Köln – Neun Monate lang dachte Michael Hallek, die Mediziner müssten sich in dieser Pandemie einfach mal zusammentun und kommunizieren, was aus fachlicher Sicht vernünftig ist. „Irgendwann habe ich gemerkt: Das funktioniert nicht“, sagt er heute: „Sie bekommen zu Covid-19 auf Knopfdruck jede beliebige Position aus der Wissenschaft. Das ist bedrückend.“ Es gibt in Deutschland nur wenige Mediziner mit einem noch größeren politischen Einfluss, eine Handvoll vielleicht.
Hallek ist kein Lautsprecher, er lehnt derzeit jede Talkshow-Einladung ab, aber seine Stimme wird gehört, auch in der Bundespolitik. Geräuschlos kommt der 61-Jährige in seinem weißen Kittel zur Interview-Verabredung auf Etage sechs im Krebszentrum an der Uniklinik. Seinem Krebszentrum. Hier treibt Hallek, der Onkologe, die globale Tumor-Forschung seit vielen Jahren voran.
Das politische Versagen als Anstoß
Aber unter dem Dach der Klinik I für Innere Medizin, die er leitet, passiert noch viel mehr, vor allem, seit das Coronavirus in Deutschland angekommen ist. Hier steuern Infektiologinnen bundesweite Forschungsprojekte zu Covid-19, auch die Virologie ist an seinen Bereich angedockt. Seine Teams haben Medikamente und Therapien entwickelt, die schon heute verhindern, dass Menschen an dem Virus sterben. Lange dachte Hallek, Deutschland könne die Pandemie kontrollieren, irgendwie zumindest.
Heute sagt er: „Wir sind in der schlimmstmöglichen Situation: Wir legen mit einem Lockdown einen großen Teil der Wirtschaft über Monate lahm und beklagen im Verhältnis zugleich so viele Tote wie die USA unter Trump.“ Er spricht von einem „kollektiven Versagen unserer Demokratie“ und davon, dass wir weder der Wirtschaft noch der Gesundheit der Bürger ausreichend Schutz böten. All das sei ethisch schwer zu ertragen, das Scheitern habe ihn zum Jahreswechsel umgetrieben.
„Die tödliche Pandemie hätte so nicht sein müssen“
Nach der Schule hat Hallek sehr ernsthaft darüber nachgedacht, Philosophie zu studieren. Das große Ganze interessiert ihn, schon immer. Aber das Risiko, dass er dort „nicht genügend Ideen entwickeln würde, die für viele Menschen von Bedeutung sind“, das sei ihm zu groß gewesen. Der Internist ist seit vielen Jahren als Berater in der Gesundheitspolitik angekommen, wirbt in Köln etwa für eine Fusion von Städtischen Kliniken und Uniklinik, die nur Vorteile habe, für die Versorgung der Stadt und für Köln als Forschungsstandort. Das tut er nicht nur öffentlich, sondern auch im Dialog mit Henriette Reker. Die Kölner Oberbürgermeisterin schätzt Hallek als Berater.
Auch und gerade in der Pandemie. Ohne Hallek wäre es undenkbar gewesen, dass Köln als einzige Millionenstadt versucht, einen Strategiewechsel anzustoßen. Den Strategiewechsel, den Hallek zum Jahreswechsel gemeinsam mit 13 weiteren Virologinnen, Soziologen und Ökonomen ausgetüftelt hat. NoCovid. Das Konzept sei „vor allem anderen der Versuch, effizienter zu sein und die Schäden zu reduzieren. Wirtschaftlich und medizinisch“. Es umfasst mehr Testungen und die schnellere Isolierung von Infizierten. „Vom Symptom bis zur Quarantäne dauert es in Deutschland vier bis neun Tage. Wären wir hier überall etwa einen Tag schneller, hätten wir die zweite Welle möglicherweise komplett verhindern können“, sagt Hallek. Auch das Konzept der „grünen Zonen“, in denen gelockert werden darf, fordert die Gruppe.
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Die Nachlässigkeit in allen Bereichen habe uns „letzten Endes eine tödliche Pandemie beschert, die in dieser Form nicht hätte sein müssen“. Die Modellierungen und Einschätzungen, die NoCovid zur Verfügung stellt, bezeichnet Hallek als „Informationen, die für Entscheidungen relevant sind“. Und tatsächlich: Das Konzept kam zuletzt in allen wichtigen Beratungen vor, bundesweit. Teststrategie und regionale Differenzierungen wurden auch daraufhin beschlossen.
