Henriette Reker, geboren am 9. Dezember 1956 in Köln, wuchs in Bickendorf auf.
Als „die mit dem Attentat“ will sie nicht in Erinnerung bleiben. Obwohl sie das Label wohl zu einer der bekanntesten Rathauschefinnen der Welt gemacht hätte. Aber Reker lehnt nach dem Attentat fast alle internationalen Medienanfragen ab.
Es gibt Menschen, die halten sie für die Angela Merkel von Köln: Spröde, sachorientiert, mit grünen Ideen, von Männern unterschätzt. Wir haben sie begleitet.
Dieser Text aus dem Archiv ist im September 2019 im Kölner Stadt-Anzeiger erschienen.
Köln – Henriette Reker glaubt bis heute, dass sie das Attentat am Tag vor der Oberbürgermeister-Wahl überlebte, weil sie sofort das Richtige tat.
Sich in die stabile Seitenlage brachte, den Finger in die Wunde drückte, irgendwie wach blieb. „Ich behalte in schwierigen Situationen einen kühlen Kopf“, sagt sie am Dienstagabend, nach einer Rede zu einer Gender-Gala im Rathaus. „Ich habe mich durch die Kompression der Blutung selbst aus der Position des Opfers befreit. Der Täter hatte keine Macht über mich.“
Symbol, das die Menschen bis heute mit Henriette Reker verbindet
Als sie die Wahl zwei Tage nach dem Aufwachen vom Krankenbett aus annimmt, entsteht ein Symbol, das die Menschen bis heute mit Reker verbinden. Hier lässt sich jemand nicht beugen. Auch nicht von einem rechtsradikalen Gewalttäter, der sie ermorden will, weil sie sich um Flüchtlinge kümmert. Auf ihrer Antrittspressekonferenz im Museum Ludwig brandet Applaus auf, als sie ankündigt, weiter und jetzt erst Recht für eine freie und tolerante Gesellschaft einzutreten. Sie werde Köln „im Ranking der Städte dahin führen, wo es hingehört“.
Die Antrittsrede im Museum halten viele für ihre beste. Hier präsentiert sich entschlossen, souverän und sympathisch eine starke Frau, die ein Messerattentat eines Rechtsextremisten überlebt hat.
An dem Tag nehmen ihr selbst Kritiker alles ab: Sie verspricht einen neuen Politikstil, „große Herausforderungen“ anzunehmen und parteipolitisch unabhängig zu sein. Sie legt an diesem Abend die Messlatte auf eine Höhe, an der sie in den nächsten Jahren nicht selten scheitern wird.
„Die mit dem Attentat“
Ihren Willen hat der Mordanschlag gestärkt. Als „die mit dem Attentat“ will sie nicht in Erinnerung bleiben. Obwohl sie das Label wohl zu einer der bekanntesten Rathauschefinnen der Welt gemacht hätte. Aber Reker lehnt fast alle internationalen Medienanfragen ab. Gegen den Rat einiger Vertrauter.
Und dennoch: Wenn sie nach dem Mordanschlag auf den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübke vor einer „Verrohung der Gesellschaft“ warnt oder auf eine Morddrohung gegen sich im Sommer so reagiert, als wolle sie eine Fliege abschütteln („Ach, Morddrohungen erhalte ich öfter. Ein Mörder kündigt seine Tat nicht vorher an“), sind die Schlagzeilen größer, als wenn sie die Verwaltungsreform vorstellt, den städtischen Haushalt rechtzeitig einreicht oder die Fusion der städtischen Kliniken mit der Uni-Klinik vorantreibt.
