Köln – Es klingt so unappetitlich, wie es ist. Aber es bringt auch die Misere ins Wort: „Jeden Morgen ein Zentimeter Urin in den Domeingängen.“ – „Die Brühe floss bis ins Innere der Kirche.“ Daran erinnern sich Ex-Dombaumeisterin Barbara Schock-Werner und ihr Chef, Dompropst a.D. Norbert Feldhoff. Naserümpfend, aber auch schulterzuckend. „In Köln wird halt alles angepinkelt, auch der Dom“, sagt Schock-Werner. Eine Schweinerei, aber so seien die Leute nun mal, findet Feldhoff. Trotzdem, sagen die beiden ehemaligen Hauptverantwortlichen für die Kathedrale, sei die Wildpinkelei an diesem Ort natürlich „besonders peinlich“. Neben dem Gestank habe die Säure im Urin Metall und Holz der Domtüren angefressen, so dass Teile erneuert werden mussten.
Als der US-Dichter Charles Bukowski in den 1980er Jahren einmal Köln besuchte, mokierte sich der Bürgerschreck und Provokateur darüber, dass es sogar im Dom nach Pisse gestunken habe, wie Stephan Grünewald zu berichten weiß. Der Geschäftsführer des „rheingold“-Instituts, der in seinem Bestseller „Köln auf der Couch“ eine Psychogramm der Stadt und ihrer Bewohner erstellt hat, hört Bukowskis despektierliche Bemerkung nicht nur als Kritik an einem hygienischen Zustand, sondern auch als Aversion gegen das Stein gewordene Christentum. Die zunehmend säkularisiete Gesellschaft sei „angepisst von Religion“ und gebe ihr das zurück.
Andere Domstädte haben weniger Probleme
In eine noch tiefere Schicht führt eine Überlegung, die Grünewald von Sigmund Freud entlehnt hat. Die beiden Domtürme in ihrer „phallischen Form“ seien für Männer eine Dauerherausforderung. „In einer Art Pinkelwettbewerb treten sie gegen die monumentale Größe dieser Phallus-Symbole an und werten sich damit selbst auf.“
Deshalb sei es, tiefenpsychologisch gesehen, auch falsch, hinter dem Wildpinkeln am Dom eine (moralische) Verwilderung, die absichtsvolle Verunreinigung oder gar Schändung und Entweihung des Gotteshauses zu wittern. „Auf einer archaischen Ebene ist das Gegenteil der Fall. Durch das Urinieren wird das getroffene Objekt mit Beschlag belegt, aufgewertet, ja, wenn Sie so wollen, geweiht. Dass wir es als Unding empfinden, jemand anderem an die Hauswand zu pinkeln, das hat mit unserer Erziehung und eingeübten Konventionen zu tun.“ Wer also mit besoffenem Kopf an den Dom pinkelt, lässt auch archaischen Machtgefühlen Lauf – und angesichts der Großartigkeit des Baus steigert sich unterbewusst oder eben alkoholisiert-delirierend das Wohlgefühl eigener Großartigkeit.
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Für Pragmatiker wie die Ex-Dombaumeisterin oder den Dompropst a.D. als früheren Hausherrn sind solche Tiefenbohrungen interessante Gedankenspiele, bringen sie aber nicht weiter. Immer wieder, berichten beide, gab es Gespräche mit der Stadt, wie die Situation verbessert werden könnten. Ein wesentlicher Fortschritt im Bereich der Portale war nach Ansicht Schock-Werners erreicht, als dort die Bodenstrahler vom Domvorplatz weiter in Richtung der Portaltrichter versetzt wurden. Schock-Werner: „Im Lichtstrahl stehen die Männer mit ihrem Strahl wohl doch nicht so gern.“ Auch die Sanierung der Südseite („die schlimmste Ecke“), wo früher noch Bäume standen und den Pinklern Deckung boten, sowie der Zone um das Baptisterium minderte den Schmuddelfaktor.
Die Abwehr der Wildpinkler durch Zäune an neuralgischen Tagen – wie jetzt zum Beginn und dann zum Höhepunkt der Session – hält Schock-Werner für plausibel. „Vergittern ist natürlich eine Methode, aber keine Dauerlösung. Einen Dom, umstellt von Zäunen, möchte ich mir nicht vorstellen.“
Feldhoff macht auf ein Problem mit den öffentlichen Toiletten in der Domumgebung aufmerksam. Die seien zwar inzwischen besser gewartet und damit nicht mehr ganz so eklig wie früher, kosteten aber dafür alle Geld. „Müsste eine Stadt wie Köln, wo das Bier bekanntlich in besonders großen Strömen fließt, nicht auch kostenlose Möglichkeiten schaffen, das Ganze wieder loszuwerden?“
Ob die Hemmungen abgenommen haben, könne er nicht sagen, sagt der Alt-Dompropst. „Das Pinkeln am Dom war immer ein Thema“. Und auch Schock-Werner sagt, zeitweise habe sie sich gefühlt wie die Urinbeauftragte von Köln – ständig auf der Suche nach wirksamen Mitteln im Einsatz gegen Wildpinkler. In Venedig zum Beispiel werfen schräg gestellte Platten in den Ecken am Fuß des Markusdoms den Urinstrahl direkt zurück zum Verursacher. „Der kriegt dann nasse Hosen.“ Nicht schlecht, aber für den Dom keine Lösung, weil dort die ganze Umgebung betroffen sei. Über ihre einst viel diskutierte fixe Idee, den Domsockel unter Schwachstrom zu setzen, kann die Ex-Dombaumeisterin heute noch lachen und dann ganz seriös erklären, dass der Plan schon am Tierschutz scheitern würde: Man denke an die armen Hunde, die am Dom das Bein heben.
Als Ausdruck echter Geringschätzung oder kirchenfeindlicher Gesinnung sehen weder Feldhoff noch Schock-Werner das Wildpinkeln nicht: eine Unsitte, kein antiklerikaler Affekt. „Wer zu viel getrunken hat, der erleichtert sich überall – das ist keine Frage des Respekts vor dem Dom, Hauptsache, der Druck ist weg.“