spontan in schlechtes Licht geraten, ist nicht gebannt, die Ausschreitungen und Plünderungen im Stuttgarter Schlossgarten im Sommer dieses Jahres zeigen es.