Streetworker Franco Clemens sagt: Die Stadt ist zu weit weg von der Lebensrealität der ärmsten Kölnerinnen und Kölner. Ein Winterabend auf Neumarkt und Wiener Platz.
„Sozialer Notstand“ an Neumarkt und Wiener PlatzWie Kölner Streetworker erledigen, was die Stadt versäumt
Ein junger Mann, Ende 20 vielleicht, geht das Gleis am Neumarkt entlang. Der Mann hüpft unregelmäßig von links nach rechts, bewegt sich mit viel Aufwand nur langsam nach vorne. „Der ist auf Crack“, sagt Franco Clemens aus einigen Metern Entfernung, er kann am Gang erkennen, welche Droge vorher konsumiert wurde. „Diese Tänzelei, Junkies machen das nicht.“ Ein Junkie, so nutzt Clemens den Begriff, ist von Heroin abhängig.
Der Streetworker ist seit Jahrzehnten auf Kölns Straßen unterwegs. Und versucht, das Leben derer, die dort leben, besser zu machen. Neben Cannabis werde am Neumarkt vor allem Shore verkauft, sagt er, Heroin. Und wer abhängig von Shore ist, der tänzelt nicht mehr. Es ist Ende Dezember, der Weihnachtsmarkt steht noch und in den Mülleimern liegen unter Papptellern und Servietten Heroinspritzen. Eine Einlasskontrolle gibt es nicht, sagt Betreiberin Britta Putzmann, aber wenn jemand bettelt, dann werde er von der Security vom Weihnachtsmarkt gewiesen. Mitarbeiter stehen am Eingang und laufen hinter Obdachlosen her, von denen sie vermuten, dass sie die Besucher stören könnten, beobachten und weisen sie zurecht. Für Franco Clemens ist das „grenzwertig“.
Kölner Streetworker hat Verständnis für Gefühl der Bedrohung
Überhaupt sieht er jeden Versuch der Institutionen, die Situation am Neumarkt ernsthaft zu verbessern, als gescheitert an. Betteln und Flaschensammeln sollte reduziert und verhindert werden, die Kontrolldichte wurde erhöht, die Toleranzschwelle gesenkt. „Es waren immer Verdrängungsversuche“, sagt Clemens. Jeder obdachlose Kölner gehöre zur Stadt, sagt Clemens, er fordert einen Paradigmenwechsel. Von der Drogenszene spricht er nicht, sondern vom „Straßenkulturmilieu“.
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Er beobachtet im Vorbeigehen zwei junge Männer, Pullover, Rucksack, unscheinbar, die sich miteinander unterhalten, dann überreicht einer dem anderen wenige Gramm Cannabis. „Das ist nur Kleinkram, die Profis dealen sowieso am Ebertplatz.“ Dieses „Straßenkulturmilieu“ sei nicht per se ungepflegt und unhöflich. Auch Armutsrentner, die „den ganzen Tag nach Flaschen jagen“, seien Teil der Community. „Du staunst, was das für kultivierte Menschen sind“, sagt Clemens. Seine geschulten Augen erkennen dennoch in wenigen Sekunden, wer dazugehört und wer nicht. Eine eigene Welt mitten in der Öffentlichkeit. Die für Menschen, die nicht dazugehören, nur scheinbar gefährlich ist, meint Clemens. „Die Konflikte finden innerhalb des Milieus statt.“
Dass es Kölnerinnen und Kölner gibt, die sich beim Warten auf die Bahn von Menschen, die aufdringlich betteln oder schreien, bedroht fühlen, verstehe er dennoch gut. Clemens selbst steht mitten zwischen zwei Welten, wie er sagt, hält intensiven Kontakt in den Kölner Stadtrat und zur Verwaltungsspitze, seine Expertise wird regelmäßig nachgefragt, zuletzt, als es – mal wieder – um die bevorstehende Umgestaltung des Neumarktes ging. Auf der anderen Seite steht er der Straße und den Menschen, die hier leben, besonders nahe. Die schmale Brille, die tarnfarbene Hose, die markante Stimme und Bowie, sein schneeweißer Schäferhund, machen Franco Clemens, 57 Jahre alt, vielleicht 1,70 Meter groß, zu einer Erscheinung, die nicht übersehen wird. „Du musst dich in meiner Rolle in allen gesellschaftlichen Schichten bewegen können.“
Am Neumarkt fehlt ein konstruktiver Ansatz
Mit 16 Jahren von zuhause geflohen, als „gelernter Straßenmusiker“, wie Clemens sagt, hat er selbst im Auto und auf der Straße gelebt, später dann eine Ausbildung zum Erzieher, eine Weiterbildung zum Anti-Aggressions-Trainer gemacht, Arbeit in prekären Jugendzentren, dann half er der Stadt, die Situation am Kölnberg zu verbessern. Inzwischen abgeworben von der Stadt Düsseldorf, verbringt er nun seine Freizeit auf den Kölner Straßen, arbeitet ehrenamtlich beim Verein „Heimatlos in Köln“.
Am Neumarkt vermisst Clemens einen konstruktiven Ansatz der Stadt. Die inzwischen geschlossene Toilette mit Wendeltreppe, die mitten auf dem Neumarkt in Höhe der „Mayersche“-Buchhandlung stand, wurde, natürlich, genutzt, um Heroin zu spritzen. Das muss sich ändern, fordert Clemens. Eine einfach zugängliche öffentliche Toilette, wie es sie inzwischen am Wiener Platz gibt, ist seine zentrale Forderung. Außerdem: Ein Drogenkonsumraum, der Tag und Nacht geöffnet ist. Die Menschen auf der Straße sind „treue Tomaten“, sagt Clemens, wechseln nicht oft ihren Platz, bleiben dort, wo sie sich wohlfühlen. Und genau dort brauche es die Angebote der Stadt.
