Wie reagieren Menschen, was erzählen sie, wenn man sie auf der Straße anspricht und zum Kaffee einlädt? Dieser Frage geht Susanne Hengesbach regelmäßig nach.
Diesmal begegnet ihr eine Frau, die neben dem Kölner Stadtarchiv wohnte, als es 2009 einstürzte.
Irena Kotthoff schildert, wie ihr Mann und sie die Zeit nach dem Einsturz und dem Verlust ihrer Wohnung erlebten.
Köln – Seit dem 7. August 2004, dem Tag als die allererste Folge von „zwei Kaffee, bitte!“ erschien, haben mir viele Menschen eine außergewöhnliche oder beeindruckende Geschichte erzählt. Allerdings gab es nur selten Personen, die mich so sehr durch ihre Haltung berührt haben, wie diese Frau, die mir heute in der Nähe vom Ebertplatz begegnet. Sie schiebt ihr Fahrrad, und mir fällt zunächst eine Äußerlichkeit – ihre schöne Tasche – auf. Irena Kotthoff nimmt meine Einladung an, wir setzen uns vors Café Jlöcklich; plaudern, lachen, und plötzlich beginnt die 68-Jährige von jenem Tag im März zu erzählen, als sie von der Arbeit heimkehrt und feststellt, dass alles, was sie am Morgen noch hatte, weg ist. Ihr Zuhause ist nur noch Schutt und Asche. Ihre Wohnung in der Severinstraße 230 existiert nicht mehr, weil nebenan das Gebäude mit der Hausnummer 228, das Kölner Stadtarchiv, soeben eingestürzt ist.
Wenn ein schreckliches Ereignis geschieht, ein Flugzeugabsturz, ein Erdbeben, ein Unfall, ist meistens von einer Katastrophe die Rede. Von einer Tragödie. Im Gespräch mit der seit 1977 in Köln lebenden, gebürtig aus Breslau stammenden Frau wird mir bewusst, dass die Katastrophe keinen Singular hat; eine Katastrophe reißt – ähnlich wie eine Lawine – eine unkalkulierbare Masse weiteren Unheils mit. Um so bewundernswerter finde ich, dass mir heute keine gramgebeugte Person gegenübersitzt, sondern eine strahlende, lebensbejahende Frau, die jeder anderen heimatlos gewordenen Person Mut und Hoffnung machen könnte.
„Er stand da wie eine Säule und konnte nicht sprechen“
Irena Kotthoff war Lehrerin an einem Berufskolleg in der Lindenstraße. An diesem dritten März 2009 hatte sie nur zwei Unterrichtsstunden und danach noch ein paar eher lästige Beratungsgespräche. „Zum Glück!“, sagt sie heute. Denn als sie heimwärts radelt und in die Nähe vom Waidmarkt kommt, hört sie Sirenen. Sie kann sich keinen Reim drauf machen. „Ist das Polizeipräsidium zusammengebrochen, fragt sie den Erstbesten auf der Straße. „Nein, das Stadtarchiv ist eingestürzt!“
Beim Näherkommen sieht die Absperrungen. „Hoffentlich kommst du überhaupt noch ins Haus“, schießt es ihr durch den Kopf. Als nächstes realisiert sie, dass sich die gesamte Nachbarschaft auf der Straße versammelt hat. Sie wundert sich über die Blicke, die man ihr zuwirft. „Blicke, als ob jemand gestorben ist.“ Dann sieht sie in der Menge einen Mann mit einem knallroten Pullover und völlig bleichen Gesicht. Es ist ihr Ehemann. „Er stand da wie eine Säule, konnte nicht sprechen.“
„Wir sind oft von diesem Wackeln aufgewacht“
