Die Kündigung erhielt Paula Hilsemer an Heiligabend. Der Mieterverein glaubt, dass sie gute Chancen hat, bleiben zu dürfen.
Kündigung wegen Eigenbedarf94 Jahre alte Kölnerin soll nach 70 Jahren aus ihrer Wohnung ausziehen
Im Juni lebt Paula Hilsemer seit 70 Jahren in ihrer schmucken Zwei-Zimmer-Wohnung in Köln-Mülheim. Sechs Wochen später, am 15. Juli, wird sie 95 Jahre alt. „Am liebsten“, sagt sie, „würde ich noch meinen 100. Geburtstag hier feiern. Ich bin ja mit jedem Winkel verwachsen hier und habe so viele schöne Erinnerungen.“ Als sie mit ihrem Mann Peter und Töchterchen Helga in die 52 Quadratmeter große Erdgeschosswohnung in der Windmühlenstraße einzog, kostete die Miete 60 Mark. Winston Churchill trat als britischer Premierminister zurück, bei VW lief der einmillionste VW Käfer vom Band. Geboren wurde 1955 Steve Jobs, über dessen I-Phone Paula Hilsemer heute sagt: „Da habe ich kein Interesse dran, aber schon doll, was man damit alles machen kann, oder?“
Ob die Party zum 100. Geburtstag in ihrer Wohnung steigen kann, hängt aber nicht nur von den Launen der Natur ab. Paula Hilsemer hat von ihrer Vermieterin kürzlich die Kündigung bekommen, wegen Eigenbedarfs. „Kürzlich“, das heißt in diesem Fall: an Heiligabend. Da lag das Einschreiben in ihrem Briefkasten. Als sie sah, dass die Vermieterin geschrieben hatte, „dachte ich an einen Weihnachtsgruß“, erinnert sich die gebürtige Kölnerin. Es war dann aber ein bürokratisch formuliertes Schreiben mit Betreff „Mietverhältnis“, in dem die Vermieterin ankündigt, dass sie ihren „künftigen Lebensmittelpunkt“ nach Köln verlagern wolle und dafür „die von Ihnen innegehaltene Wohnung beziehen“ möchte. „Ich bin fast vom Stuhl gefallen“, sagt die 94-Jährige. „Ich dachte, mich trifft der Schlag!“
Sie habe dann gleich Kalle angerufen. Kalle heißt mit Nachnamen Gerigk und ist ein bekannter Wohnungsaktivist, seit er im April 2014 im Agnesviertel zwangsgeräumt wurde und sich wehrte. Die Kampagne „Alle für Kalle“, mit der Gerigk gegen die Verdrängung von Mietern durch Luxussanierungen demonstrierte, ging bundesweit durch die Medien. Seitdem engagiert sich der 65-Jährige gegen Entmietungen, Zwangsräumungen und den Leerstand gut erhaltener Gebäude. Kalle Gerigk kam am heiligen Nachmittag, um Paula Hilsemer zu beruhigen. Jetzt sitzt er bei Filterkaffee mit Dosenmilch auf Paula Hilsemers weißen Sofa und schüttelt energisch den Kopf: „Eine 94-Jährige zu kündigen, und das auch noch an Weihnachten, das macht man einfach nicht, da tun sich menschliche Abgründe auf.“
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Gerigk berät Hilsemer und fährt mit ihr auch zur Rechtsberatung. Es sei zumindest gut möglich, dass die Anmeldung des Eigenbedarfs in diesem Fall ein „nicht zumutbarerer Härtefall“ sei, glaubt Hans Jörg Depel vom Kölner Mieterverein. „Die Dame ist sehr alt, pflegebedürftig und lebt seit 70 Jahren in der Wohnung. Die Frage ist, ob ihr ein Umzug überhaupt zumutbar wäre.“ Er könne sich vorstellen, dass „der zuständige Richter sich diesen Fall sehr genau anschaut. Alternativ müsste die Frau ja vermutlich in ein Heim“, so Depel. Nicht vermutlich, meint Paula Hilsemer, „ganz sicher sogar“. Denn: „Ich möchte einfach nicht mehr umziehen.“
Vergangene Woche hat die Vermieterin ihr zwei Wohnungsangebote zugeschickt – das sei nicht unüblich, um vor Gericht zu zeigen, sich aktiv um Ersatz bemüht zu haben, meint Hans Jörg Depel. Für Rückfragen war die Vermieterin für den „Kölner Stadt-Anzeiger“ nicht erreichbar.
Lieber als von der Kündigung erzählt die 94-Jährige von Karnevalspartys in ihrer Wohnung und Fernsehabenden, Sonntagsbraten und Kaffeeklatsch, Blaumeisen und Rotkehlchen. Auf der Terrasse zum Garten steht ein Vogelhäuschen, jeden Tag schaut Paula Hilsemer nach, ob noch genug Körner für ihre Lieblinge drin sind. Gerade glotzt eine fette Taube vom Dach des Häuschens. „Die ist natürlich nicht so schön – aber sie soll ja auch leben“, sagt sie. „Wir wollen doch alle, leben, oder?“
Ihre Wohnung sieht aus wie ein Hipster-Café im 60er-Jahre-Stil: Die rot-weiß-orangenen Gardinen sind perfekt abgestimmt mit den Teppichen, die ihr Mann entworfen hat, der seit vielen Jahren tot ist, die Lampenüberzüge in Rot und Orange passen zum Interieur wie Hilsemers Rollkragenpulli (orange) und Lippenstift (dezentes rot). In der Küche harrt vor gelben Resopalschränken und gelben Fliesen ein Kanarienvogel namens Peterchen – in Erinnerung an ihren Mann Peter. Peterchen sei ihr zugeflogen, erzählt Paula. „Eine Zeit lang sind mir oft Vögel zugeflogen. Wahrscheinlich haben sie gemerkt, dass ich sie sehr mag.“
Geflogen ist Paula Hilsemer auch immer gern: An den Wänden hängen Bilder, die sie in Las Vegas zeigen, in London, Moskau, Tokio. Sogar nach Sibirien hat sie es geschafft. „Mein Mann wollte eigentlich nie so weit weg, er hatte ja einen anstrengenden Job und hätte sich im Urlaub lieber ausgeruht“, sagt sie. „Aber mir zuliebe ist er dann doch gern mitgekommen. Ich glaube, er hat es im Nachhinein nie bereut.“
Sie zwinkert. Mit ihren rotblonden Haaren und der perfekt abgestimmten Garderobe sieht Paula Hilsemer fesch aus, mit ihrem Rollator ist sie so fix unterwegs („Ich sage immer, ich habe einen Düsenantrieb“), dass Nachbarn sich manchmal Sorgen machen.
Eine Bekanntheit im Veedel ist Paula Hilsemer auch, weil sie so lustig erzählen kann. „Als ich mal nach einem Sturz grün und blau im Gesicht war, haben mich die Lück gefragt, was denn passiert sei. Da habe ich gesagt, ich hätte mich mit dem Klitschko geprügelt, aber der sieht schlimmer aus!“ Als sich im Veedel nach einem Bericht im „Express“ herumsprach, dass Paula Hilsemer gekündigt wurde, „da hat eine Nachbarin von mir geweint“, erinnert sie sich. „Und sogar ein paar Lück haben gesagt: Wenn Paula hier wegmuss, ziehe ich auch weg.“
Sie lacht. Weil sie gern lacht. Auch wenn „mir eigentlich nicht immer nach Lachen zumute ist.“ Ob sie weiter in ihrer Wohnung lachen darf oder der Kündigung wegen Eigenbedarfs stattgegeben wird, entscheidet das Gericht.