Frech und couragiert1968 protestierten die Kölner Studenten für Demokratisierung
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Köln – An diesem Tag scheint alles wie immer: Professor Udo Undeutsch, Ordinarius des Psychologischen Instituts, liest aus dem Manuskript, der Hörsaal pinnt konzentriert mit. Nichts deutet an diesem Morgen darauf hin, dass gleich die akademische Routine „gesprengt“ wird. „Plötzlich geht die Tür auf, ein Dutzend Studenten umringt das Pult, will Undeutsch das Manuskript abnehmen, mit den Studenten sprechen“, erinnert sich Gerd Pfeiffer. „Aber das ging schief.“ Die Assistenten stellen sich schützend vor ihren Professor, manövrieren ihn aus dem Hörsaal. Und die Studenten? „Haben sich auf und davon gemacht. Die hatten offenbar kein Interesse an politischer Ansprache.“
Viele Studenten waren damals unpolitisch
Das Psychologische Institut an der Herbert Lewin Straße 2 in Lindenthal ist ein typischer Universitätsbau der 60er Jahre. Erstbezug im Winter 1963, unter den Studenten ist auch Gerd Pfeiffer. Mehr als fünf Jahrzehnte später sitzt er dort als emeritiertes „Urgestein“ auf gepackten Bücherkisten. Ja, er habe ’68 erlebt. Aber auf der anderen Seite des Protestes, „als die Roten Kommunarden die Hörsäle übernahmen.“
Unpolitisch sei er 1968 gewesen, wie damals viele Studenten. „Die NS-Zeit hatte einem Politik abgewöhnt.“ Kriegswaise, Flüchtlingskind, Fahrstudent und Kostgänger bei Verwandten in Zons, pendelt Pfeiffer täglich zur Uni. Der Student trägt damals Anzug, die Studentin Kostüm. Herrenbesuche im Studentinnenwohnheim sind verboten. Bei der Immatrikulationsfeier leisten die Erstsemester einen Eid, der sie auf die Autorität der akademischen Korporation verpflichtet. Der Dekan wird mit „Spektabilität“, der Rektor als „ehrwürdige Magnifizenz“ angesprochen – „sehr geehrter Herr“ wäre respektlos gewesen. „Wir Studenten“, erinnert sich Pfeiffer, „waren Einzelkämpfer, siezten uns, der Professor war der liebe Gott.“
Als Gerd Pfeiffer 1963 sein Studium beginnt, gibt es am Institut 30 Studenten und keinen Numerus clausus (NC). Doch die Zahlen steigen rapide. Die Professoren Undeutsch und Wilhelm Salber lehnen den NC ab – 1971 hat das Institut rund 900 Studenten. In diesen Jahren baut die Uni für prognostizierte 30 000 Studenten. „Man merkte“, erzählt Gerd Pfeiffer, „der Uni-Apparat geriet in eine Notlage, und die hat die Proteste sicher befördert.“
Wunsch nach mehr Mitbestimmung
Es wird enger in den Hörsälen und dann zündet auch in Köln der Funke – gegen alte Uni-Hierarchien, für mehr Mitbestimmung und Diskussion über die Rolle und Aufgabe der Universitäten, wie sie organisiert und verwaltet, wie gelernt und gelehrt werden soll. Wie politisch oder unpolitisch soll Wissenschaft sein?
„Köln ist im Vergleich zu Frankfurt oder Berlin eigentlich eine konservative Universität, was sich auch bei den Wahlen zum Studentenparlament zeigt,“ erklärt Michaela Keim, die als Doktorandin am Historischen Institut über Politisierungsprozesse an der Universität zu Köln von den 50er bis in die 70er Jahre forscht. „Nicht alle ergreift es. Eine Minderheitenbewegung, aber mit einem erheblichen Maß an Mobilisierung. Und die wirkt weit über die Universität in die Stadt hinein.“
Sitzblockaden auf den Bahnschienen
Und es geht nicht allein um Hochschulfragen. Im Oktober 1966 demonstrieren Kölner Studenten mit Sitzblockaden auf den Bahnschienen gegen die KVB-Preiserhöhung. Für die Germanistik-Studentin Ulla Hahn ist es die erste Demo ihres Lebens: „KVB nee“, ruft sie, „KVB tut weh“.
Es sind außeruniversitäre Ereignisse, die Aktionen provozieren: Der Schah-Besuch 1967, die Erschießung des Berliner Studenten Benno Ohnesorg, der Vietnam-Krieg. Zum Staatsbegräbnis Konrad Adenauers am 25. April 1967, an dem auch US-Präsidenten Lyndon B. Johnson teilnimmt, prangen in der Stadt Anti-Vietnam-Kriegs-Plakate; unter der Decke der Vorhalle des Hauptbahnhofes hängt ein Transparent an Heliumballons: „Mörder Johnson: Hier beten – dort bomben“. Bahnpolizisten zerschießen die Ballons.
„Rosa Luxemburg Universität“
Gegen die Verabschiedung der Notstandsgesetze am 30. Mai 1968 bauen Studenten Holzbarrikaden vor dem Uni-Haupteingang. Das Portal wird mit schweren Ketten verhängt, die ganze Universität „geschlossen“, heißt es. Über dem Portal steht „Rosa Luxemburg Universität“. Berthold Rubin, Professor für Byzantinistik, bekennender Nationalkonservativer und Rudolf-Hess-Anhänger, versucht mit dem Auto in die Barrikade zu fahren. Mit schwarzer Farbe will er gegen die Aufschrift vorgehen und es kommt zu Rangeleien mit Studenten. Konservative Studentengruppen agieren da humorvoller: Mit Seilen lassen sie von einer Balustrade über dem Haupteingang eine Tafel mit dem Wort „Radio“ herab – nun steht da Radio-Luxemburg-Universität.