Am Dienstagnachmittag legt sie mit dem polnischen Generalkonsul einen Kranz nieder, um an den Überfall von Hitler-Deutschland auf Polen vor 80 Jahren zu erinnern. Zur Begrüßung des Reporters sagt sie, dass ihre Großeltern nach ihrer Flucht aus Schlesien direkt am Westfriedhof lebten und ihr Großvater hier begraben wurde. „Aus den Erzählungen der Großeltern wusste ich, was es heißt, nicht willkommen zu sein.“
Integration und Inklusion waren schon als Sozialdezernentin in Gelsenkirchen und später in Köln ihre Herzensangelegenheiten. Als Oberbürgermeisterin macht sie sie zu Chefinnensachen – „das mache ich nur bei Themen, bei denen es um meine Haltung geht – und bei denen ich mich auskenne“, sagt sie auf der Rückfahrt vom Friedhof im Dienstwagen. „Beim Wohnungsbau und dem Ausbau des Verkehrswegenetz vertraue ich auf unsere Dezernenten und Fachleute, denen die Stadt genauso am Herzen liegt wie mir. Von Integration und Gerechtigkeitsfragen gegenüber allen Menschen verstehe ich mehr als andere.“
Am Dienstag pendelt sie zwischen Terminen, internen Gesprächen, Telefonaten im Auto. Halsbonbons liegen griffbereit in einer Plastikschale einer Armatur auf dem Rücksitz, Reker macht bis heute Stimmtraining, manchmal klingt sie infolge des Messerstichs noch etwas rau. Eben die Rede zur Schuld der Deutschen und Kölner im Zweiten Weltkrieg, jetzt Fragen zum Attentat, Stärken, Schwächen und Fehlern, gleich ein Vortrag zum „Mythos Gleichberechtigung“. Reker ist es gewöhnt, sich binnen kürzester Zeit auf immer neue Themen zu fokussieren. Sie hört zu, ist freundlich, verbindlich, unverstellt und – meistens – instinktsicher.
„Haben Sie Ideen?“
Wenn Kritiker ihr vorhalten, dass es nicht schnell genug voran geht, mit Schulbauten oder dem Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs, greift Reker zu einem Trick: „Wie sollte ich es Ihrer Meinung nach besser machen? Haben Sie Ideen?“, sagt sie dann. Manchmal überrumpelt sie den Gesprächspartner damit. Manchmal, wie vor einer Woche beim Bürgertreff zum Ebertplatz im Gasthaus „Em Kölsche Boor“, als Anwohner kritisieren, die Stadt habe nicht genug getan, um die Situation auf dem Ebertplatz zu entschärfen, gerät ihr Ton etwas zu scharf: „Dann sagen Sie mir doch, was wir machen sollen. Machen Sie doch mal einen konkreten Vorschlag.“
Der Bürger als Berater des Unternehmens Stadtverwaltung – mit dieser Idee sammelte der erste hauptamtliche Kölner Oberbürgermeister Harry Blum Sympathiepunkte. Auch Reker steht für eine stärkere Einbindung der Bürger.Reker meint es ernst, wenn sie vom Vorrang von Ideen vor Hierarchien und mehr Bürgerbeteiligung spricht. Im direkten Kontakt mit den Bürgern beschreitet die selbst ernannte Kämpferin gegen den Klüngel jedoch manchmal einen ziemlich schmalen Grat: Wenn sie sich zum Anwalt der Bürger macht, geht der Adressat der Kritik leicht verloren.
Parteilose Oberbürgermeisterin: nicht immer ein Vorteil
„Köln ist so vielfältig und tolerant. Leider bleibt die Stadt noch viel zu oft hinter ihren Möglichkeiten zurück“, sagt sie bei der Begrüßung der städtischen Azubis am Montag im Staatenhaus. Eine Repräsentantin des Kölner Politikbetriebs, die so tut, als hätte sie gar nichts mit ihm zu tun. Die einstimmt in die Parteienkritik, das Misstrauen gegenüber dem politischen System befeuert – für das sie eigentlich werben will.
Konfrontiert mit der Kritik, als Parteilose womöglich zwar nah am Bürger, aber eher unbestimmt in ihren Positionen zu sein und gelegentlich umzuschwenken, wie jüngst bei ihrer 180-Grad-Wende beim Ausbau des Geißbockheims, muss sich Reker auf der Rückbank ihres Dienstwagens sammeln, um nicht die Contenance zu verlieren.