Eigentlich hatte er an diesem Tag zur Massage gehen wollen, erzählt Kotthoff. Aber der 70-Jährige fühlte sich nicht danach und blieb in der Wohnung im zweiten Stock. Plötzlich vernimmt er ein Rumoren im Haus. Es ist nicht das erste Mal, dass komische Geräusche zu hören sind. „Das Haus hat auch gewackelt. Wir sind am Wochenende oft von diesem Wackeln aufgewacht.“ Am 3. März sind Alfred Kotthoff die Geräusche unheimlich. Er geht auf die Terrasse, bzw. auf den ans Gebäude angrenzenden Flachbau, den das Ehepaar als Terrasse nutzt. „Von dort aus hörte er und sah er, wie die ganze Geschichte donnernd zusammenfiel.“
„Er hat den gesamten Einsturz gesehen?“, frage ich. Mein Gegenüber nickt. Wenn ihr Mann in der Wohnung geblieben wäre, hätte er den Einsturz mit großer Wahrscheinlichkeit ebenso wenig überlebt wie die beiden jungen Männer im Dachgeschoss. – „Mir soll keiner sagen, es gibt keine Wunder“, sagt Kotthoff und lächelt. Dass von den drei Bussen die dort auch wegen des benachbarten Schulbetriebes verkehrten, gerade keiner auf der Straße war. „Oder dass das ganze nicht eine Woche früher passiert ist – an Karneval!“
„Mein Mann stand barfuß da. Und es war sehr kalt“
„Aber Sie standen da und hatten nichts mehr“, sage ich. – „Nichts!“ bestätigt Kotthoff. „Mein Mann stand barfuß da. Und es war sehr kalt an diesem Tag.“ Im Laufe der nächsten anderthalb Stunden schildert die ehemalige Lehrerin für Deutsch und katholische Religionswissenschaften die Stunden, Tage, Wochen und Monate nach dem Unglück und die unerwarteten, neuen Katastrophen. Sie erzählt, wie sie vom Balkon ihrer ehemaligen Nachbarn auf die übriggebliebene Mauer ihrer einstigen Wohnung starrt – fassungslos. Sie sieht dort noch ihre antike Madonna stehen und das kostbare Bild an der Wand hängen, das sie nie wieder würde anschauen können. Statt dessen bringt man ihr Wochen später ihren im Schutt aufgetauchten Bademantel, in dessen Tasche sie einen Ring wiederfindet.
Sie beschreibt den besorgniserregenden Gesundheitszustand ihres Mannes aufgrund der plötzlich extrem erhöhten Zuckerwerte und spricht von Nierenversagen; sie schildert ihr eigenes unglückliches Stolpern über ein Hindernis nach einem Besuch bei Freunden und die Folge: komplizierter Armbruch nur wenige Wochen nach der Katastrophe. Ich kann den Narbenverlauf auf ihrer Haut sehen. Sie erzählt, dass sie es im ersten Hotelquartier an der Severinstraße nicht ausgehalten habe und ins Maritim umgezogen sei, wo sie manches Mal oben am Fenster gestanden und sich vorgestellt habe, wie sie mit einem einzigen Schritt das ganze Elend hinter sich lassen könnte. Aber Irena Kotthoff ist kein Typ, der aufgibt.
Zwei ältere Menschen finden sich nicht mehr zurecht und nehmen sich das Leben
Sie erzählt von der alten Dame aus der Nachbarschaft, die mit den Ereignissen tatsächlich nicht fertig wurde und sich das Leben nahm. „Und später gab es ja noch einen weiteren Selbstmord, ein alter Mann in der Georgstraße.“ Sie erzählt von den Stunden, Tagen, Wochen, die sie mit Auflistung ihres Wohnungs-Inventars erbrachte und davon, dass man „uns nicht glaubte, diese Kunstgegenstände tatsächlich besessen zu haben.“ Nicht mal die Anzahl ihrer Paar Schuhe habe man ihr geglaubt.
