Werner Wittpoth spielt seit 40 Jahren mit seinem Leierkasten auf der Schildergasse. Was er an Pauke und Saxophon nicht mag.
Seit 40 Jahren auf der SchildergasseWas der Kölner Leierkastenmann von einem Musiker-Casting hält
Herr Wittpoth, Sie spielen seit 40 Jahren als der „Fröhliche Leierkastenmann“ auf der Schildergasse und haben sich sicher schon so manches Mal Kollegen anhören müssen, über die Sie sich geärgert haben. Was halten Sie von den Überlegungen der Stadt, eine Art Aufnahmetest für Straßenmusiker einzuführen?
Werner Wittpoth: Heute war auf der Schildergasse wieder dieser Musiker mit der sehr lauten Trommel. Das hört sich für mich nicht musikalisch an, den hört man mehr als die Höchstgrenze von 300 Meter weit und er wechselt auch nicht den Standort wie vorgeschrieben. Also, ich kann es verstehen, dass das manchmal nervt. Mich auch. Aber Köln ist eine tolerante Stadt. Im Grundgesetz wird die Freiheit der Kunst garantiert. Und für die haben wir ja damals auch mit Klaus dem Geiger gekämpft, den man aus politischen Gründen von der Schildergasse weghaben wollte. Ich denke, man kann Musik nicht klassifizieren, das ist ja oft Geschmackssache. Und welche Qualifikation müsste derjenige haben, der entscheidet: Der kann spielen, der kann nicht spielen. Ein Kirchenorganist kann zum Beispiel Schlager nicht beurteilen.
In München hat die zuständige Frau zum Beispiel eine Studentin abgelehnt, die nur einen Akkord auf der Gitarre spielen konnte. Ist das nicht eindeutig?
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Na ja, wenn sie dazu jodelt, könnte man das ja vielleicht als Kunst bezeichnen (lacht). Und ich glaube auch, eine solche Klassifizierung wäre juristisch nicht durchsetzbar. Es wäre gut, wenn die Regeln, die es schon gibt, durchgesetzt würden. Es gibt in der Kölner Innenstadt die klare 300-Meter-Schall-Grenze und man muss alle 30 Minuten den Standort wechseln. Das überprüft aber niemand. Und wenn doch mal einer weggeschickt wird, ist er nach fünf Minuten wieder da. Oder es werden Verstärker benutzt, was auch verboten ist. Aber es kommt ganz selten einer von der Stadt. Die müssten ja auch sehr lange bleiben und protokollieren, dass etwa der Standort nicht regelmäßig gewechselt wird. Außerdem gibt es natürlich auch Profi-Musiker, die sich nicht an die Regeln halten. Was uns fehlt, sind die Bezirksbeamten, die es früher gab. Ich kannte hier jeden Polizisten. Auch die Zivilbeamten, die früher nach Taschendieben suchten.
Aber Sie sind doch manchmal sicher auch genervt?
Es gibt Instrumente wie die große Pauke, die einfach zu laut sind. Oder ein Saxophon ohne Begleitung – da gibt es kaum jemanden, der das so spielt, dass man das ertragen kann. Da könnte man darüber nachdenken, ob diese Instrumente verboten werden.
Wie ist bei Ihnen die rechtliche Situation?
Ich habe eine Sondernutzungsgenehmigung, zahle Gebühren und ziehe mit dem Leierkasten ständig ganz langsam weiter, damit ich nicht zu lange an einem Standort bin.
Wie hat sich die Straßenmusikerszene auf der Schildergasse im Laufe der 40 Jahre verändert? Bezirksbürgermeister Andreas Hupke klagt über die „Verdrängung durch organisierte Bettelmusikanten“.
