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Momentaufnahme90 Minuten im Kölner Seniorenheim – was das Leben hier lebenswert macht

Lesezeit 7 Minuten
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Cindy Wuttke (38) und Charlie Müller (91)

KölnHinsetzen, Leute beobachten, Geschichten spinnen – wer macht das nicht gern. Wir haben haben daraus eine Serie gemacht. Unsere Autoren und unsere Fotografin Martina Goyert gucken nicht nur. Sie hören zu, schreiben auf, fragen nach, was passiert. Das ist die Idee hinter der Serie „Momentaufnahme“. Das Spiel dauert 90 Minuten, irgendwo in Köln.

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Ein Platz in Köln in 90 Minuten – dieses Mal im Maternus Seniorencentrum

14.30 Uhr Am liebsten erzählt Herr Heel von seinem fünften Leben. Es kreist um eine 96-jährige Frau, die seit dem Tod seiner Ehefrau an seiner Seite ist. „Könnten wir einmal zusammen einen langsamen Walzer tanzen?“, habe er sie irgendwann gefragt. „Da war sie hin und weg, da das mit ihrem Mann nie möglich war, der war amputiert.“ Inzwischen, sagt Herr Heel, „schnaufe ich nach dem dritten Schritt, sie tanzt mich in Grund und Boden.“ Liiert sei „wohl das falsch Wort in unserem Alter. Sagen wir es so: Wir sind uns sehr nah“.

Bewohner Martin Heel (87)

14.39 Uhr Martin Heel ist als erster zum Geburtstagskaffee in den Clubraum gekommen, der mit Girlanden und Luftballons geschmückt ist. Er ist im Januar 87 geworden. „Damit bin ich wohl das Küken hier“, sagt er mit Blick auf die Tafel, die sich langsam füllt, neun Geburtstagskinder, 90,8 Jahre im Schnitt. Sein erstes Leben hat Heel in München geführt. Vom zweiten Leben, drei Jahren als Flugzeugbauer in Schweden, spricht er fast sentimental. In Köln lebte er ab 1954 zunächst sein drittes Leben: Als Werkzeugbauer bei Ford und Vater von vier Kindern. Sein viertes Leben begann, als er 2006 mit seiner Frau ins Rodenkirchener Seniorenzentrum zog – es endete, als seine Frau 2013 starb. Jetzt also das fünfte, mit der 96-jährigen Gefährtin, die Klavier spielt und ihn in Grund und Boden tanzt. „Es ist so schön, nicht allein zu sein“, sagt er.

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14.41 Uhr Älter zu werden, sagt Frau D., die lieber unerkannt bleiben will, falle ihr mit 85 nicht mehr schwer. Schwer sei es mit 40 gewesen: „Da dachte ich: Du hast einen Mann, eine Familie, einen Beruf, bist nicht mehr jung. Eigentlich hast du alles abgeschlossen. Glücklicherweise fühlte ich mich mit 50 nicht älter als mit 40, mit 60 nicht, mit 70 nicht, und mit 80 auch nicht.“

14.46 Uhr Die 98-jährige Marie-Luise Spanke fragt Frau D.: „Wissen Sie eigentlich, dass wir Zimmernachbarn sind?“ – „Ne, ich habe sie noch nie beim Essen gesehen.“ – „Ich esse auch nicht im Restaurant. Ich bin etwas unappetitlich“, sagt Frau Spanke, die im Rollstuhl sitzt und schlecht sieht. „Aber lustig, dass wir nebeneinander wohnen“, sagt Frau D. und drückt Spankes Hand.

Bewohnerin Marie-Luise Spanke (98)

14.51 Uhr Erinnerungen, sagt Marie-Luise Spanke, kämen ihr ständig. Steuern könne sie sie nicht: Mal liege sie als Kind bei ihrer Mutter auf dem Arm, mal kämen Bilder des Schwimmbads, dass sie und ihr Mann, der Zahnarzt war, in ihrem Haus bauen ließen, mal romantische Gedanken, die sie nicht in der Zeitung lesen will. Die Zeit vergehe wohl so schnell, weil sie für alles so lange brauche: „Wenn ich morgens gepflegt worden bin, dauert es schon ewig, bis jedes Kissen an seinem Platz ist. Alles muss 100-prozentig an seinem Platz sein, weil ich nichts mehr suchen kann.“

Bewohnerin Sofie Krakau (98)

15.55 Uhr Sofie Krakau ist zehn Tage jünger als Marie-Luise Spanke. Die 98-Jährige trägt erdbeerroten Lippenstift und einen wachen Blick, liest jeden Morgen die Zeitung und wird an Weiberfastnacht aus dem Stegreif eine halbstündige Büttenrede halten. Letztes Jahr war sie mit Tochter (81) und Sohn (78) noch auf Mallorca, sie wisse nicht, ob das dieses Jahr wieder klappt, „die Hüfte macht mir Sorgen“.

Heimleiter Jordi Kuhl (36)

15.04 Uhr Heimleiter Jordi Kuhl begrüßt die Geburtstagskinder. Frau L. (94) fehlt. „Wo ist sie nur?“, fragt Kuhl. Hausdame Cindy Wuttke geht sie suchen, kehrt einige Minuten später mit Frau L. am Arm zurück. Die 94-Jährige saß im Restaurant und aß ein Stück Frankfurter Kranz – sie hatte vergessen, dass die Geburtstagsfeier einen Stockwerk höher stattfindet.