„Das sehe ich ganz anders. Ich habe immer meine eigene Meinung, bestehe aber nicht aus der Meinung der Mehrheit meiner Unterstützer. Zum Beispiel beim Thema Klimanotstand. Ich habe vor vielen Jahren gesagt, dass ich die Wünsche vom FC zum Ausbau gern unterstütze – aber wir haben den Klimanotstand ausgerufen, registrieren ein deutlich geschärfteres Klimabewusstsein und sehen tagtäglich neue Bilder zu den Folgen des Klimawandels.“
Wenn sie Gegenwind erhält, sei es beim Thema Ebertplatz, beim Geißbockheim oder in der Berichterstattung zur Ost-West-Achse, reagiert sie mitunter gereizt. Bei Aufregern wie der „Armlänge Abstand“, zu der sie Frauen nach der Silvesternacht riet (und damit ungeschickt aus einer Verwaltungsbroschüre zitierte), bleibt sie stoisch. „Das war ja nur ein Shitstorm, das war nicht so schlimm, etwas Schlimmes hatten nur die Frauen.“
Henriette Reker ähnelt Angela Merkel
Im April 2016 sagt Reker vor dem Düsseldorfer Landgericht als Zeugin gegen Frank S. aus, der mit einer 30-Zentimeter langen Klinge ihre Luftröhre durchtrennte und einen Brustwirbel spaltete. Sie sagt, die Konfrontation mit dem Täter mache ihr nichts aus. Der Mann, der sie umbringen wollte, sitzt im Gerichtssaal schräg hinter ihr – sie hat ihn nicht im Blick.
Bei einem Treffen mit dem Generalstaatsanwalt macht sie ihn auf die Sitzordnung aufmerksam. Dass der Täter hinten sitzt, das Opfer ihn nicht im Auge behalten könne, sei ungünstig. Sie selbst sei damit klar gekommen. „Aber so ergeht es ja bei dieser Sitzordnung jedem Opfer – dass der Täter hinter ihm sitzt. Und es gibt sicher Menschen, die damit nicht gut zurecht kommen.“
In mancher Hinsicht ähnelt Henriette Reker Bundeskanzlerin Angela Merkel. Wie Merkel steht Reker für einen pragmatischen, sachorientierten Politikertypus, mit konservativem Habitus und Nähe zu grünen Ideen. Wie Merkel greift Reker durch, wenn es darum geht, Karrieren zu beenden – so bei der Stadtwerke-Affäre, über die Martin Börschel (SPD) und Jörg Frank (Grüne) stolperten.
Von älteren Männern spöttisch unterschätzt
Zu Beginn ihrer Amtszeit wirkte Reker wie Merkel spröde, Jurastudium und Verwaltungslaufbahn hatten ihre Spuren hinterlassen. Lange wurde sie vor allem von älteren Männern spöttisch unterschätzt. Dann ist da Entschlossenheit, Widerstandsfähigkeit, Durchsetzungskraft, die die beiden eint. Härte. Und der Konsens in der Flüchtlingsfrage: „Ich glaube, dass Angela Merkel mit ihrer Flüchtlingspolitik den großen humanitären Auftakt im 21. Jahrhundert gemacht hat, indem sie die Grenzen offen gehalten hat und damit eine humanitäre Katastrophe verhindert hat“, sagt Reker. Als Kanzlerin komme es noch mehr denn als Oberbürgermeisterin darauf an, Kompromisse zu verhandeln. „Damit hat sie viel erreicht.“
Mit Bürgern und in Ausschüssen spricht Henriette Reker relativ offen. Manchmal schweigt sie aber auch, wenn sie besser reden sollte. Nach der Silvesternacht sagte sie lange nichts. Die Kölner Botschaft, bei der von Navid Kermani über Kardinal Woelki bis zu Alexander Kluge und Wolfgang Niedecken viele Persönlichkeiten dazu aufriefen, der gesellschaftlichen Polarisierung entgegenzuwirken, unterschrieb sie nicht. Sie sei nicht gefragt worden, sagt sie. Erst spät und eher zögerlich gibt sie Fehler zu – vor allem aber kritisiert sie das Land und die Polizei.
Fragt man ihr Umfeld, sind die Attribute für sie zahlreich. „Effizient“, „Workaholic“, „distanziert“, „kollegial“, „etwas naiv“, „unberechenbar“, „unbeirrbar“, „freigeistig“, „uneitel“, „bürgernah“, „die kenne ich nur aus der Zeitung, obwohl sie meine Chefin ist“, „, kann Kölsch“ oder „sehr fordernd“ sind nur einige Assoziationen von Mitarbeitern der Verwaltung und Politikern.