Die haben es versucht, aber ich lasse mich nicht vertreiben. Vor einigen Jahren haben die es so gemacht, dass sich zwei Gruppen rechts und links neben mich gestellt und laut zu spielen begonnen haben. Aber die kannten die Kölner schlecht. Die haben zu mir gehalten. Die Veränderung fing an in den 90er Jahren, als die Peruaner kamen. Die waren erst gut, man fand sie exotisch. Dann kamen die aber mit Verstärker und spielten nur noch Playback. Höchstens die Pan-Flöte war noch live. Die waren sehr laut, haben die ganze Stadt beschallt und denen war der CD-Verkauf eigentlich am wichtigsten. Dann wurden Verstärker verboten und es kamen jede Menge wirklich guter klassischer Musiker zum Beispiel aus Russland, die wollten sich aber auch durchsetzen. Und dann kamen die Osteuropäer. Die sind im Moment alle im Sommerurlaub in der Heimat. Viel schlimmer finde ich allerdings die Drogensüchtigen und die Obdachlosen. So heruntergekommen wie jetzt habe ich das noch nicht erlebt. Das ist seit etwa drei Jahren sehr schlimm geworden. Die tun mir Leid, den Leuten muss geholfen werden.
Wie hat sich die Schildergasse allgemein verändert?
Ich vermisse die Obst- und Gemüsestände, kleine Fachgeschäfte, den Metzger und die Propagandisten, die immer angebliche Weltneuheiten verkauften. Ich kannte jeden Geschäftsinhaber. Da konnte ich mir auch schon einmal einen Wintermantel aussuchen und der wurde bis zum Schlussverkauf für mich zurückgelegt. Sowieso, Winterschlussverkauf, Sommerschlussverkauf, das waren Highlights. Da war ich um neun Uhr in der Stadt, weil so viel los war. Um 18 Uhr war wieder zu. Das fand ich besser, das war kompakter. Samstag war schon um 14 Uhr zu, das lohnte sich für mich nicht, da habe ich liebe auf Festen in der Eifel gespielt. Nur der lange Samstag, der erste im Monat, war ein Hammer. „Langer Samstag in der City“ ist eines meiner Lieblingslieder. Da war es aber zeitweise so voll, dass gar kein Platz für die Orgel war.
Sind die Leute heute unfreundlicher?
Es gibt immer solche und solche. Die Leute kennen mich ja seit Generationen, viele begrüßen mich. Das sind häufig schon die Enkel, die vorbeikommen. Ich habe auch mehrmals bei Heiratsanträgen geholfen. Da kam zum Beispiel der Mann auf mich zu, wünschte sich ein Lied und machte seiner Partnerin vor meiner Orgel einen Antrag.
Ist Ihre Behinderung durch Contergan noch ein Thema bei den Passanten? Sie ist ja vor allem an ihren Händen zu erkennen.
Wenn jemand normal damit umgeht: Natürlich kann man mich darauf ansprechen. Klar fragen Kinder manchmal, das ist okay.
Wie hat sich der Musikgeschmack geändert?
Wenn man früher die deutsche Nationalhymne spielte, wurde man oft blöd angemacht. Heute ist das kein Problem. Und ältere Leute wollten damals keine Beatles hören, jetzt kommen die Lieder wieder gut an. Volkslieder und Filmmusik aus den 60ern gehen immer. Ich habe aber auch die „Internationale“. Und auch „Du hast den Farbfilm vergessen“ von Nina Hagen. Ich habe Nina Hagen mehrmals in Berlin bei einem Brecht-Stück begleitet. Wir haben uns über ihr Engagement für den Contergan-Verband kennengelernt. Sie ist ein sehr sozialer Mensch.
Wie sind Sie als gebürtiger Ostwestfale überhaupt mach Köln gekommen?
