In Köln dürfen die Muezzins an Moscheegemeinden nun zum Freitagsgebet rufen.
Die Stadt startet ein zweijähriges Modellprojekt. In dieser Zeit müssen sich Gemeinden, die teilnehmen wollen, eine Genehmigung bei der Verwaltung einholen. Die Rufe dürfen dann freitags zwischen 12 und 15 Uhr für maximal fünf Minuten erfolgen.
Oliver Görtz findet, Muezzin-Rufe zu erlauben, sei die selbstverständliche und konsequente Umsetzung eines Grundrechts. Niels Altenmüller ist der Meinung, ein gesungenes Glaubensbekenntnis sei etwas ganz anderes als christliches Glockengeläut.
Dieser Text ist erstmals im Oktober 2021 erschienen.
Pro: „Die Erlaubnis ist nichts weiter als die konsequente Umsetzung des grundgesetzlich verbrieften Rechts auf Religionsfreiheit“ (Oliver Görtz)
Die Stadt Köln möchte den Moscheegemeinden in einem auf zwei Jahre befristeten Modellprojekt gestatten, dass Muezzins Muslime zum Freitagsgebet rufen. Es sei „ein Zeichen der gegenseitigen Akzeptanz der Religionen“, sagt Oberbürgermeisterin Henriette Reker zu diesem Schritt. Die Erlaubnis ist nichts weiter als die konsequente Umsetzung des grundgesetzlich verbrieften Rechts auf Religionsfreiheit – und deshalb folgerichtig. Die Selbstverständlichkeit belegt die Stadt trotzdem mit einer Reihe von Auflagen. Zum Beispiel müssen die Moscheegemeinden erst einmal einen Antrag stellen. Zudem dürfen die Rufe des Muezzins nicht länger als fünf Minuten dauern und eine bestimmte Lautstärke nicht überschreiten. Offenbar dürfen Toleranz und Offenheit, derer sich Köln immer rühmt, dann doch nicht allzu forsch in Anspruch genommen werden, wenn es mal ernst wird. Aber sei’s drum!
In vielen deutschen Städten dürfen Muezzins ihres Amtes walten, und es stellt sich die simple Frage: Warum auch nicht? Kritiker werfen ein, dass die Gebetsrufe eher Werbung für den Islam seien, weil der Muezzin unter anderem „Allah ist groß“ ruft. Damit stelle sich der Islam über andere Religionen, während Kirchenglocken nichts weiter von sich gäben als Gebimmel.
Schrumpfendes Selbstbewusstsein unter Christen
Argumente dieser Art zeugen von einem beständig schrumpfenden Selbstbewusstsein unter Christen. Aus Muezzin-Sätzen wie „ich bezeuge, dass es keine Gottheit außer Allah gibt“ einen Herrschaftsanspruch zu konstruieren, ist eine Auslegung, die ebenso gut auf das erste der biblischen Zehn Gebote angewendet werden könnte: „Du sollst keinen Gott neben mir haben“, heißt es da. Es geht aber nicht darum zu zeigen, wer den größten Gott hat. Und es hätte etwas Würdeloses, zwei Weltreligionen auf ein solch kindisches Duell zu verzwergen. Der Muezzin-Ruf ist – wie auch christliches Glockengeläut und das Glaubensbekenntnis – zuvorderst eine Ansprache an die eigene Gemeinschaft. Die Deutung als Machtanspruch befeuert eher einen unnötigen Kulturkampf.
Auch der Verweis auf Länder, in denen christliche Minderheiten in ihrer Religionsfreiheit beschnitten werden, kann nicht verfangen, um die Muezzins hier zum Schweigen zu bringen. Es wäre falsch und von einer Vergeltungsmentalität getrieben, der Ungerechtigkeit anderer mit eigener Ungerechtigkeit zu begegnen.
Keine Islamisierung Kölns
Muezzin-Rufe bedeuten weder den Untergang des Abendlands noch die Islamisierung Kölns. Sie können ein Schritt sein zur Koexistenz der Religionen in einer multiethnischen Gesellschaft: Rund 15 Prozent der Kölnerinnen und Kölner sind Muslime, etwa 46 Prozent Christen.
Und wer die Muezzins partout nicht hören möchte, schließt eben für fünf Minuten das Fenster.
Contra: „Wer sich mit dem Muezzin-Ruf inhaltlich und formal auseinandersetzt, stößt schnell auf Befremdliches“ (Niels Altenmüller)
Rechtlich ist gegen die Entscheidung der Stadt Köln, Muezzin-Rufe zu ermöglichen, nichts einzuwenden. Gerichte in Deutschland haben Klagen von Anwohnern bislang abgewiesen. Der Muezzin-Ruf stelle schränke die „negative Religionsfreiheit“ der Anwohner – also deren Recht, von Religion verschont zu bleiben – nicht ein. Auch handele es sich in bestimmen Grenzen nicht um eine Lärmbelästigung, urteilten die Gerichte. Das ist auch richtig so. Aber nicht alle Entscheidungen, gegen die es keine rechtliche Handhabe gibt, sind auch sinnvoll.
Wer sich nämlich mit dem Muezzin-Ruf inhaltlich und formal auseinandersetzt, stößt schnell auf Befremdliches. So kann das in den öffentlichen Raum getragene Bekenntnis zu Allah als dem „Allergrößten“ und „einzigen Gott“, auch wenn es auf Arabisch nicht jedem verständlich ist, aggressiv und abwertend gegenüber anderen religiösen Überzeugungen wirken. Auch in der Form unterscheidet sich der Muezzin-Ruf – anders als die Stadt Köln suggeriert – erheblich vom christlichen Glockengeläut. Das eine sind textfreie und damit inhaltlich neutrale Klangsignale, die auch noch Auskunft über die Uhrzeit geben. Das andere ist ein gesungenes Glaubensbekenntnis. Wer es auf einen Vergleich anlegt, der stelle sich vor, ein Domschweizer stünde sonntagmorgens auf der Aussichtsplattform des Kölner Doms und beschallte die Altstadt mit einem gesungenen Credo. Auch das wäre – befremdlich.
Kontrolle ist geboten
Nicht umsonst spricht aus der Ankündigung der Stadt vom Donnerstag große Skepsis. So ist der Rahmen für das „Modellprojekt“ eng gesetzt. Mit Genehmigungsvorbehalten sowie zeitlichen und akustischen Einschränkungen. Die Nachbarschaft muss ausführlich informiert werden, spezielle Ansprechpartner soll es auch geben. Und: Das Projekt ist zunächst auf zwei Jahre befristet– auf Bewährung sozusagen. Angesichts der politischen Rolle, die etwa der türkisch-islamische Verband Ditib mit Sitz in Köln in den vergangenen Jahren spielte, ist Kontrolle ohnehin geboten.
Offenbar war es der Stadt Köln letztlich wichtiger, Weltoffenheit zu demonstrieren. Das spricht aus den Worten der Oberbürgermeisterin Henriette Reker, die den Symbolcharakter der Aktion hervorhebt und unterstreicht, die Stadt gebe „ein Bekenntnis zur grundgesetzlich geschützten Religionsfreiheit“ ab. Das ist löblich, und Toleranz ist unstrittig Teil der Kölner DNA. Nur sollten diese Werte und Haltungen in einer offenen Gesellschaft keine Einbahnstraße sein.
Außerdem ist keine Muslimin und kein Muslim in der individuellen Religionsfreiheit eingeschränkt: Niemand hindert sie daran, am Gebet ihrer Gemeinschaft teilzunehmen – auch ohne Muezzin-Ruf.