Corona: Der Inzidenzwert und die Kölner Revolte
Doch die große Kontroverse ist eine andere: Den Lockdown länger durchhalten, bis zu einer Inzidenz von zehn. Um Infektionen und Todesfälle zu verhindern und anschließend nie wieder stillzustehen. So ging Halleks Rechnung. Und hier liegt der politische Konflikt, auf den sich Reker eingelassen hat. Wohl wissend, dass ihr eigener Handlungsspielraum begrenzt ist. Hallek war „positiv überrascht, dass sie sich auch öffentlich hinter unser Konzept gestellt hat“. Doch Rekers Ruf nach mehr Konsequenz ist verhallt.
Nicht nur in Nordrhein-Westfalen, sondern in ganz Deutschland. Statt einer Inzidenz-Grenze von zehn darf nun sogar lockern, wer unter 100 liegt. Hallek machen die Entscheidungen nervös. „Die Schnelligkeit, der Pragmatismus, die Entschlossenheit mit diesem Geschehen besser umzugehen, die fehlen mir und das macht mich richtig ärgerlich.“ Angesichts steigender Zahlen hat die Gruppe ihre Forderung zwar relativiert, sie fordert aber weiterhin, dass bei steigender Inzidenz nicht mit erhöhtem Risiko gelockert wird.
Corona-Politik: Natürlich soll NoCovid provozieren
Von einem renommierten Mediziner hieß es einmal vorwurfsvoll, Hallek habe wohl die Vorstellung, das Virus sei wie ein Tumor: Es müsse restlos ausgerottet werden, sonst komme es immer wieder. Auch an der Uniklinik ist NoCovid umstritten. Hier wusste kaum jemand von Rekers Plan, selbst der städtische Krisenstab war überrascht. Der Einfluss Halleks ist groß, von vielen unterschätzt, aber eben auch nicht unendlich. Wie nahe sich Reker und er politisch auch stehen mögen: Die Uniklinik hat sich nicht hinter NoCovid gestellt, sie ist eine Institution des Landes Nordrhein-Westfalen, dessen Regierung sich mit Lockerungen deutlich leichter tut als mit Schließungen.
Den Initiator, der selbst schon virologisch geforscht hat, stört das komplizierte Umfeld nicht im Geringsten: „Ich habe den Luxus, dass ich mich nur zu Themen äußern muss, von denen ich etwas zu verstehen glaube“, sagt Hallek. Ja, NoCovid soll provozieren. „Ich bin es gewohnt, auch in meinem Fach, Dinge zu sagen oder zu machen, von denen am Anfang niemand glaubt, dass sie funktionieren.“
„Wir machen den gleichen Fehler ein drittes Mal“
Sein Thema ist klar: Deutschland ist an Covid-19 gescheitert. Hallek glaubt zu wissen, wieso: „Bei einem Weltereignis wie einer solchen Pandemie ist der Mut zu pragmatischen Entscheidungen wichtiger, als immer alles zu hundert Prozent richtig machen zu wollen.“ Wer zu lange warte, mache einen fatalen Fehler. „Wenn die Infektionszahlen ansteigen und wir öffnen, werden sie noch schneller steigen. Dann können Sie vorausberechnen, dass Sie mehr Kranke und mehr Tote haben. Und dann frage ich mich: für welches Ziel?“
Der Haltung, es sei egal, wenn jemand an Covid-19 sterbe, wolle er entschieden entgegentreten und atmet angestrengt aus, als frage er sich, warum so etwas überhaupt gesagt werden müsse. Hallek sorgt sich um den Grundkonsens über diese Pandemie. Er wirkt ermüdet, von den vielen Tagen, an denen sich Termin an Termin bis in die Nacht reiht, von einem Jahr Pandemie auf seinen Klinikstationen, von Diskussionen und Maßnahmen, die nicht aufhören, sich im Kreis zu drehen.
Den Modellierungen der NoCovid-Gruppe zufolge kommt die dritte Welle. Viele Wissenschaftler fürchten, es könnte wegen der Mutationen die bislang schlimmste werden. Es gebe „keine einzige Vorhersage, von der ich mir so sehr wünsche, dass sie nicht eintritt“, sagt Hallek. Aber er fürchtet: „Wir machen den gleichen Fehler ein drittes Mal. Vielleicht haben wir nichts gelernt.“