Ich bin nach Köln gegangen, weil es hier in Müngersdorf das einzige Gymnasium für Körperbehinderte gab. Bis zum Abitur war ich in meinem alten Gymnasium zufrieden, aber dann wollte man mir keine Zusatzzeit bei den Abiprüfungen geben – trotz meiner Schwierigkeiten mit dem Schreiben. Aber ich wollte auch nach Köln. Ich habe hier eine eigene Wohnung bekommen. Und im ländlichen Westfalen war man zwar sehr nett zu Behinderten, aber man war doch immer in einer Sonderrolle. Nettsein ist auch eine Art von Ausgrenzung. In Köln sind die Leute anders. Ich habe sofort gesagt: Hier will ich nie wieder weg.
Sie haben dann Versicherungskaufmann gelernt. Wie sind Sie auf die Drehorgel gekommen?
Die Arbeit war furchtbar langweilig Mein Vater besaß eine Orgel und spielte damit manchmal privat auf Feiern. Die habe ich dann auch mal ausprobiert. Und ich war begeistert, obwohl es beim ersten Auftritt sehr heiß war und ich furchtbar geschwitzt habe. Dann habe ich mir immer bessere Drehorgeln mit mehr Tonstufen bauen lassen, die immer besser arrangierte Lieder spielen können. Heute habe ich fünf Orgeln. Früher waren die Töne auf Metallwalzen gespeichert, dann auf Lochstreifen und heute auf digitalen Midi-Dateien. Mit meinem Kurbeln erzeuge ich die Luft, um die Signale in die Orgelpfeifen zu bringen. Die Orgeln stelle ich seit Jahren in wechselnden Garagen in Neumarkt-Nähe ab, damit ich sie nicht immer nachhause nach Pulheim transportieren muss. Eine der Garagen habe ich mir mal mit den Maronenhändlern geteilt.
Eines Ihrer Markenzeichen: Sie lüpfen den Zylinder, wenn jemand Geld ins Körbchen gelegt hat. Wie viele Zylinder haben sie schon verschlissen?
Viele, die halten nur eine Saison. Früher waren sie aus Schellack und hielten etwas länger, aber den Hersteller gibt es nicht mehr. Oft nehme ich jetzt Seidenzylinder, die auch die Schützen in Westfalen tragen. Aber die bleichen relativ schnell aus.
Ihr zweites Markenzeichen: Sie lächeln immer. Wie halten Sie das durch?
Das ist Selbstsuggestion. Die Fröhlichkeit kann man trainieren. Ich habe beim Kölner Pantomimen Mehmet Fistik einst Theaterspielen und Pantomime gelernt. Und wenn ich keine gute Laune habe, gehe ich nicht auf die Straße.
Kann man von der Arbeit leben?
Ich konnte davon gut leben, weil ich immer nebenher Auftritte bei Feiern und Festen für feste Gagen gemacht habe. Das schaffe ich jetzt körperlich nicht mehr. Auch das Drehorgelspielen auf der Straße habe ich zurückgefahren.
Sie sind 64 Jahre alt. Denken Sie ans Aufhören?
Ich habe neben der Behinderung auch noch einige andere körperliche Probleme. Aber darauf konzentriere ich mich nicht. Mein Arzt hat früher immer gesagt, warum machst du das? Ich solle das lassen, weil es körperlich eine zu große Belastung sei. Bei unserem letzten Treffen sagte er aber: Teil dir das ein und solange es Spaß macht, sollte ich es weitermachen. Und es macht mir Spaß, ich brauche den Trubel und den Kontakt zu den Menschen. Es hält mich am leben. Nur wenn es zu heiß ist, dann mache ich einfach Schluss.
Zur Person:
Werner Wittpoth (64) spielt seit 40 Jahren die Drehorgel auf der Schildergasse. Er ist verheiratet, hat zwei Kinder und wohnt in Pulheim. Er ist contergangeschädigt und ist Vorsitzender der Landesgruppe des Vereins Contergan-Netzwerk, das sich für die juristische und menschliche Aufarbeitung des Contergan-Skandals einsetzt. Von 1957 bis 1961 wurde das Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan von der Firma Grünenthal vertrieben, wonach in Tausenden Fällen Missbildungen an den im Mutterleib heranwachsenden Embryonen entstanden.