Dass sie viel fordert und manche überfordert, zeigt sich in einem Interview im Sommer 2016, in dem sie sagt, dass sie großen Veränderungsbedarf sehe – und, dass einige Mitarbeiter wohl nur noch zur Arbeit kämen, „um sich Schmerzensgeld abzuholen“. Intern wie öffentlich wird sie dafür heftig kritisiert. Sie hat die OB-Etikette verlassen.
Henriette Reker, Juristin aus einem bürgerlichen Bickendorfer SPD-Haushalt, verheiratet mit dem Golfspieler Perry Somers, ist die einzige parteilose Oberbürgermeisterin einer kreisfreien Stadt in NRW. Sie hat sich bei der vergangenen Wahl mit großem Vorsprung gegen den einstigen SPD-Hoffnungsträger Jochen Ott durchgesetzt. Vier Jahre später hat sie keinen ernsthaften Konkurrenten. Die Grünen – bei den Europawahlen stärkste Partei in Köln – und die CDU glauben nicht, dass ein eigener Kandidat Chancen hätte. Als fürchteten sie, dass die politikverdrossenen Wähler ohnehin auf eine Frau vertrauen, die gern betont, dass sie sich nicht vorstellen könne, je in eine Partei einzutreten.
Rudi Assauer war verwundert, einer Frau gegenüberzusitzen
Reker hat als Sozialdezernentin in Gelsenkirchen mit dem inzwischen verstorbenen Schalke-Manager Rudi Assauer am Tisch gesessen und für die Stadt den Bau der Schalke-Arena verhandelt. „Als ich mit dem damaligen FC-Präsidenten über den möglichen Neubau in Köln sprach, war er verwundert, dass ihm da eine Frau gegenüber saß“, sagt Reker am Rande der Gender-Gala. „Die Fußballwelt ist eine Männerwelt, die Autowelt ist eine Männerwelt, die Bankenwelt ist eine Männerwelt. Bis heute. Aber die Schalke-Arena, deren Bau ich für die Stadt Gelsenkirchen mitverantwortet habe, war auch keine Bezirkssportanlage.“
Als Wirtschaftsminister Andreas Pinkwart seine Rede hält, guckt die Moderatorin irgendwann dezent auf die Uhr. Pinkwart redet seelenruhig weiter. „Das ist einfach so ein Habitus bei Männern“, sagt Reker.
Nach vier Jahren im Amt ist Reker selbstbewusster geworden. Viele ihrer Reden hält sie frei. Auf der Bühne geht sie auf Einwürfe aus dem Publikum ein. Souverän, aber nicht extrovertiert. „Seit dem Attentat kann ich deutlicher zwischen wichtig und unwichtig unterscheiden und bin in mancher Hinsicht gelassener geworden“, sagt sie.
Am Tatort Grundstein für ein neues Bauprojekt gelegt
Den Mantel, den sie am 17. Oktober 2015 auf dem Braunsfelder Wochenmarkt zum ersten Mal trug, hat sie reinigen lassen, als dieser nicht mehr als Beweismittel in der Asservatenkammer lagern musste: „Es ist mein Glücksmantel geworden.“
Am 16. Mai 2019 kommt Reker als Oberbürgermeisterin an den Tatort zurück, um den Grundstein für ein Bauprojekt zu legen. Sie habe überlegen müssen, ob sie an dem Termin teilnehmen soll, ist aus ihrem Umfeld zu hören. Die Zusage sei ihr schwer gefallen. Es ist nicht die Erinnerung an das Attentat, das sie belastet. Es ist die Gesellschaft vor Ort.
An dem spektakulären Projekt – es sollen Wohnungen über einer Zugtrasse gebaut werden – ist die Firma WvM-Immobilien beteiligt. Kurz zuvor ist bekannt geworden, dass Firmenchef Wolfgang von Moers großzügig für die rechtspopulistische AfD gespendet hat. Der Mann steht neben Reker, als die plötzlich das Thema wechselt. Sie wirbt für die Europawahl und warnt davor, Europa den „Ewig-Gestrigen“ zu überlassen. Den Investor würdigt sie dabei keines Blickes.
Mitarbeit Tim Attenberger und Helmut Frangenberg
Der Artikel erschien zuerst im September 2019 im Kölner Stadt-Anzeiger.