15.07 Uhr Die Hausdame Marie-Christin Winkler-Bereuter schenkt Sekt und Orangensaft ein. „Herr Kuhl hat noch keinen Kuchen!“, ruft Frau Krakau.

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Marie-Christin Winkler-Bereuter

15.11 Uhr Herr H. sagt bei einer kurzen Vorstellungsrunde: „Ich fühle mich sehr wohl hier. Der Rhein ist in der Nähe, man kann zu Fuß einkaufen, man braucht kein Auto. Toll. Ich wollte immer zurück zum Rhein, da bin ich früher gerudert. Die Lage ist ideal.“

15.19 Uhr „Das Essen ist leckerer geworden“, fällt Frau Spanke ein. „Das könnte daran liegen, dass wir seit einem halben Jahr einen neuen Koch haben“, sagt Kuhl. Gutes Essen sei allen wichtig, und Fernsehen. „Viele schauen sehr gern fern.“ Der Pflegebereich sei eine Herausforderung, zu wenig Personal. Im März und April gebe es im Haus die meisten Geburtstage, warum auch immer. „Das kommt auf die Zeugungen an“, sagt Frau Spanke. Kichern.

90 Minuten Köln

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Fotografin Martina Goyert und Autor Uli Kreikebaum

Hinsetzen, Leute beobachten, Geschichten entdecken. Fotografin Martina Goyert und Autor Uli Kreikebaum hören zudem zu, fragen nach, schreiben auf. 90 Minuten, irgendwo in Köln. Aus einem anonymen Stadtbild werden Geschichten. Das ist die Idee hinter der Serie „Momentaufnahme“. Die mehrfach preisgekrönte Reihe gibt es als Dossier im Handel und im DuMont-Shop, Breite Straße.

15.34 Uhr Wer erinnert sich an eine Geburtstagsgeschichte? „Mein Enkel ist bei den Roten Funken. Letztes Jahr kam eine Abordnung zu meinem 97., hat für mich getanzt und mir einen Orden übergeben“, sagt Krakau. „Am 6. Januar 1945 war ein schwerer Bombenaufgriff auf München, da ist ein Schulkamerad und Freund von mir ums Leben gekommen“, erzählt Herr Heel. „Und 1953, kurz nach meinem 21. Geburtstag, konnte ich heiraten, ohne meine Mutter zu fragen!“ Darauf ein Schlückchen Sekt. Frau Krakau erinnert sich noch an den Tag vor einem Namenstag, „der in meiner Jugend mehr gefeiert wurde als der Geburtstag“. Im Hinterhaus habe es eine Theateraufführung gegeben, sie sei hingeschlichen, obwohl sie es nicht durfte. „Das hat meine Mutter mitgekriegt und ich musste für den nächsten Tag alle Freundinnen wieder ausladen.“

15.41 Uhr Charlie Müller, seit dem 14. Januar 91, erzählt von seinem Dienst bei der Heimatflak am Flughafen Wahn, 14. Januar 1945. Er hatte die letzte Wache des Tages, der Schnee lag kniehoch. „Ich sollte für den Feldwebel Kohlen holen, damit der sich mit warmem Wasser rasieren konnte. Mit den Kohlen bin ich im Schnee ausgerutscht. Daraufhin sollte ich drei Wochen lang jeden Abend die Kohlen für das Rasierwasser holen.“ „Das ist joa der Woahnsinn!“ ruft Herr Heel, der sich seinen bayerischen Akzent bewahrt hat, „obwohl ich meine Heimat nicht mag“. „Was ist der Unterschied zwischen einem Bayern und einem Türken“, fragt Charlie . „Der Türke spricht Deutsch!“ „Wie bitte?“, fragt Frau Krakau. „Der Türke spricht Deutsch, der Bayer nicht!“, erklärt Müller. „Ach so“, sagt Krakau. „Der ist gut.“

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Cindy Wuttke (38) und Charlie Müller (91)

15.56 Uhr Was das Leben hier lebenswert mache? „Das ist schwer“, sagt Herr Müller. „Besonders schön sind die sauberen, frischen Tischdecken.“ „Das ist wahr, daran wird hier nicht gespart!“, sagt Frau Krakau. „Der Rhein ist in der Nähe, man kann zu Fuß einkaufen, braucht kein Auto. Ich wollte immer zurück zum Rhein, da bin ich früher gerudert. Die Lage ist ideal“, sagt Herr H., zum vierten oder fünften Mal inzwischen. „Alle sind freundlich, lieb und fleißig, auch, wenn man sich nicht so gut fühlt“, sagt Frau Spanke. „Stimmt“, sagt Frau Krakau. „Alle sind so lieb.“

16 Uhr Cindy Wuttke versteckt ein Lächeln, als sie das hört. „Betreuen und betuddeln“, nennt sie ihre Aufgabe. Eben noch hat sie eine Frau, die verloren im Flur herumstand, zurück auf die Pflegestation gebracht. „Als sie meinen Arm nahm, hat sie mich erkannt und gelächelt. Das ist das Schönste.“