Ob beim Schulterschluss von linken Studierenden und Kölner Ford-Arbeitern im März 1968, bei den Anti-Springer-Demonstrationen, bei den Anti-Notstandsprotesten – der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) und der „Sozialdemokratische Hochschulbund“ (SHB) sind die treibenden Kräfte bei der Mobilisierung der Studenten.
Besetzung des Rektorats über mehrere Tage
Im Sommersemester 1968 organisiert der SDS einen Notstandskongress. „Einen ganzen Tag diskutierten mehr als 1000 Studenten die Vorträge. Anschließend demonstrierten rund 3000 bis 4000 Studenten auf dem Neumarkt“, erinnert sich der damalige SDS-Politik-Referent Gerhard Bosch. „Auf dem Neumarkt sprachen der Schriftsteller Dieter Wellershoff und ich für den Asta.“
November 1968, der Höhepunkt der Aktionen: Aus Protest gegen eine Disziplinarordnung für die Universität besetzen Studierende das Rektorat, harren dort mehrere Tage aus, drucken Flugblätter, legen das eben herausgekommene „Weiße Album“ der Beatles auf und rauchen die Zigarren des Rektors.
Ein „Mauerblümchen des Protest“
Trotz all der Aktionen erlebt Wolfgang Lieb, später Sprecher der SPD-Landesregierung, Köln „gemessen an Berlin als ein Mauerblümchen des Protests“. Nein, Köln ist keine Protesthochburg. Doch der Vorwurf „Berlin brennt, Köln pennt“ besagt im Kern ja auch: In Köln geht es gewaltfrei zu.
Unter den Talaren der Muff von 1000 Jahren? Auch an der Kölner Universität werden Lehrkräfte offen mit ihrer NS-Vergangenheit konfrontiert. „Natürlich gab es personelle Kontinuitäten, die von der NS-Zeit in die Bundesrepublik reichten“, so Michaela Keim „Das galt für alle Universitäten.“Und auch in Köln gab es Professoren, die mit den Zielen ihrer Studenten sympathisierten, unter ihnen Soziologieprofessor Erwin K. Scheuch. Doch seine Sympathie für die Proteste schlägt um, als er unter den Radikalisierten totalitäre Aufheizer zu erkennen glaubt. Auf dem 16. Frankfurter Soziologentag 1968 wird er deshalb von Studenten mit einem Handzettel angegriffen, auf dem sie „die Verfolgung und Ermordung der Soziologie, dargestellt von der Scheuchspielgruppe des Instituts für vergleichende Sozialforschung unter Anleitung des Zwingherrn Erwin Kurt Scheuch“ austeilen.
Konfrontation mit der Vergangenheit
Auch Scheuchs Kollegin, die Soziologie-Professorin Renate Mayntz, kann anfänglich die Studentenproteste nachvollziehen. „Ich kam 1960 zurück aus den USA. Im Vergleich dazu schien mir das deutsche Fakultätensystem etwas antiquiert.“ Doch auch ihre Vorlesungen werden gestört. Studierende schreien sie nieder und sie erkennt die starke Ideologisierung der Bewegung. „Das fand ich enttäuschend.“
Germanistik-Studentin Ulla Hahn erlebt, wie der von ihr verehrte Professor Gerhard Fricke im Vorlesungssaal von Studenten mit seiner Vergangenheit konfrontiert wird. 1933 bejubelte Fricke als Redner die Bücherverbrennungen. Doch er gehört 1965 zu den wenigen Professoren, der vor Studenten offen die eigenen Verfehlungen benennt und die Gründe für seine Verblendung zu erklären versucht.Die Tribunalisierung trifft alle Autoritätspersonen, erinnert sich Gerd Pfeiffer: „Prof. Undeutsch war halt Ordinarius. Damit galt er automatisch als oligarchische Schießbudenfigur. Die Sprengung seiner Vorlesung hatte mit seiner politischen Einstellung gar nichts zu tun.“
Ulrich Karpen,1968 Assistent im Universitätsrektorat, erlebt, wie sein Rektor bei einer Diskussion tätlich angegriffen wird. „In der Aula wurde ich, als ich für den Rektor eine Erklärung abzugeben hatte, mit Eiern beworfen und mit Farbe überschüttet.“
Werte- und Bewusstseinswandel 1969
Wann kommt der Protest zum Erliegen? Vielleicht im Sommersemester 1969. Mit der sozialliberalen Koalition beginnt der Werte- und Bewusstseinswandel, den die Studenten fordern. Ihre Proteste haben Bewegung in die Gesellschaft gebracht: Universitäre Traditionen und Rituale werden abgeschafft.
„Diese Zeit veränderte das Verständnis für und die Wahrnehmung von Politik bis hin zu der Formulierung, dass eben auch das Private politisch sei“, resümiert Prof. Ralph Jessen vom Historischen Institut. Die Lehrinhalte werden nicht politischer, aber breiter aufgestellt, erinnert sich Gerd Pfeiffer. „Die Zeit hat mich nicht politisiert, aber ich bin durch sie wachsamer geworden.“