Der sich über Jahre erstreckende Kampf um Schadensersatz sei so furchtbar und würdelos gewesen. „Unser Anwalt hat teilweise richtig mit gelitten“, bemerkt Kotthoff und schildert die zermürbende Wohnungssuche, bei der sie – trotz anders lautender Zusage – seitens der Stadt weitgehend im Stich gelassen worden seien. „Ein einziges Angebot haben wir bekommen. Eine Fünf-Zimmer-Wohnung mit 70 Quadratmetern in der dritten Etage ohne Aufzug. Für jemanden im Alter und mit dem Gesundheitszustand ihres Mannes ein Unding!“
Stadtdirektor kommt zu Besuch mit alter Ansichtskarte
Sie erzählt vom damaligen Besuch des Stadtdirektors, der ihr mit großer Geste eine in den Haustrümmern gefundene, völlig belanglose Ansichtskarte überreicht. „Aber eigentlich wollte der uns nur davon abbringen zu klagen.“ Das Ehepaar lässt sich nicht abbringen. Sie klagten auf Schadensersatz und hatten bei allem Unglück in einem Punkt Glück: „Wir hatten die schriftliche Zusage der KVB, uns schnell, großzügig und individuell zu entschädigen. Das war wie ein Schuldanerkenntnis.“
Irena Kotthoff und ihr Mann wohnten fünf Monate im Hotel, bevor sie ihre neue Wohnung in Bayenthal beziehen konnten. „Wie lange hat es gedauert, bis Sie sich zum ersten Mal wieder richtig freuen und – vielleicht – mal wieder anstoßen konnten? Die 68-Jährige denkt nach. „Das war, als der Prozess vorbei war, also nach fünf Jahren.“ Bis dahin habe ihr Mann oft am Tisch gesessen und geweint.
„Was war Ihre erste Anschaffung für für die neuen Wohnung?“ – „Ein Bett“, entgegnet mein Gegenüber. Die Küchen hätten sie damals übernehmen können. „Und es gab Gartenmöbel. Damit kamen wir erstmal aus.“Womit Irena Kotthoff indes überhaupt nicht zurecht kam, war die Tatsache, dass ihr selbst in einer Katastrophe dieses Ausmaßes Neid entgegenschlug. Leute aus ihrem Umfeld, die angesichts der Schadensersatzsumme, die die KVB zu leisten hatten, meinten: „Da habt ihr Euch ja jetzt richtig saniert!“ Die Menschen machen sich keine Vorstellung, was es kostet, wenn man wieder bei Null anfangen und von der Kehrschaufel bis zum Staubsauger alles neu kaufen muss.
Trotz unendlich vieler Rückschläge, maßloser Enttäuschungen und unerfüllten Hoffnungen gibt es eine Person, die Kotthoff im Zuge ihrer Erzählungen immer wieder nennt: Dr. Hermann-Josef Reuter. Der Pfarrer von St. Georg und Diözesan-Hörbehindertenseelsorger habe ihnen die ganze Zeit über zur Seite gestanden. Er habe ihren damals noch barfuß in der Kälte stehenden Mann als erstes mit Schuhen und Kleidung versorgt.
Er sei am Unglücksabend „obwohl ich überhaupt keinen Hunger hatte“ mit ihnen in ein Südstadt-Lokal zum Essen gegangen und habe sie anschließend in der Gästewohnung der Pfarrei untergebracht. Er sei Pfarrer, Freund und seelischer Beistand gewesen, wohingegen „die Stadt Köln uns im Juli einen Psychologen an die Seite stellen wollte“. – „Erst drei oder vier Monate nach dem Unglück?“, frage ich nach. Mein Gegenüber nickt.
Irena Kotthoff wohnt heute im Agnesviertel. Ihr Mann ist vor vier Jahren gestorben. Ob sie für immer in Köln bleiben wird, weiß sie noch nicht. „Diese Stadt entwickelt sich immer weiter zurück!“ Aber eines weiß sie genau: Dass ihr Glaube sie die ganze Zeit über „unheimlich getragen“ habe. Sie habe immer gewusst: Du bist nicht allein, du hast eine Stütze.“