Clemens steigt in sein Auto, um 18 Uhr wird er am Wiener Platz erwartet. Zur Essensausgabe seines Vereins. Die Arbeit, die er hier ehrenamtlich macht, kompensiere das, was die Stadt versäumt, sagt er. Er fährt aus dem Parkhaus am Neumarkt, hinten im Auto eine Decke für Bowie, vorne ein Aschenbecher. Die Nord-Süd-Fahrt herunter und über die Zoobrücke. Ob ihm das, was er tue, Spaß macht? Clemens überlegt. „Spaß ist der falsche Ausdruck. Ich bekomme viel Wertschätzung von Menschen aus dem Straßenkulturmilieu.“
Doch die Umstände frustrieren. „Die Armutsbekämpfung muss über alle Bereiche der Verwaltung stringent miteinander verbunden sein. Das fehlt“, sagt der 57-Jährige. „Wir haben einen sozialen Notstand. Weil sich auch Normalverdiener in der Großstadt ihre Miete oft nicht mehr leisten können.“ Das Thema müsse kommunal auf Platz eins der Prioritätenliste. Aber nicht nur dort: „Wohnraum gehört ins Grundgesetz.“ Über die Ambition von Sozialdezerent Harald Rau, bis 2030 in Köln keine Obdachlosigkeit mehr zu haben, muss Clemens dennoch lachen.
Streetworker sind Vermittler zwischen Ordnungsamt und Straße
Viel wichtiger sei es, Angebote zu schaffen, die zur Lebensrealität der Menschen auf der Straße passen. Wärmezelte etwa, in die Hunde mitgebracht werden können, in denen auch Alkohol erlaubt ist, die in der Nähe der Hotspots stehen. Ansonsten droht, was am Wiener Platz zu sehen ist: Ein Mann verbringt die kältesten Wochen des Jahres in dem kleinen Fußgängertunnel der auf den Wiener Platz führt, über ihm rauschen die Bahnen der Linie 4.
Bei der Essensausgabe wird Clemens von einem obdachlosen Mann unterbrochen, der ihn herbeiruft. „Die Stadt vertreibt den da hinten“, sagt er und zeigt auf den Mann, der im Schlafsack in der Unterführung liegt. Clemens geht sofort in seine Richtung, beobachtet aus der Ferne, wie Mitarbeiter des Ordnungsamtes mit ihm sprechen. Die KVB hat in dem Bereich Hausrecht, nimmt es aber selten wahr, um Menschen zu vertreiben. „Das Problem ist, dass er sich ausbreitet“, sagt Clemens. Als die Mitarbeiter des Ordnungsamts Clemens sehen, gehen sie weiter. Ohne ihn, denkt er, wäre der Mann vertrieben worden.
Mit ihrer Präsenz schlichten Ehrenamtliche wie Franco Clemens viele Konflikte, bevor sie entstehen können. Die regelmäßige Essensausgabe wird von Linda Rennings organisiert. Sie hat selbst jahrelang auf der Straße gelebt. Jetzt verteilt sie Supermarktgutscheine. 10 Euro, so kann jeder selbst entscheiden, was er kauft, „und wenn es am Ende Bier ist“, wie Clemens sagt. Es sei würdelos, Menschen keine eigenen Kaufentscheidungen zuzutrauen. Er wünscht sich ein solches proaktives Vorgehen auch von der Stadt.
Aber auch das Ordnungsamt kennt die Menschen, auf die es täglich trifft. „Die Blonde ist nett“, sagt einer der Obdachlosen, als sich ihnen eine Gruppe städtischer Mitarbeiter nähert. „Geht es euch gut?“, fragt die blonde Frau. „Heute ist es ja wärmer, das ist doch für euch besser so.“ „Ja, ist besser.“ An der Essensausgabe umarmt ein unscheinbarer obdachloser Mann in gelber Warnweste einen zwei Meter großen, stämmigen Freund, der sich auch anstellen will. „Was machst du denn hier?“ Die beiden lachen. „Die bekommst heute nichts. Du bekommst nichts, Kumpel.“ Die beiden lachen weiter. Clemens kennt die Freundschaften auf der Straße und kennt auch das öffentliche Bild von der „Drogenszene“, in denen Bilder wie diese keinen Platz haben. „Warum macht hier keiner Stress? Kann mal jemand Stress machen?“, ruft Clemens und lacht.
Franco Clemens geht davon aus, ein Armutsrentner zu werden
Dann geht er selbst die Schlange ab, etwa 25 Menschen stehen hier, überwiegend Männer. Sie halten ihre Einkaufsgutscheine in der Hand. „Wer hat noch keine Eintrittskarte?“, fragt Clemens. Das Verhältnis zwischen Streetworkern und den Menschen auf der Straße ist vertrauensvoll, nicht nur an diesem Dezemberabend.
Franco Clemens wünscht sich, dass auch die Stadt näher an das Milieu rückt, Vertrauen aufbaut, um die Hotspots und ihre Bewohner besser zu kennen und Probleme vor Ort zu lösen. Und sie nicht zu verstecken. Bislang ist die Stadt darauf angewiesen, dass Ehrenamtliche zwischen den zwei Welten vermitteln.
Er werde, sagt er, selbst einmal ein Armutsrentner sein. „Und ich werde Ärger machen.“ Die gesellschaftlichen Strukturen, die Obdachlosigkeit begünstigen, machen ihn wütend. „Die sollen aufpassen, dass ich nicht die Seiten wechsle bei meinem Know-how“, sagt Clemens und lacht und wer ihn ein bisschen kennt, weiß, dass er es auch ein bisschen ernst meint.